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Fünfter Abschnitt.
Tom hat Ferien

Früh am Nachmittage sollte Tom kommen, und als die ersehnte Stunde da war, sah ihm nicht mehr Gretchen allein mit klopfendem Herzen entgegen; denn soweit Frau Tulliver überhaupt lebhaft empfinden konnte, hegte sie große Zärtlichkeit für ihren Jungen. Endlich hörte man was in der Ferne, das rasche Geräusch leicht rollender Räder kam näher und näher, und trotz des Windes, welcher die Wolken am Himmel lustig jagte und alle Locken und Hutbänder zu zausen drohte, trat Frau Tulliver vor die Thür und legte vergebend und vergessend dem unartigen Gretchen die Hand auf den Kopf.

»Da ist mein lieber Junge! Aber du himmlische Güte, er hat keinen Kragen um; gewiß hat er den unterwegs verloren, und nun ist das Dutzend nicht mehr voll.«

Dabei hielt sie ihrem Sohne die offenen Arme entgegen und Gretchen hüpfte vor Freuden von einem Beine auf's andre, während Tom aus dem Wägelchen stieg und, seine Zärtlichkeit männlich zurückhaltend, sagte: »Halloh, Yap, bist Du auch da?«

Indeß ließ er sich willig genug abküssen, obgleich Gretchen seinen Hals so fest umklammert hielt, daß sie ihn beinahe erwürgte. Dazwischen schweiften seine blaugrauen Augen über Garten und Haus und Hof und die Lämmer und den Fluß, in welchem er gleich am andern Morgen zu fischen sich vornahm. Er war so recht ein englischer Junge, wie sie sich bei uns zu Lande überall finden, und mit zwölf oder dreizehn Jahren einander so ähnlich sehen wie junge Gänse, – ein Junge mit hellbraunem Haar, Backen wie Milch und Blut, vollen Lippen, Nase und Augenbrauen noch unentschieden, kurz mit einem Gesichte, worin zunächst noch nichts weiter zu liegen scheint als der allgemeine Charakter eines Jungen, – ganz im Gegensatz zu der Physiognomie des kleinen Gretchens, welche die Natur mit der allerausgesuchtesten Absicht geformt und gefärbt zu haben schien. Aber Mutter Natur ist fein listig; sie verbirgt ihre wahre Meinung unter dem Scheine einer Offenheit, welche die Einfältigen leicht zu dem Glauben verleitet, sie durchschauten sie vollkommen, und dahinter bereitet die kluge Meisterin im Stillen eine Entwicklung vor, welche all' die kühnen Prophezeihungen widerlegt. Unter diesen scheinbar gleichmäßigen jungenhaften Gesichtern, die sie dutzendweise anzufertigen scheint, verbirgt sie bisweilen den härtesten unbeugsamsten Willen, den eisernsten Charakter; und das eigensinnige, aufsässige Mädchen mit den dunklen Augen erweist sich vielleicht schließlich als ein sehr fügsames Geschöpf neben diesem Exemplar von Mannheit mit den unbestimmten Zügen und dem Gesichte von Milch und Blut.

»Gretchen«, sagte Tom, indem er sie vertraulich in eine Ecke nahm, sobald die Mutter sich über seinen Koffer hergemacht hatte und es ihm selbst in der Zimmerwärme etwas behaglich geworden war – »Gretchen, Du weißt nicht, was ich in der Tasche habe!« und dabei nickte er ihr mit dem Kopfe zu, um ihre Neugierde noch mehr zu reizen.

»Nein!« antwortete Gretchen. »Wie dick Deine Taschen aussehen, Tom! Was ist d'rin, Marmel oder Nüsse?« Sie kam etwas schüchtern damit heraus, weil Tom immer sagte, mit ihr wäre nicht gut spielen, sie spiele zu schlecht.

»Marmel – nein! meine Marmel hab' ich alle einem kleinen Jungen verkauft, und Nüsse müssen frisch sein, Du Dummbart. Aber guck her!« Und dabei zog er aus seiner Tasche etwas heraus.

»Was ist das?« fragte Gretchen flüsternd, »ich sehe blos was gelbes.«

»Na, es ist ein neues – rath' mal, Gretchen!«

»O, ich kann nicht rathen«, erwiderte Gretchen ungeduldig.

