Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Am Ufer des Teiches war es warm und totenstill. Die Sonne, rot und abgemattet von der Arbeit des Tages, schien sich einen Augenblick am fernen Dünenrand auszuruhen, bevor sie unterging. Beinahe vollkommen spiegelte das glatte Wasser ihr leuchtendes Angesicht wieder. Die weit über den Teich herabhängenden Blätter der Buche nützten die Stille, um sich einmal so recht andächtig im Spiegel zu beschauen. Der einsame Reiher, der zwischen den breiten Blättern der Wasserlilie auf einem Bein stand, vergaß, daß er ausgegangen war um Frösche zu fangen, und starrte in Gedanken versunken vor sich hin.

Da kam Johannes auf den kleinen Rasenplatz, um die Wolkengrotte zu sehen. Plumps! plumps! – sprangen die Frösche vom Ufer fort. Der Spiegel warf Falten, das Sonnenbild zerfiel in breite Streifen und die Buchenblätter raschelten verstört, denn mit ihrem Anschauen waren sie noch lange nicht zu Ende.

An den nackten Wurzeln der Buche festgebunden lag ein altes kleines Boot. Man hatte Johannes streng verboten es zu besteigen. O, wie war an diesem Abend die Versuchung groß! Schon formten sich die Wolken zu einer ungeheuren Pforte, hinter der die Sonne zur Ruhe gehen würde. Leuchtende Reihen kleiner Wölkchen scharten sich ringsumher wie eine goldgepanzerte Leibwache. Auch die Wasserfläche leuchtete und durch das Schilf am Ufer schossen rote Funken, Pfeilen gleich.

Langsam löste Johannes das Tau des Bootes von den Wurzeln der Buche. O, dort zu treiben, mitten in jener Pracht! Presto war bereits in das Boot gesprungen, und bevor sein Herr es noch selber wollte, teilte sich das Schilf langsam, ganz langsam, und beide trieben sie davon in die Richtung der Abendsonne.

Johannes lag auf dem Vordersteven und starrte in die Tiefe der Lichtgrotte. – Flügel! dachte er – jetzt Flügel zu haben! und dann dorthin!

Die Sonne war verschwunden. Die Wolken glühten noch immer. Im Osten war der Himmel dunkelblau. Dort standen Weiden in einer Reihe längs des Ufers. Regungslos streckten sie ihre hellen schmalen Blättchen in die stille Luft. Von dem dunklen Hintergrunde hoben sie sich ab wie prächtige mattgrüne Spitzenarbeit.

Still! was war das? Wie ein Säuseln zog es über den Wasserspiegel – wie ein leichter Windstoß, der in das Wasser eine schmale Furche gräbt. Es kam von den Dünen, von der Wolkengrotte herüber.

Als Johannes sich umschaute, saß auf dem Rande des Bootes eine große blaue Wasserlibelle. Solch eine große hatte er nimmer gesehen. Sie saß still, aber ihre Flügel zitterten unaufhaltsam in weitem Kreis. Es schien Johannes, als bildeten die Spitzen ihrer Flügel einen leuchtenden Ring.

»Das muß ein Feuerfalter sein«, dachte er, »die sind sehr selten.«

Allein der Kreis ward größer und immer größer und die Flügel zitterten so rasch, daß Johannes sie nur noch wie in einem Nebel sah. Und allmählich sah er aus jenem Nebel zwei dunkle Augen hervorleuchten und eine lichte schlanke Gestalt in einem zartblauen Kleidchen saß dort, wo die Libelle gesessen. Auf dem Blondhaar lag ein Kranz aus weißen Winden und die Schultern trugen Flügel aus Gaze, die, einer Seifenblase gleich, in tausenderlei Farben schillerten. Ein Wonneschauer durchzuckte Johannes. Das war ein Wunder!

»Willst du mein Freund sein?« flüsterte er.

Das war allerdings eine absonderliche Art und Weise einen Fremden anzureden – aber hier ging eben alles ein wenig ungewöhnlich zu. Und ihm war es, als müsse er dieses seltsame blaue Wesen schon lange kennen.

