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Der arme Tom trug seinen schweren Schmerz mit Heldenmuth und blieb fest dabei, von dem alten Poulter nicht mehr zu sagen, als unvermeidlich war; daß er ihm Geld gegeben hatte, blieb selbst für Gretchen ein Geheimniß. Aber eine furchtbare Angst lastete auf seiner Seele, so furchtbar, daß er selbst keine Frage deshalb wagte, um nicht ein schreckliches Ja darauf zu hören, – die furchtbare Angst, er sei vielleicht auf immer gelähmt. Er beherrschte sich, nicht vor Schmerz zu schreien; aber als man ihm den Fuß verbunden und mit Gretchen, die vor seinem Bette saß, allein gelassen hatte, da legten die Kinder ihre Köpfe auf ein Kissen und weinten zusammen. Tom sah sich schon im Geiste auf Krücken gehen, wie den Sohn des Stellmachers zu Hause, und Gretchen, die nicht ahnte, was ihn quälte, schluchzte zur Gesellschaft mit. Weder dem Arzte noch dem Pastor Stelling war es in den Sinn gekommen, daß Tom sich mit solchen Gedanken quälen könnte; sie hatten ihn daher auch nicht mit beruhigendem Zuspruch getröstet. Aber Philipp paßte auf, bis der Arzt aus dem Hause war, und legte dann dem Pastor die Frage vor, die Tom selbst nicht zu äußern wagte.
»Entschuldigen Sie, Herr Pastor, aber meint der Doktor, Tulliver würde lahm?«
»Nein, nein«, antwortete der Pastor, »nicht auf immer, nur für eine kurze Zeit.«
»Hat er das wohl Tulliver selbst gesagt?«
»Nein, mit ihm ist garnicht darüber gesprochen.«
»Darf ich denn hingehen und's ihm sagen?«
»Ja freilich; nun Du mich daran erinnerst, fällt mir ein, daß er vielleicht so was befürchtet. Geh an sein Bett, aber halte Dich recht ruhig.«
Als Philipp von dem Unfall gehört hatte, war sein erster Gedanke gewesen: »ob Tulliver wohl lahm wird? das wäre doch recht hart für ihn«, und in diesem Mitleid gingen sofort Tom's bisher unvergessene Beleidigungen bis auf die letzte Erinnerung unter. Philipp fühlte, es könne zwischen ihnen nicht länger von Abneigung die Rede sein, da sie jetzt in eine gemeinsame Strömung von Leiden und Entbehrung gezogen wären. Seine Einbildung verweilte nicht bei dem äußern Unglück und dessen künftigem Einflusse auf Tom Tulliver's Leben; er vergegenwärtigte sich nur lebhaft, wie es wohl in Tom's Gedanken aussähe. Davon wußte er selbst ja ein Lied zu singen; von den vierzehn Jahren seines jungen Lebens hatte er die meisten in dem Bewußtsein eines unheilbar harten Looses hingebracht.
»Der Doktor sagt, Du würdest bald wieder ganz gesund; wußtest Du das schon?« sagte er etwas schüchtern, indem er leise an Tom's Bett trat. »Ich habe eben den Pastor gefragt, der sagt, bald würdest Du wieder grade so gut gehen wie bisher.«
Tom blickte auf; vor plötzlicher Freude verging ihm für den Augenblick der Athem, dann stieß er einen langen Seufzer aus und blickte aus seinen blauen Augen Philipp grade in's Gesicht, wie er seit vierzehn Tagen und länger nicht gethan hatte. Gretchen hatte an diese Möglichkeit noch garnicht gedacht, und bei dem bloßen Gedanken fing sie vor Schreck wieder laut an zu weinen.
»Ei, Gretelchen, hab' Dich doch nicht so«, sagte Tom zärtlich und mit neubelebtem Muth; »ich werde ja bald wieder besser.«
»Nun, adieu Tulliver«, sagte Philipp und hielt ihm seine kleine zarte Hand hin, die Tom mit seinem derberen Griff sofort umfaßte.
»Hör' mal, Wakem«, antwortete Tom, »sag' doch dem Pastor, er möchte Dich bisweilen zu mir lassen, bis ich wieder aufstehen kann, und dann erzählst Du mir von Robert Bruce.«
Von der Zeit an verlebte Philipp alle freien Stunden mit Tom und Gretchen. Tom hörte Kriegsgeschichten noch immer so gern wie früher, hob aber nachdrücklich den Umstand hervor, daß diese großen Helden, die so viele wunderbare Thaten verrichteten und nie eine Wunde davon trugen, von Kopf zu Fuß in prachtvollen Rüstungen gesteckt hätten, und dadurch, meinte er, wäre ihnen das Kämpfen sehr erleichtert; wenn er selbst einen eisernen Schuh angehabt hätte, dann hätte er sich den Fuß nicht verletzt. Mit großem Interesse hörte er Philipp eine neue Geschichte erzählen von einem Manne, der eine sehr böse Wunde am Fuße gehabt und vor Schmerz immer so laut geschrieen habe, daß seine Freunde es nicht länger ertragen konnten und ihn auf einer wüsten Insel aussetzten, mit nichts als einigen wunderbaren vergifteten Pfeilen, mit denen er sich Thiere schoß, um davon zu leben.