»Nur nicht gleich wieder wild, sonst zeig' ich's Dir gar nicht«, meinte Tom und steckte die Hand wieder fest in die Tasche.

»Nein, Tom«, flehte Gretchen und faßte seinen Arm, den er steif in der Tasche hielt; »ich bin nicht ärgerlich, Tom, ich kann blos das Rathen nicht vertragen. Bitte, bitte, sei gut.«

Langsam zog Tom den Arm aus der Tasche und sagte: »Na, denn sieh! 's ist 'ne neue Angelleine, – zwei neue, eine für Dich ganz allein, Gretchen. Ich wollte mit den Jungens nicht Halbpart machen bei dem Zuckerkant und Ingwer, ich wollte lieber das Geld sparen, und darum habe ich mich mit Gibson und Spouncer schlagen müssen. Da sind die Angelhaken, sieh mal! Morgen früh wollen wir gleich in dem runden Teiche fischen, was meinst Du? Und Du sollst selbst fischen, Gretchen, und die Würmer anmachen und alles – das soll mal 'n Pläsir sein!«

Gretchen antwortete nicht, sie fiel Tom um den Hals und herzte ihn und legte ihre Wange an seine, ohne ein Wort zu sagen. Unterdeß wickelte er die Leine etwas los und sagte nach einer Weile:

»Bin ich nicht ein guter Bruder, daß ich Dir die neue Leine gekauft habe? Ich hätte es doch nicht nöthig gehabt, wenn ich nicht gewollt hätte.«

»Ja wohl, recht gut, recht gut … o, ich habe Dich auch so lieb, Tom.«

Tom hatte die Leine wieder in die Tasche gesteckt, besah sich die Angelhaken einen nach dem andern und meinte dann:

»Ich habe mich mit den Jungens schlagen müssen, weil ich nicht nachgeben wollte bei dem Zuckerkant.«

»O Tom, Tom, ihr dürft euch nicht schlagen auf der Schule. Hat's Dir weh gethan?«

»Weh gethan? Nein«, antwortete Tom, indem er zur Abwechselung ein großes Taschenmesser herauszog und langsam die größte Klinge aufmachte, die er mit dem Finger befühlte und nachdenkend betrachtete, – »mir weh gethan?! Ich schlug Spouncer sein Auge blutig, das hatte er davon, daß er mich prügeln wollte; ich mache kein Halbpart, wenn mich auch einer prügelt.«

»O, wie tapfer Du bist, Tom! Ganz wie Simson. Ich glaube, wenn ein brüllender Löwe auf mich zukäme, Du kämpftest mit ihm – nicht wahr, Tom?«

»Wie kann ein brüllender Löwe auf Dich zukommen, Du klein Närrchen? Hier giebt's keine Löwen, blos in der Menagerie.«

»Nein, aber wenn wir im Löwenlande wären – ich meine in Afrika, wo es so heiß ist, und wo die Löwen Menschen fressen – ich kann's Dir in dem Buche zeigen, da steht's drin.«

»Nun, ich ginge hin, holte mir 'ne Flinte und schösse ihn todt.«

»Aber wenn Du keine Flinte hättest, – wir gingen vielleicht spazieren und hätten nicht daran gedacht, vielleicht wollten wir fischen gehen, und dann käme ein Löwe auf mich losgebrüllt, und wir könnten nicht mehr weglaufen – was fingst Du denn an, Tom?«

Tom überlegte und wandte sich endlich verächtlich ab, indem er sagte: »Aber es kommt ja kein Löwe. Was hilft das Schwatzen?«

»Aber ich möchte mir gern ausdenken, wie das wohl wäre«, sagte Gretchen, indem sie ihm nachging; »überleg Dir nur mal, was Du denn anfingst, Tom!«

»O quäl' mich nicht, Gretchen! Du sprichst immer Unsinn. Ich will zu meinen Kaninchen.«

Der armen Gretchen wurde das Herz ganz beklommen; sie wagte nicht, ihm die traurige Kunde auf einmal mitzutheilen, sondern ging schweigend und zitternd hinter ihm her und überlegte sich, wie sie's ihm wohl am besten erzählte, so daß er sich am wenigsten darüber grämte und am wenigsten mit ihr böse würde, denn davor hatte Gretchen am meisten Angst; wenn Tom mal böse wurde, das war ganz was anderes, als bei ihr selbst.

