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Als sie am nächsten Mittwoch wieder um zwei Uhr mit dem Strom der Besucher eintraten, und mit der Hast Durstiger, die wissen, wo sie einst Wasser fanden, nach dem Saal eilten, wo Markus lag, sahen sie schon gleich beim Eintreten, daß rings um sein Lager drei grüne Bettschirme standen.
Sie wußten noch nicht, was das in einem Krankenhaus zu bedeuten hat, und traten daher wie immer eilends auf das Bett zu, hoffend, daß sie ihn jetzt vielleicht ohne Zeugen würden sprechen können. Aber Isaak, von Numero sechs, sah sie kommen und schüttelte seinen roten Kopf mit mitleidig hochgezogener Oberlippe.
»Fort«, sagte er.
Und der alte Bram an der andern Seite sagte:
»Gerade einen Augenblick zu spät. Seit heute morgen fort.«
»Fort?« fragte Johannes erschreckt und noch nicht begreifend. »Wohin?«
»Ja,« sagte Isaak, »wenn Sie mir das jetzt mal rasch erzählen wollten, dann wäre ich schon wieder um ein gutes Ende weiter.«
Und Bram, der Isaak nicht sehen konnte infolge der Bettschirme, sagte zu Marion:
»Er hat's mir versprochen,« – und dabei schlug er mit seiner Faust auf die Wolldecke – »'s ist mir verdammt alles gleichgültig – versprochen hat er's mir – und ich rechne drauf – verdammt noch mal!«
»Was ist denn geschehen?« fragte Marion, die langsam zu verstehen begann.
»Sie haben ihn operiert,« sagte Isaak, »den Aschenkübel haben sie ihm aus dem Gehirn rausgeholt. Wenn er jetzt nur noch lebte, dann könnte er wieder gehen, wenn er nur noch lebte ...«
»Komm mit, Marion,« sagte Johannes, indem er sie mit fortzog, und darauf leise: »Wollen wir fragen, ob wir ihn noch mal sehen dürfen?«
Und darauf Marion, totenbleich, aber gefaßt:
»Ich nicht, Hanni, ich will das Leben vor Augen behalten, als letzte Erinnerung, nicht den Tod.«
Johannes, der ebenso bleich war wie sie, stimmte ihr bei in stillem Einverständnis. Darauf ging Johannes auf die Oberschwester zu und fragte leise und bescheiden:
»Wann wird die Beerdigung stattfinden, Schwester?«
Die Schwester, eine kleine blasse, bebrillte Dame, mit einem etwas harten aber nicht unfreundlichen Gesicht, blickte die beiden mit flüchtigem Augenaufschlag an und sagte ein wenig zögernd: »Ach – so – Sie meinen – Numero sieben – nicht wahr? – ja, wir wußten nichts – er hat ja keine Verwandte gehabt – es war kein Geburtsschein da – nichts – gar nichts – eine Beerdigung – eine Beerdigung findet nicht statt ...«
»Keine Beerdigung, Schwester?« sagte Marion, »aber was denn? Was geschieht denn mit ihm, Schwester?«
Darauf sagte die Pflegerin strenge und wahrscheinlich härter, als sie beabsichtigt hatte:
»Die Leiche kommt auf die Anatomie, Fräulein.«
Eine Weile standen die beiden sprachlos, gänzlich bestürzt und verwirrt. An die Möglichkeit hatten sie nicht gedacht. Sie waren auf nichts vorbereitet, sie empfanden es beide als einem unerträglichen Greuel, nun sie plötzlich dem gegenüber standen, und waren ratlos.
»Ist denn dabei nichts zu machen, Schwester?« stammelte Johannes, »kann es nicht ... kann es nicht ... von der Armenpflege aus?«
Er begriff, daß es nur eine Geldfrage war, und fand keinen Ausweg.
Marion, praktischer als er, fragte sofort: »Was würde es wohl kosten, Schwester?«
»Es tut mir leid, Fräulein,« sagte die Pflegerin, die jetzt wirklich Mitleid mit ihnen hatte, »aber ich fürchte, daß Sie zu spät kommen. Sie hätten vorher darüber sprechen müssen. Der Professor hat schon ausdrückliche Order gegeben.«
»Fünfundzwanzig Gulden, Schwester, sollte das wohl genug sein?« fragte Marion.