»Ja, Johannes«, hörte er dann sagen, und die Stimme klang wie das Rauschen der Halme im Abendwind oder wie Regen, der auf die Blätter im Walde langsam herniedertropft.

»Wie soll ich dich nennen?« fragte Johannes.

»Ich bin in dem Kelch einer Winde geboren. Nenne mich Windekind!«

Und Windekind lachte und schaute Johannes so vertraulich in die Augen, daß es ihm wunderbar selig zu Mute ward.

»Heute ist mein Geburtstag,« sagte Windekind. »Ich bin hier in der Gegend geboren, aus den ersten Strahlen des Mondes und den letzten der Sonne. Zwar sagt man, daß die Sonne weiblich sei, aber das ist nicht wahr. Denn sie ist mein Vater.«

Johannes nahm sich vor, am folgenden Tage in der Schule von dem Sonne zu sprechen.

»Und sieh! Dort kommt das runde weiße Gesicht meiner Mutter schon zum Vorschein. Guten Tag, Mutter! O, o, wie gütig und bekümmert sie wieder aussieht!«

Er wies nach dem östlichen Horizont. Groß und leuchtend stieg dort der Mond am grauen Himmel auf, hinter dem Spitzenwerk der Weiden, das sich von der hellen Scheibe dunkel abhob. Seine Mutter machte wahrlich ein sehr betrübtes Gesicht.

»Aber Mutter, Mutter, das tut nichts. Ihm kann ich ja vertrauen.«

Lustig ließ das liebliche Wesen seine Gazeflügel erzittern und gab Johannes mit der Irisblume, die es in der Hand hielt, einen leichten Schlag auf die Wange.

»Ihr ist es nicht recht, daß ich zu dir gekommen bin. Du bist der erste. Aber dir vertraue ich, Johannes. Du darfst nie, niemals einem Menschen meinen Namen nennen oder über mich sprechen. Gelobst du mir das?«

»Ja, Windekind,« sagte Johannes. Es war ihm alles noch so fremd. Er fühlte sich unaussprechlich glücklich, aber ihm bangte, ob er sein Glück nicht wieder verlieren würde. Träumte er? – Neben ihm auf der Bank lag Presto, friedlich schlafend. Der warme Atem seines Hündchens beruhigte ihn. Die Mücken tanzten über dem Wasser, in der schwülen Luft, genau so wie immer. Um ihn her war alles so klar und so deutlich. Es mußte Wahrheit sein. Und immerfort fühlte er, wie Windekinds vertraulicher Blick auf ihm ruhte. Da erklang wiederum die süß raunende Stimme:

»Ich habe dich hier schon oft gesehen, Johannes. Weißt du wo ich war? – Oft saß ich auf des Teiches sandigem Grunde zwischen den dichten Wasserpflanzen und blickte zu dir hinauf, wenn du dich über das Wasser neigtest, um zu trinken oder um die Wasserkäfer und Salamander dir anzuschauen. Mich aber sahest du nie. Oftmals auch blickte ich aus dem dichten Schilf zu dir hinüber. Dort bin ich sehr häufig. Wenn es warm ist, schlafe ich da auch meistens in dem leeren Nest einer Rohrdrossel. Ja, das ist schön weich.«

Windekind wiegte sich vergnügt auf dem Rande des Bootes und schlug mit seiner Blume nach den Mücken.

»Jetzt komme ich, dir ein wenig Gesellschaft zu leisten. Dein Leben ist sonst gar so eintönig. Wir wollen gute Freunde sein und ich werde dir mancherlei erzählen. Viel bessere Dinge als die, welche dir die Schulmeister weismachen. Die verstehen ja gar nichts. Und wenn du mir nicht glaubst, so werde ich dich das alles selber sehen und hören lassen. Ich werde dich mitnehmen.«

»O Windekind, lieber Windekind, kannst du mich dorthin mitnehmen?« rief Johannes und wies in die Richtung, wo soeben noch das purpurne Licht der untergehenden Sonne durch die goldene Wolkenpforte gestrahlt hatte. Schon begann das wunderherrliche Gebilde in grauem Nebel zu zerfließen. Dennoch aber drang der mattrote Glanz noch aus tiefsten Tiefen zum Vorschein.