»Tom«, sagte sie schüchtern, als sie vor der Thür waren, »wieviel hast Du für die Kaninchen gegeben?«

»Beinahe zwei Thaler.«

»Ich glaube, ich habe oben in meiner Sparbüchse viel mehr; das soll Mutter Dir geben.«

»Wozu?« meinte Tom; »ich brauche Dein Geld nicht, Du klein Dummbart. Meinst Du, ein Junge hätte nicht immer viel mehr Geld als so'n Mädchen? Ich kriege immer Goldstücke zu Weihnachten, weil ich ein Mann bin; Du kriegst blos Silber, weil Du blos ein Mädchen bist.«

»Ja, aber, Tom – wenn Mutter mir nun zwei Thaler aus meiner Sparbüchse gäbe, daß Du noch mehr Kaninchen kaufen kannst?«

»Mehr Kaninchen? Ich will gar keine mehr.«

»Ach Tom – Tom, die Kaninchen sind alle gestorben.«

Tom blieb sofort stehen und wandte sich zu Gretchen.

»Du hast also vergessen, sie zu füttern, und Henrich auch?« rief er und das Blut schoß ihm in's Gesicht. »Dem Henrich soll das schlecht bekommen, der soll vom Hofe 'runter, und Dich mag ich nicht mehr leiden, Gretchen. Du sollst morgen nicht mit mir angeln. Hab' ich Dir nicht ausdrücklich gesagt, Du solltest jeden Tag nach den Kaninchen sehen?« – und damit ging er weiter.

»Ja, aber ich hab's vergessen; ich konnte wirklich nicht dafür, Tom. Es thut mir so schrecklich leid«, antwortete Gretchen unter strömenden Thränen.

»Du bist ein unartiges Mädchen«, antwortete Tom strenge, »und es thut mir leid, daß ich Dir die Fischleine gekauft habe. Ich mag Dich nicht mehr leiden.«

»Ach Tom, sei nicht so grausam«, schluchzte Gretchen; »ich würde Dir alles vergeben, wenn Du auch noch so viel vergessen hättest, ja, alles und alles, und würde Dich immer lieb haben.«

»Ja wohl, Du bist so'n Leichtsinn, aber ich vergesse nichts, ich niemals.«

»O bitte, bitte, Tom, vergieb mir; das Herz will mir brechen«, rief Gretchen unter heftigem Schluchzen, hing sich ihm an den Arm und legte ihr nasses Gesicht an seine Schulter.

Tom stieß sie unwillig zurück und stellte sich vor sie hin, indem er mit entschiedenem Tone sagte: »Nun, Gretchen, hör' mal zu! Bin ich nicht immer gut gegen Dich?«

»Ja–a–a«, schluchzte Gretchen und ihr Kinn bewegte sich krampfhaft auf und nieder.

»Hab' ich nicht das letzte Vierteljahr immer an Deine Fischleine gedacht und mein Taschengeld dafür gespart und mich mit den andern Jungens geschlagen, weil ich mit dem Zuckerkant nicht Halbpart machen wollte?«

»Ja, Tom, und ich habe Dich auch so lieb.«

»Aber Du bist ein ungezogenes Mädchen. In den letzten Ferien hast Du von meinem hübschen Schreibkasten die Farbe abgeleckt, und die Ferien vorher, als Du aufpassen solltest, ob das Fährschiff nicht käme, da hast Du mir das Boot in mein Netz fahren lassen, und mit Deinem Kopfe bist Du durch meinen Drachen gefahren, aus reinem Muthwillen.«

»Nein, gewiß nicht aus Muthwillen«, heulte Gretchen, »ich habe mir nichts dabei gedacht, ich konnte nichts dafür.«

»Ja freilich konnt'st Du was dafür«, antwortete Tom; »Du hätt'st bedenken sollen, was Du that'st. Kurz und gut, Du bist ein ungezogenes Mädchen und wir gehen morgen nicht zusammen fischen.«

Mit dieser schrecklichen Abfertigung lief Tom davon, in die Mühle hinein, um Lukas zu begrüßen und den unnützen Henrich zu verklagen.