Die Schwester zuckte die Achseln.
»Vielleicht – wenn Sie den Professor fragen – und wenn Sie nachweisen können, daß Sie zur Familie gehören – aber ich fürchte, es wird zu spät sein.«
Schweigend gingen die beiden fort.
»Was sollen wir nun tun, Marion?« fragte Johannes, als sie draußen angelangt waren.
»Zu dem Professor gehen, das nützt nichts,« fagte Marion, »der ist ein eingebildeter Kerl, der seinen Willen haben will. Aber hier kommt's auf Geld an.«
»Ich habe nichts, Marion,« sagte Johannes.
»Ich auch nicht,« sagte Marion, »aber wir müssen uns an Menschen wenden, die wohl was haben. Du kennst sie.«
»Das ist eine schreckliche Arbeit, Marion.«
»Das ist es auch. Aber wir werden vielleicht noch schwerere Arbeit zu verrichten haben, um seinetwillen. Meinst du nicht auch?«
»Ja, natürlich, und ich werde ihr auch nicht aus dem Wege gehen. Ich gehe, hörst du!«
»Ich weiß wohl, wohin du mich haben willst.«
»Gut, das sind die Reichsten, nicht wahr? Aber ich gehe auch los. Es könnte dort am Ende mißglücken.«
»Wohin gehst du?«
»Wo Geld steckt, Hanni. Nach dem Zirkus und nach Bredebest.«
»Kannst du denn so weit kommen?«
»Ja, soviel habe ich gerade noch.«
Groß war die Entrüstung in den Familien Roodhuis und van Tyn, als sie von dem Vorfall hörten. Die ganze übergroße Empfindsamkeit, die Freude am Gruseln und die Anhänglichkeit an die alte Tradition brachen sich bei den guten Frauen Bahn. Und aus den dürftigen Börsen wurden sofort mit Mühe und Not drei Gulden und vierundzwanzig Cents zusammengescharrt.
Während dessen begab sich Johannes in die Villa Dolores.
In den Salon, wo sich van Lieverlee vor einem lustig brennenden Kaminfeuer aufs Angeregteste mit zwei Damen unterhielt, während die Gräfin den Tee eingoß, trat er ein mit seinem traurigen Herzen und seiner düsteren Bitte.
Er sprach hastig, ungeschickt, plump und beachtete weder die verächtlichen Blicke der Besucherinnen, noch die sehr deutlich merkbare Verstimmung, die seine ärmliche Erscheinung, sein ungeschicktes Auftreten und seine trübe Kunde bei der Hausfrau und dem Hausherrn erweckten.
»Aber Johannes,« sagte van Lieverlee, »ich hätte gedacht, daß du philosophischer wärest und höherstehende Begriffe hättest. Mir scheint, daß es für deinen Freund, der sich selbst für einen Magier hielt, und für dich selber, der du an ihn glaubtest, herzlich wenig zu bedeuten haben kann, was mit dem Stofflichen geschieht, auf dem sein vergängliches irdisches Dasein aufgebaut war.«
»Und ich glaubte,« sagte Johannes, »daß Sie, nun, da Sie katholisch sind, vielleicht wohl Gefühl dafür haben würden.«
»Gewiß,« sagte van Lieverlee, »wenn dein Freund auch katholisch war. War er das?«
»Nein,« antwortete Johannes.
»Aber Johannes,« sagte die Gräfin, »warum war dein Freund nicht in einer Beerdigungskasse? Heutzutage kaufen sich doch alle Menschen aus seinem Stand dort ein. Habe ich nicht recht, Baronesse?«
»Natürlich,« antwortete die Baronesse, »jeder Arme ist in einer Kasse. Es ist erstaunlich – die Menschen klagen fortwährend über ihre Armut und dabei sind sie doch so unbedacht und so sorglos.«
»Ja, ganz erstaunlich,« wiederholte die zweite Besucherin seufzend.
»Also Sie wollen nichts für mich tun?« fragte Johannes nicht ohne bitteren Trotz in der Stimme.
Die Gräfin blickte van Lieverlee an, der stirnrunzelnd den Kopf schüttelte.