Windekind starrte in das Licht, das über sein seines Gesichtchen und sein Blondhaar einen goldenen Schimmer wob und schüttelte langsam den Kopf.

»Jetzt nicht, Johannes, jetzt nicht! Du mußt nicht gleich zu viel verlangen. Ich selber bin noch niemals bei Vater gewesen.«

»Ich bin immer bei meinem Vater«, sagte Johannes.

»Nein, das ist dein Vater nicht. Wir sind Brüder. Mein Vater ist auch der deine. Aber die Erde ist deine Mutter und daher sind wir beide sehr verschieden. Auch bist du in einem Hause geboren bei Menschen, ich hingegen in dem Kelch einer Winde. Das Letztere ist sicherlich besser. Aber wir werden uns dennoch gut verstehen.«

Dabei sprang Windekind behende auf die Seite des Bootes, das sich nicht regte unter der Last, und küßte Johannes! Ihm war, als wandle sich alles um ihn her.

Was für ein seltsames Empfinden kam da über Johannes! Ihm war, als wandle sich alles um ihn her.

Er sähe jetzt alles viel besser und viel richtiger, meinte er. Er sah, wie der Mond jetzt viel freundlicher dreinschaute – und er sah auch, daß die Wasserlilien Gesichter hatten, mit denen sie ihn verwundert und forschend anstarrten.

Er begriff nun plötzlich, warum die Mücken so lustig auf und nieder tanzten, immer umeinander her, auf und nieder, auf und nieder, bis sie mit ihren langen Beinen das Wasser berührten. Er hatte schon manchmal darüber nachgedacht, aber jetzt begriff er es ganz von selbst.

Er hörte auch, was das Schilf raunte und wie die Bäume am Ufer leise klagten, weil die Sonne untergegangen.

»O, Windekind, ich danke dir, das ist köstlich. Ja, wir beide werden uns sicherlich gut verstehen.«

»Gib mir deine Hand,« sagte Windekind und breitete die vielfarbigen Flügel aus. Dann zog er Johannes in dem Boot mit sich fort über das Wasser und durch die großen Blätter der Seeblumen, die im Mondenlicht schimmerten.

Hier und dort saß ein Frosch auf einem Blatte. Jetzt aber sprang er nicht ins Wasser, wenn Johannes kam. Er machte nur eine leichte Verbeugung und sagte: »Quack!« Johannes verneigte sich gleichfalls sehr höflich – denn er wollte vor allen Dingen nicht hochmütig erscheinen.

Nun kamen sie an das Schilfrohr – das war breit und das ganze Boot verschwand darin, ohne daß sie das Ufer erreichten. Johannes aber klammerte sich fest an seinen Begleiter, und so kletterten sie an Land zwischen hohen Halmen hindurch.

Johannes meinte zwar, daß er kleiner und leichter geworden sei, aber das war am Ende nur Einbildung. Dennoch entsann er sich nicht, daß er jemals an einem Schilfrohr hatte emporklettern können.

»Paß jetzt gut auf«, sagte Windekind, »dann wirst du was hübsches sehen.«

Sie wandelten zwischen dem hohen Grase unter dunklem Buschholz, das hier und dort einen schmalen leuchtenden Streif des Mondenlichtes durchschimmern ließ.

»Hast du des Abends in den Dünen die Grillen schon einmal gehört, Johannes? Es ist gerade, als gäben sie ein Konzert, nicht wahr? Und niemals kann man hören, woher der Laut kommt. Nun, zu ihrem Vergnügen singen sie allerdings niemals, aber der Lärm kommt aus der Grillenschule, wo Hunderte von kleinen Grillen ihre Lektionen auswendig lernen. Jetzt aber sei ganz still, denn wir sind beinahe da.«

Srrr! srrr!