Das arme Gretchen blieb immer noch heftig schluchzend eine Weile wie angewurzelt stehen, dann wandte sie sich um, lief in's Haus und suchte ihre Bodenkammer auf. Da sank sie zu Boden und lehnte ihren Kopf an die Wand, ganz zerschmettert von Kummer und Elend. Tom war gekommen, sie hatte geglaubt, wie glücklich sie zusammen sein würden, und nun war er so hart gegen sie. Wenn Tom sie nicht lieb hatte – was half ihr alles andre? Ach, er war sehr grausam! Hatte sie ihm nicht ihr ganzes Geld geben wollen und ihm gesagt, wie leid es ihr thue? Gegen die Mutter war sie unartig, das wußte sie wohl, aber gegen Tom niemals, wenigstens wollte sie es nie sein.

»O, wie hart er gegen mich ist!« schluchzte Gretchen laut, und der hohle Wiederhall ihrer Worte auf der großen Bodenkammer machte ihr schmerzliche Freude. Heute dachte sie nicht daran, ihren Fetisch zu peinigen; sie war zu elend, um wüthend zu sein. – Ueber die bittern Schmerzen der Kindheit! Da ist der Schmerz noch was neues und fremdes, da hat die Hoffnung noch keine Flügel, um über Tage und Wochen sich hinweg zu schwingen; da scheint die Zeit von einem Sommer zum andern noch so endlos.

Nicht lange und es kam Gretchen vor, als wäre sie schon ganze Stunden auf der Bodenkammer, und es sei gewiß Zeit zum Theetrinken, und sie tränken unten schon ihren Thee, aber nach ihr frage keiner. Auch gut, dann wollte sie oben bleiben und hungern, wollte sich hinter dem großen Fasse in der Ecke verstecken und da die ganze Nacht bleiben; dann würden sie sich alle ängstigen, und Tom sollte sein Benehmen schon leid thun. So dachte Gretchen in dem Stolze ihres Herzens und kroch hinter das Faß, aber bald fing sie wieder an zu weinen, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, daß sich niemand um sie bekümmere. Wenn sie jetzt zu Tom hinunterginge, ob er ihr dann wohl vergebe? Vielleicht wäre ihr Vater auch da und legte ein gutes Wort für sie ein. Aber nein, Tom sollte ihr aus Liebe vergeben, und nicht auf Zureden des Vaters. Nein, hinunter gehe sie nicht, Tom müsse sie holen. Mit großer Festigkeit hielt dieser Entschluß fünf lange bange Minuten hinter dem Fasse vor; dann aber regte sich die Liebebedürftigkeit, der stärkste Trieb in Gretchens Natur, und begann mit ihrem Stolz zu ringen und kämpfte ihn nieder. Sie kroch hinter dem Fasse hervor, und grade in dem Augenblicke hörte sie einen raschen Schritt auf der Treppe.

Tom hatte inzwischen Lukas getroffen und mit ihm ein interessantes Gespräch gehabt, hatte dann einen Rundgang durch Haus und Garten gemacht, sich dabei Stöcke geschnitten und abgeschält, ohne sich dabei was anderes zu denken, als daß er in der Schulzeit keine Stöcke abschälte; so hatte er Schwester Gretchen und ihren Seelenzustand ganz vergessen. Er hatte sie strafen wollen und nachdem das abgemacht war, dachte er, wie das einem praktischen Kopfe zukommt, an andre Dinge. Aber als es zum Theetrinken kam, sagte sein Vater: »Ei, wo ist denn das kleine Mädel?« Und Frau Tulliver fragte ebenfalls, wo er seine kleine Schwester habe; denn natürlich setzten beide Eltern voraus, sie seien den ganzen Nachmittag zusammen gewesen.

»Ich weiß nicht«, antwortete Tom. So böse er auch mit Gretchen war, verklatschen wollte er sie nicht, denn Tom Tulliver hatte Ehre im Leibe.

»Wie, hat sie denn nicht die ganze Zeit mit Dir gespielt?« fuhr der Vater fort; »sie hat ja an nichts anders gedacht, als daß Du nach Hause kämst.«

»Seit zwei Stunden habe ich sie nicht gesehen«, erwiderte Tom und hieb auf den Theekuchen ein.