»Nein, lieber Johannes, in anderen Dingen herzlich gern, aber dies scheint uns wirklich nicht genügend motiviert.«
Eine Nacht und ein Tag vergingen, und es konnte während dieser Zeit nichts getan werden, da Marion noch nicht zurück war und die drei Gulden vierundzwanzig nur ganz langsam zu etwa fünfen anwuchsen.
Bis endlich, am Sonnabend Vormittag, ein Wagen vor dem Abstinenzlercafé hielt; und diesem Wagen entstieg eine vornehme schwarze Gestalt, die, mit ihrem altmodischen Perlenhut, dem rauschenden schwarzseidenen Kleide, der weiten Mantille und dem Lavendelduft, der an alte Leinenschränke und vergilbte Andenken erinnerte, den kleinen engen Hausflur gänzlich füllte.
»Tante Serena!« rief Johannes aus, und es drängte ihn, sie mit warmer Herzlichkeit in seine Arme zu schließen.
»Da ist sie selbst,« sagte Marion freudig erregt über ihr gutes Gelingen. »Und ich habe auch zehn Gulden von dem schwarzen Weibe; die ist doch nicht so übel wie ich dachte.«
Tante Serena bekam eine Tasse Kaffee und machte sich sehr beliebt bei der Familie Roodhuis.
Mit demselben Wagen, mit dem sie gekommen war, fuhren Marion und Johannes alsdann nach dem Hospital, eines guten Resultates völlig sicher, da sie sich nun auf Tantes Reichtum stützen konnten.
Aber es wird euch wohl nicht verwundern zu hören, daß sie zu spät kamen, und daß der Pförtner und der Doktor, der die Wache hatte, ihnen die ausdrückliche Versicherung gaben, daß jetzt um keinen Preis mehr von einer Beerdigung die Rede sein könne, da niemand mehr würde feststellen oder zusammensuchen können, was zu dem Körper ihres Freundes gehört hatte.
»Die Elenden!« murmelte Marion vor sich hin, während sie sich heimwärts begaben. Johannes aber rief aus:
»O Marion! Marion! die Zeit, da die Menschen ihren Königen Ehre erweisen, ist noch nicht gekommen!«
Wahre Trauer wurde nur in dem dunklen Alkoven empfunden, der hinter der Gaststube des Abstinenzlercafés lag, denn das Schluchzen und die Seufzer dort kamen von Herzen. Bevor sie wieder fortging, fagte Tante Serena:
»Seht, nun fandet ihr doch wohl, daß die goldenen Äpfel von meinem Bäumchen zu etwas gut sein können, nicht wahr?«
»Ach, Tante Serena,« fugte Johannes, »halte mich nicht für stolz. Wenn ich nicht früher zu dir kam, so war es, weil ich mich doch schämte, trotzdem du mir gesagt hattest, daß das nicht nötig sei. Aber von Ihm habe ich jetzt gelernt, daß wir nicht auf andere herabblicken dürfen, weil sie noch nicht so denken wie wir.«
»Werdet ihr denn auch nicht zu stolz sein, um für mein Apfelbäumchen zu sorgen, wenn ich es bei meinem Tode in euer Gärtchen hinüberpflanze?«
Und lächelnd ließ sie darauf folgen:
»Das ist gar nicht so freundlich gemeint, wie es wohl aussieht, müßt ihr wissen. Ich habe geradezu meine Schadenfreude daran, an eure Verlegenheit zu denken, wenn ihr nicht wissen werdet, was ihr besseres damit anfangen sollt, als ich.«
»Das ist aber ein häßlicher Streich von dir, Tante Serena,« sagte Marion.
»Eines weiß ich,« fügte Johannes. »Daß ich die Äpfelchen ausstreuen werde, damit neue Bäumchen daraus wachsen. Das hat Er uns gelehrt.«
»Gut, dann mußt du auch noch mal zu mir kommen, und mir das erklären,« sagte Tante, »Gott segne euch beide – und Gott segne eure Arbeit, ihr Kinder!«
»Gott segne dich, Tante, – grüß Daatje von uns!«
Hiermit habe ich euch alles erzählt, was ich euch von dem kleinen Johannes zu erzählen hatte.