Das Buschholz begann sich zu lichten, und als Windekind mit seiner Blume die Halme auseinanderschob, sah Johannes eine hellbeleuchtete offene Stelle und die kleinen Grillen, die eben dabei waren, zwischen dem dünnen schmächtigen Dünengras ihre Aufgaben auswendig zu lernen.

Srrr! srrr!

Eine große dicke Grille erteilte den Unterricht und überhörte. Die Schüler sprangen einer nach dem andern auf die behäbige Grille zu, immer einen Sprung vorwärts und dann in einem Sprung wieder an ihren Platz zurück. Wer verkehrt sprang, mußte auf einem Krötenpilz am Pranger stehen.

»Hör jetzt gut zu, Johannes, dann kannst du vielleicht auch etwas lernen«, sagte Windekind.

Johannes verstand recht gut, was die kleinen Grillen antworteten. Aber das alles lautete ganz anders, als was ihm sein Lehrer in der Schule beibrachte. Zuerst kam die Geographie an die Reihe. Von den verschiedenen Weltteilen wußten sie nichts. Sie brauchten nur 26 Dünen und 2 Teiche zu kennen. Von allem übrigen könne niemand etwas wissen, sagte der Lehrer, und was davon erzählt würde, sei eitel Phantasie.

Darauf ging er zur Botanik über. Auf diesem Gebiet wußten sie alle sehr viel, und es wurden vielerlei Preise verteilt, ausgesucht junge und zarte Grashalme von verschiedener Länge. Über die Zoologie indessen wunderte sich Johannes am meisten. Die Tiere wurden in springende, fliegende und kriechende eingeteilt. Die Grillen konnten springen und fliegen und standen infolgedessen obenan. Dann folgten die Frösche. Vögel wurden mit allen Anzeichen des Abscheus als höchst gefährlich und schädlich bezeichnet. Endlich wurde auch der Mensch besprochen. Der sei ein großes unnützes und schädliches Tier, das sehr niedrig stände, da es weder fliegen noch springen könne, das aber zum Glück nur ziemlich selten hierher komme. Eine kleine Grille, die noch niemals einen Menschen gesehen hatte, bekam drei Schläge mit einem Röhrchen, weil sie den Menschen irrtümlich unter die unschädlichen Tiere zählte.

So etwas hatte Johannes noch nie gehört.

Da rief der Lehrer plötzlich: »Ruhe! Springübung!« Sofort hörten sämtliche Grillen mit dem Lernen ihrer Lektionen auf und begannen sehr geschickt und emsig »Bock, steh fest« zu spielen. Allen voran der dicke Lehrer.

Das war ein so lustiger Anblick, daß Johannes vor Freude in die Hände klatschte. Bei diesem Lärm stob die ganze Schule in weniger als einem Augenblick in die Dünen, und auf dem kleinen Rasenplatz ward es totenstill.

»Ja, das kommt davon, Johannes, du mußt dich auch nicht so plump benehmen. Man kann es doch wohl merken, daß du bei den Menschen geboren bist!«

»Es tut mir leid, ich werde mir alle Mühe geben. Aber es war auch so reizend!«

»Es wird noch viel reizender,« sagte Windekind.

Sie schritten über den Rasen und bestiegen die Düne von der andern Seite. Uff, wie schwer es sich ging durch den dicken Sand! – aber als Johannes Windekind bei seinem leichten blauen Kleidchen faßte, flog er schnell und mühelos hinauf. Auf halbem Wege zum Gipfel war eine Kaninchenhöhle.

Das Kaninchen, das dort zu Hause war, streckte den Kopf und die Vorderpfoten aus dem Eingang heraus. Noch blühten die Dünenrosen, und ihr seiner zarter Duft gesellte sich dem des Thymian, der an den Dünenhängen wuchs.

Johannes hatte oftmals Kaninchen in ihre Höhle verschwinden sehen und dann stets bei sich gedacht: wie mag es dort drinnen wohl aussehen? Wie viele mögen dort wohl zusammen hocken? Und ob es nicht gar warm und dumpfig sein mag in ihrer engen Behausung?