»Ich habe gar nicht geschrieen«, sagte Tom, »und ich glaube doch, meine Wunde war eben so schlimm als seine. Ich halte es für feige zu schreien.«
Aber Gretchen blieb dabei, wenn einem etwas recht weh thue, da dürfe man gewiß schreien, und es sei recht grausam von den Leuten, das nicht zu ertragen. Sie wollte auch gern wissen, ob Philoktet keine Schwester gehabt habe, und warum die nicht mit auf die wüste Insel gegangen sei, um ihn zu pflegen.
Bald nachdem Philipp diese Geschichte erzählt hatte, waren er und Gretchen mal allein im Arbeitszimmer, während Tom's Fuß frisch verbunden wurde. Philipp war bei seinen Büchern, und Gretchen, die zuerst müßig im Zimmer auf- und abgegangen war, stellte sich zu ihm und sah ihm in's Buch; sie waren jetzt schon wie alte Bekannte und völlig vertraut.
»Was ist das für Griechisch, was Du da liest?« fragte sie. »Es sind Gedichte, das kann ich wohl sehen; die Zeilen sind so kurz.«
»Es ist was von Philoktet, dem lahmen Manne, von dem ich euch gestern erzählte«, antwortete er, indem er den Kopf in die Hand stützte und sie mit einem Blicke ansah, der deutlich sagte, er sei wegen der Unterbrechung garnicht böse. In ihrer Zerstreuung beugte sich Gretchen immer mehr vorn über, indem sie sich auf die Arme stützte und die Beine hintenaus streckte, während ihre dunklen Augen immer starrer in's Leere schauten, als hätte sie Philipp und sein Buch ganz vergessen.
»Gretchen«, sagte Philipp nach längerem Stillschweigen, während dessen er sie immerfort angesehen hatte – »Gretchen, wenn Du einen Bruder hättest, so wie ich, glaubst Du wohl, Du hättest ihn eben so lieb wie Tom?«
Gretchen fuhr aus ihrer Träumerei auf und mußte ihn fragen, was er gesagt habe. Philipp wiederholte seine Frage.
»O ja, noch lieber«, antwortete sie sogleich. »Aber nein, lieber doch nicht, ich glaube nicht, daß ich Dich lieber haben könnte als Tom. Aber rechtes Mitleid würde ich mit Dir haben, so recht von Herzen Mitleid.«
Philipp erröthete; er hatte sagen wollen, ob sie ihn trotz seiner verwachsenen Gestalt eben so lieb haben würde, und doch, als sie so deutlich darauf anspielte, that ihm ihr Mitleid wehe. Gretchen ihrerseits, so jung sie war, bemerkte sogleich ihr Versehen. Bisher hatte sie instinktmäßig so gethan, als wüßte sie garnichts von Philipp's verwachsener Gestalt; ihre eigene lebhafte Empfindlichkeit und ihre bittern Erfahrungen über den verletzenden Tadel ihrer Verwandten hatten sie das so richtig gelehrt, wie es die beste Erziehung nicht hätte thun können.
»Aber Du bist so klug, Philipp«, fügte sie rasch hinzu; »Du kannst so schön spielen und singen. Ich wollte, Du wärst mein Bruder. Ich mag Dich so sehr gern leiden. Und Du bliebst immer bei mir zu Hause, wenn Tom ausgeht und würdest mich in allem unterrichten, nicht wahr? Im Griechischen und allem andern?«
»Aber Du gehst ja bald wieder weg und kommst in die Schule, Gretchen«, sagte Philipp, »und dann vergißt Du mich und fragst nicht mehr nach mir. Und dann seh' ich Dich erst wieder, wenn Du groß bist und mich kaum noch kennst.«
»O nein, ganz bestimmt nicht; ich werde Dich nicht vergessen«, sagte Gretchen und schüttelte ernsthaft den Kopf. »Ich vergesse keinen und denke immer an jeden, wenn ich fort bin. Jetzt denk' ich an den armen Yap; er hat ein Geschwür im Halse und Lukas sagt, er müsse daran sterben. Aber Tom darfst Du's nicht sagen, dem wird's recht leid thun. Du kennst Yap nicht; es ist ein komischer kleiner Hund; keiner macht sich was aus ihm, blos Tom und ich.«
»Machst Du Dir so viel aus mir wie aus Yap, Gretchen?« fragte Philipp mit schwermüthigem Lächeln.