»Allmächtiger Gott! Sie ist doch nicht in's Wasser gefallen?!« rief Frau Tulliver aus, indem sie eilig aufstand und an's Fenster lief. »Warum hast Du Dich auch nicht mehr um sie bekümmert?« fuhr sie fort, indem sie nach ängstlicher Frauen Art Vorwürfe über – sie wußte nicht was, gegen – sie wußte nicht wen, aussprach.

»I, was wird sie denn gleich ertrunken sein!« sagte der Vater. »Du bist gewiß unartig gegen sie gewesen.«

»Nein, gewiß nicht, Vater«, antwortete Tom entrüstet. »Ich glaube übrigens, sie ist im Hause.«

»Sicher wieder auf ihrer Bodenkammer«, meinte die Mutter, »und singt da und spricht mit sich selbst und vergißt Essen und Trinken.«

»Geh hin, Tom, und hol' sie herunter«, sagte Tulliver etwas gereizt; denn sein Scharfsinn oder seine väterliche Zärtlichkeit für Gretchen gab ihm ein, der Junge werde gegen die Kleine wohl etwas hart gewesen sein, sonst wäre sie ihm gewiß nicht von der Seite gewichen. »Und sei freundlich mit ihr, hörst Du? Sonst giebt's was.«

Gegen seinen Vater war Tom nie ungehorsam, denn der Alte war ein entschiedener Mann und hielt sich immer, wie er sagte, den Ellbogen frei; aber diesmal ging er doch ungern; er dachte nicht daran, Gretchen etwas von ihrer Strafe zu erlassen, die sie nach seiner Meinung wohl verdient hatte. Er war erst dreizehn Jahr alt, und hatte über Grammatik und Mathematik noch keine bestimmten Ansichten, betrachtete sie vielmehr ziemlich als offene Fragen; aber in einer Sache war er sehr klar und bestimmt: jeden zu bestrafen, der es verdiente; wollte er sich doch selbst bestrafen lassen, wenn er es verdiente, – nur freilich verdiente er es niemals.

Tom also war es, dessen Schritte Gretchen auf der Treppe hörte, als ihre Liebebedürftigkeit ihren Stolz niedergekämpft hatte und sie eben mit ihren geschwollenen Augen und zerrauftem Haar hinunter gehen wollte, um den Bruder um Verzeihung zu bitten. Der Vater, hoffte sie, würde dabei sein und sie streicheln und freundlich sagen: »'s ist gut, liebes Kind.« Eine wunderbare Macht, dieses Verlangen nach Liebe, dieser Hunger des Herzens, – so tyrannisch, wie der leibliche Hunger, durch den uns die Natur bezähmt und die Welt zu erobern und umzugestalten zwingt.

Gretchen erkannte Tom am Schritt, und vor plötzlicher Aufregung schlug ihr das Herz gewaltsam. Oben an der Treppe blieb er stehen und sagte nur: »Gretchen, Du sollst herunter kommen.« Aber sie stürzte auf ihn zu, umfaßte ihn leidenschaftlich und schluchzte: »Ach Tom, bitte bitte, vergieb mir doch – ich kann's nicht ertragen – ich will auch immer artig sein – nie wieder was vergessen – aber Du musst mich auch lieb haben – bitte, bitte, lieber Tom!«

Mit den Jahren lernen wir uns beherrschen. Wir vermeiden einander, wenn wir uns gezankt haben, sprechen uns aus in wohlgesetzten Worten, und bewahren so eine würdige kühle Haltung, bei der wir eben so viel Festigkeit zeigen als Jammer verschlucken. Wir haben nichts mehr von dem bloßen Naturtriebe der niedern Thiere, sondern benehmen uns in jeder Beziehung wie Mitglieder einer hochverfeinerten Gesellschaft.

Gretchen und Tom aber waren noch ganz wie junge Thiere, und darum konnte sie ihre Wange an seine legen und reiben und schluchzend auf sein Ohr und Haar losküssen, und auch in dem Jungen regten sich die zarten Saiten, die bei Gretchens Liebkosungen anzuklingen pflegten; er benahm sich daher mit einer Schwäche, die zu seinem früheren Entschlusse, sie nach Gebühr zu strafen, garnicht stimmte; ja er fing förmlich an, sie zu küssen, und sagte:

»Weine nicht so, Gretelchen; da, iß ein Stück Kuchen«, – und damit hielt er ihr den Kuchen hin, den er vorsorglich mitgenommen hatte.