So freute er sich denn ungemein, als er seinen Gefährten das Kaninchen fragen hörte, ob sie sich die Höhle einmal ansehen dürften.

»Was mich angeht, natürlich«, sagte das Kaninchen. »Aber es trifft sich schlecht, da ich gerade heute Abend meine Höhle zur Veranstaltung eines Wohltätigkeitsfestes abgetreten habe und daher sozusagen nicht mehr Herr in meinem eigenen Haufe bin.«

»So, so, ist denn ein Unglück geschehen?«

»Ach ja,« antwortete das Kaninchen wehmütig, »uns hat ein schweres Mißgeschick betroffen, das wir wohl Jahre lang nicht überwinden werden. Etwa um tausend Sprünge von hier hat man eine Menschenwohnung gebaut, so groß! so groß! – Und jetzt wohnen Menschen darin, mit Hunden. Es sind schon mindestens sieben Mitglieder meiner Familie dabei umgekommen und noch dreimal so viel ihrer Höhlen beraubt. Und um das Geschlecht Maus und die Familie Maulwurf ist es noch schlimmer bestellt. Auch die Kröten haben schwer gelitten. – Nun haben wir zu Gunsten der Hinterbliebenen ein Fest veranstaltet. Jeder tut das Seine. Ich trete meine Höhle ab. Man muß für seine Mitgeschöpfe doch etwas übrig haben.«

Das mitleidige Kaninchen seufzte und zog sich mit der rechten Vorderpfote das lange Ohr über den Kopf, um sich eine Träne aus dem Auge zu wischen. Ihm diente das als Taschentuch.

Da raschelte es in den Halmen und eine dicke schwerfällige Gestalt schleppte sich langsam bis zur Höhle hin.

»Sieh,« rief Windekind, »da kommt Papa Kröte auch angewackelt. So, so, wagst du dich so spät noch auf den Pfad, Padde?«

Die Padde nahm von diesem Wortspiel keinerlei Notiz. Witze, die auf ihren Namen gemacht wurden, langweilten sie aufs äußerste. Bedächtig legte sie eine reife Kornähre, die fein säuberlich in ein dürres Blatt eingewickelt war, am Eingang nieder und stieg dann geschickt über den Rücken des Kaninchens in die Höhle hinab.

»Dürfen wir eintreten?« fragte Johannes, der sehr neugierig war. »Ich will auch etwas geben.«

Er entsann sich, daß er noch einen Zwieback in der Tasche hatte. Einen kleinen runden Zwieback von Huntley & Palmers. Als er den zum Vorschein holte, bemerkte er erst recht, wie klein er geworden war. Denn er vermochte ihn kaum mit beiden Händen aufzuheben und begriff überhaupt nicht, wie er jemals in seiner Hosentasche Platz gefunden hatte.

»Das ist etwas sehr Kostbares und sehr Seltenes,« sagte das Kaninchen, »ein fürstliches Geschenk!«

Ehrfurchtsvoll gab es den beiden den Eingang frei. In der Höhle war es dunkel und Johannes zog es vor, Windekind vorangehen zu lassen. Alsbald sahen sie, wie ein mattgrünes Lichtlein sich näherte. Es war ein Glühwürmchen, das sich bereitwillig erbot, ihnen voran zu leuchten.

»Der Abend verspricht sehr genußreich zu werden,« sagte das Glühwürmchen, während es seinen Weg verfolgte. »Es sind schon viele Gäste da. Ihr seid Elfen, wie mir scheint, nicht wahr?« Dabei blickte das Glühwürmchen Johannes ein wenig mißtrauisch an.

»Du kannst uns als Elfen anmelden,« antwortete Windekind.

»Wißt Ihr, daß Euer König dem Feste beiwohnt?« fuhr das Glühwürmchen fort.