»O ja, ich glaube doch«, sagte Gretchen lachend.
»Ich habe Dich sehr lieb, Gretchen, und werde Dich nie vergessen«, sagte Philipp, »und wenn ich mich recht unglücklich fühle, dann werd' ich immer an Dich denken und wünschen, ich hätte auch eine Schwester mit dunkeln Augen, grade so wie Du.«
»Was gefällt Dir denn so an meinen Augen?« fragte Gretchen sehr erfreut; bisher hatte sie immer nur ihren Vater mit einer gewissen Anerkennung von ihren Augen sprechen hören.
»Ich weiß nicht recht«, antwortete Philipp; »Deine Augen sind garnicht wie andrer Leute ihre. Es kommt mir immer vor, als wenn sie sprechen wollten und zwar freundlich sprechen. Wenn andre Leute mich angucken, das hab' ich nicht gern, aber von Dir laß' ich mich gern ansehen, Gretchen.«
»Ich glaube beinahe, Du hast mich lieber als Tom«, meinte Gretchen etwas betrübt. Dann überlegte sie sich, wie sie Philipp wohl beweisen könne, daß sie ihn doch recht lieb habe, obschon er verwachsen sei, und sagte endlich:
»Soll ich Dir mal 'nen Kuß geben, wie meinem Bruder Tom? Ich will's wohl thun, wenn Du's gern hast.«
»O ja, recht gern; mir giebt keiner einen Kuß.«
Gretchen legte ihm den Arm um den Hals und küßte ihn ganz ernsthaft.
»Da!« sagte sie, »ich werde Dich nie vergessen und jedesmal, wenn ich Dich wiedersehe, will ich Dir einen Kuß geben, wenn's auch noch so lange hin ist. Aber jetzt muß ich gehen; der Doktor wird wohl mit dem Verbande fertig sein.«
Als ihr Vater das zweite Mal zum Besuch kam, sagte Gretchen zu ihm: »O Vater, Philipp Wakem ist so sehr gut gegen Tom; er ist so'n kluger Junge und ich hab' ihn so lieb, und Du magst ihn auch gern leiden, Tom, nicht wahr? Sag' doch, daß Du ihn lieb hast!« fügte sie flehend hinzu.
Tom erröthete ein wenig, als er seinen Vater anblickte und sagte: »Wenn ich erst aus der Schule bin, werde ich keine Freundschaft mit ihm halten, Vater, aber jetzt haben wir uns gut vertragen, seit mein Fuß so schlecht war, und er hat mir das Damenspiel gezeigt, und ich kann's jetzt besser als er.«
»Na meinetwegen«, sagte der Vater; »wenn er gut gegen Dich ist, dann kannst Du's auch gegen ihn sein. Er ist ein armes verwachsenes Geschöpf und artet auf seine verstorbene Mutter. Aber werde nur nicht zu dick Freund mit ihm; er hat doch seines Vaters Blut in den Adern. Ja, ja, das graue Füllen schlägt vielleicht eben so gut hinten aus wie der schwarze Hengst.«
Was diese väterliche Warnung allein vielleicht nicht vermocht hätte, das bewirkten die widerstrebenden Naturen der beiden Knaben selbst. Trotz Philipp's neuerwachter Freundlichkeit und trotz der entsprechenden Achtung, die ihm Tom in der Zeit seiner Krankheit bewies, wurden sie doch nie vertraute Freunde. Als Gretchen fort war und Tom allmälich wieder umherzugehen anfing wie sonst, da erkaltete die freundschaftliche Wärme, welche Mitleid und Dankbarkeit für einen Augenblick angefacht hatten, und sie standen einander wieder gegenüber wie früher. Philipp war oft verdrießlich und hochmüthig, und bei Tom trat an die Stelle der freundlichen Eindrücke aus der letzten Zeit allmälich wieder der alte Argwohn und die alte Abneigung, die in Philipp nur einen seltsamen Jungen, einen buckligen Knirps und den Sohn eines Schuftes sahen. Wenn Knaben und Männer in der vorübergehenden Gluth einer augenblicklichen Gefühlserregung verschmelzen sollen, dann müssen sie aus einem Metall sein, das sich mit einander vermischt; sonst fallen sie unvermeidlich auseinander, sobald die Hitze verfliegt.