Gretchen schluchzte etwas weniger heftig, machte den Mund auf und biß in den Kuchen, und dann aß Tom auch ein Stück, rein zur Gesellschaft, und sie aßen beide zusammen und rieben ihre Backen gegen einander und ihre Stirnen und Nasen, beinahe – wenn das erlaubt wäre zu sagen – wie zwei Ponys, die sich lieb haben.

»Nun komm, Gretelchen, komm zum Thee«, sagte Tom endlich, als der Kuchen, den sie oben hatten, verzehrt war.

So endeten die Leiden dieses Tages, und am nächsten Morgen ging Gretchen mit Tom fischen. Ihre Angelruthe in der einen Hand, und einen Henkel des Fischkorbes in der andern, trippelte sie lustig dahin, trat mit wunderbarer Sicherheit immer in den tiefsten Schmutz und sah unter ihrem Filzhute strahlend glücklich in die Welt, weil Tom ihr gut war. Uebrigens hatte sie Tom gebeten, die Würmer für sie an die Angel zu stecken, obschon sie seiner Versicherung glaubte, Würmer hätten kein Gefühl (im Stillen freilich meinte Tom, es sei ganz einerlei, wenn sie auch Gefühl hätten).

Mit Würmern und Fischen und all dergleichen wußte Tom gut Bescheid, er kannte alle schädlichen Vögel, wußte wie man Vorhängeschlösser öffnete, und verstand sich auf die Griffe bei den Gatterthoren. Für Gretchen war diese Art von Kenntniß ganz was wunderbares, sie hielt sie für viel schwieriger als ihre Buchgelehrsamkeit und hatte überhaupt vor der Ueberlegenheit des Bruders eine heilige Ehrfurcht, da er der einzige war, der ihre Gelehrsamkeit dummes Zeug nannte und über ihre Klugheit sich nicht verwunderte. Tom war wirklich der Ansicht, Gretchen sei ein dummes kleines Ding; er hielt alle Mädchen für dumm, sie konnten ja nicht mit 'nem Steine werfen und treffen, wußten mit 'nem Taschenmesser nichts anzufangen und waren bange vor Fröschen. Und dennoch hatte er seine Schwester sehr lieb und war entschlossen, immer für sie zu sorgen, sie zu seiner Haushälterin zu machen und sie zu bestrafen, wenn sie Unrecht thue.

Die beiden waren auf dem Wege nach dem runden Teiche, dem wundervollen Teiche, den die Fluth vor langer lieber Zeit gemacht hatte; wie tief der Teich war, wußte kein Mensch, und ganz auffallend war, daß er beinahe kreisrund war, und ringsum mit Weiden und hohem Rohr besetzt, daß man das Wasser erst sah, wenn man dicht an den Rand kam. Der Anblick dieses alten Lieblingsplatzes erhöhte immer Tom's gute Laune, und er sprach mit Gretchen in dem freundlichsten Geflüster, als er den kostbaren Korb öffnete und das Fischzeug in Ordnung brachte. Er warf die Leine für sie aus und gab ihr die Angelruthe in die Hand. Gretchen dachte sich, die kleinen Fische würden wohl bei ihr anbeißen und die großen bei Tom.

Aber bald vergaß sie ganz das Fischen und blickte träumerisch auf den Wasserspiegel; da flüsterte Tom halb laut zu ihr hinüber: »Sieh, sieh!« und sprang zu ihr hin, damit sie die Leine nicht zu früh wegzöge.

Gretchen war schon bange, sie hätte wie gewöhnlich was schlecht gemacht, aber in dem Augenblicke zog Tom ihre Leine aus dem Wasser und schnellte eine große Schleie zappelnd in's Gras. Er war ganz aufgeregt.

»Gretelchen, Du liebes Herz! Da, mach den Korb leer.«

Gretchen war sich nicht bewußt, etwas besonders gutes gethan zu haben, aber es genügte ihr, daß Tom sie Gretelchen nannte und mit ihr zufrieden war. Nichts störte mehr ihre Freude an dem freundlichen Geflüster und dem schweigenden Hinträumen, wie sie so da saß und auf das leise Geräusch der schnappenden Fische und das sanfte Rauschen des Windes im Rohr hinhörte, als hätten die Weiden und das Rohr und das Wasser auch ihr freundliches Geflüster unter einander. Sie meinte, wenn sie immer so an dem Teiche sitzen könnte und nie Schelte bekäme – das müsse sein wie im Himmel. Wenn ein Fisch bei ihr anbiß, so merkte sie's nie, als bis es Tom ihr sagte, aber doch mochte sie das Fischen sehr, sehr gern.

Das war ein glücklicher Morgen. Sie wanderten zusammen umher und setzten sich nieder, und dachten nicht, daß das Leben je viel anders werden könnte, nur größer würden sie werden und nicht mehr zur Schule gehen, aber immer würde es so sein, wie jetzt in den Ferien; immer würden sie zusammen sein und einander lieb haben. Und die Mühle mit ihrem Gestampf und Geklapper – der große Kastanienbaum, unter dem sie Kämmerchen spielten – ihr kleiner Rieselbach, wo die Ufer ihnen so vertraut waren und wo Tom immer nach den Wasserratten sah, während Gretchen die röthlichen gefederten Spitzen des Rohres abpflückte, die sie nachher vergaß und fallen ließ – vor allem der große Fluß, an welchem sie entlang wanderten, als wären sie Reisende in einem fremden Lande, um die stürmische Springfluth zu sehen, die den Fluß hinaufdrang wie ein hungriges Seeungeheuer, oder die große Esche zu sehen, die einst geknarrt hatte und gestöhnt und geklagt wie ein Mensch, – – das alles blieb gewiß gerade so wie es jetzt war. Tom bedauerte die Leute immer, die anderswo leben mußten, und wenn Gretchen in der »Pilgerreise« las, wie Christiane durch den Fluß geht, über den keine Brücke führt, dann sah sie immer ihren großen Fluß zwischen dem grünen Weideland bei der großen Esche.

Wohl wechselte das Leben für Tom und Gretchen, und doch glaubten sie nicht mit Unrecht, daß die Gedanken und liebevollen Empfindungen dieser ersten Jahre immer einen Theil ihres Lebens ausmachen würden. Nie könnten wir die Erde so lieb haben, wären wir nicht Kinder darauf gewesen, wäre es nicht die Erde, wo jeden Frühling dieselben Blumen wieder sprießen, die wir einst mit unsern Händchen pflückten, im Grase sitzend und leise mit uns selbst sprechend, – wo jeden Herbst an den Hecken dieselben Hagebutten wieder wachsen, – dieselben Rothkehlchen immer wieder singen, die wir »Gottesvögel« zu nennen pflegten, weil sie dem Korn nichts thaten. Ist wohl ein Reiz der Neuheit, der gegen diese süße Einförmigkeit aufkäme, wo jedes Ding uns bekannt ist, und wo wir jedes lieben, weil wir es kennen?

Der Wald, in welchem ich an diesem milden Maitage mich ergehe, mit dem jungen hellbraunen Laub der Eiche, das ich gegen den blauen Himmel sehe, und den weißen Sternblumen und den blauen Glockenblumen und dem Epheu zu meinen Füßen – welcher tropische Palmenhain mit seinen wunderbaren Farrenkräutern und der farbenglänzenden Blüthenpracht könnte je so tiefe und zarte Empfindungen in mir erwecken, wie diese Landschaft der Heimath? Diese altbekannten Blumen, diese vertrauten Melodien des »Chors der auf den Aesten sich wiegt«, dieser Himmel mit seinem mäßigen Glanze, diese gefurchten und grünen Felder, deren jedes durch die zierlichen Heckeneinfassungen gleichsam seine besondere Individualität erhält – das alles macht so zu sagen die Muttersprache unserer Empfindung aus, die Sprache, die gesättigt ist mit all den feinen unlösbar verschlungenen Erinnerungen, welche die rasch entschwundenen Stunden unserer Kindheit zurückgelassen haben. Unsere Freude an dem Sonnenlicht, das im Grase um uns her zittert, wäre vielleicht nur die matte Empfindung einer übermüdeten Seele, wenn nicht das Sonnenlicht und das Gras früherer Jahre in uns nachzitterte, wenn nicht Erinnerung unsre Anschauung in Liebe verwandelte.


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