»Ist Oberon hier? Was du nicht sagst! Das freut mich aber aufrichtig!« rief Windekind aus. »Ich kenne ihn persönlich.«

»Ah?« sagte das Glühwürmchen, – »ich wußte nicht, daß ich die Ehre hatte« ... Und vor lauter Schrecken wäre sein Lichtlein beinahe erloschen. – »Ja, S. Maj. pflegt die frische Luft sonst vorzuziehen, aber sobald es einem wohltätigen Zweck gilt, ist er stets zu allem bereit. Das Fest wird gewiß sehr prunkvoll werden.«

Und so war es auch in der Tat. Der große Saal in der Kaninchenhöhle war prächtig ausgeschmückt. Der Boden war festgestampft und mit duftendem Thymian bestreut. Quer vor dem Eingang hing eine Fledermaus an ihren Hinterbeinen. Diese rief die Namen der Gäste ab und diente gleichzeitig als Vorhang: das war eine Sparsamkeitsmaßregel. Die Wände waren mit dürren Blättern, Spinngeweben und kleinen hängenden Fledermäusen geschmackvoll dekoriert. Dazwischen und an der Decke entlang krochen unzählige Glühwürmchen, die eine entzückende bewegliche Beleuchtung bildeten. Am Ende des Saales war aus kleinen Stückchen morschen Holzes, die Licht ausstrahlten, ein Thron errichtet. Das war ein gar prächtiger Anblick!

Es hatten sich viele Gäste eingefunden. Johannes fühlte sich nicht recht heimisch in dieser fremden, seltsamen Menge und wich nicht von Windekinds Seite. Er sah lauter erstaunliche Dinge. Ein Maulwurf unterhielt sich aufs eifrigste mit einer Feldmaus über die schöne Beleuchtung und die Dekorationen. In einer Ecke saßen zwei dicke Kröten und klagten sich kopfschüttelnd ihre Not über das anhaltend trockne Wetter. Ein Frosch versuchte Arm in Arm mit einer Eidechse durch den Saal zu wandeln, was ihm indessen nicht recht gelingen wollte, da er nervös und verlegen war und jedesmal zu weit sprang, wodurch er die Wandverzierungen hin und wieder gründlich in Unordnung brachte.

Auf dem Thron saß Oberon, der Elfenkönig, umringt von seinem Elfengefolge, das ein wenig verächtlich auf die Umgebung herabblickte. Der König selber war nach Fürstenart außerordentlich leutselig und unterhielt sich freundlich mit verschiedenen Gästen. Er kam von einer Reise aus dem Orient und trug ein seltsames Gewand aus leuchtend-farbigen Blumenblättern. Solche Blumen wachsen hier nicht, dachte Johannes. Auf dem Kopf trug er einen kleinen tiefblauen Blumenkelch, der noch einen frischen Duft ausströmte, gleich als sei er soeben erst gepflückt. In der Hand hielt er als Szepter den Staubfäden einer Lotosblume.

Alle Anwesenden waren voll des stillen Lobes über seine Güte. Er hatte das Mondenlicht in den Dünen gerühmt und gesagt, daß die hiesigen Glühwürmchen fast ebenso schön seien wie die morgenländischen Feuerblumen. Auch hatte er mit sichtlicher Genugtuung die Wanddekorationen betrachtet, und ein Maulwurf wollte sogar beobachtet haben, daß er anerkennend mit dem Kopfe genickt.

»Geh mit mir,« sagte Windekind zu Johannes, »ich werde dich vorstellen.« Und sie bahnten sich einen Weg bis zu des Königs Thron.

Oberon breitete voller Freude die Arme aus, als er Windekind erkannte, und küßte ihn. – Darob entstand ein Geflüster unter den Gästen, und im Gefolge der Elfen konnte man manch neidischen Blick auffangen. Die beiden dicken Kröten in der Ecke murmelten etwas, das wie »Schmeichler« und »kriechen« und »nicht lange dauern« klang, und nickten einander vielsagend zu.

Windekind sprach lange in einer fremden Sprache mit Oberon und winkte darauf Johannes, daß er näher treten solle.

»Gib mir deine Hand, Johannes,« sagte der König, »Windekinds Freunde sind die meinen. Ich werde dir beistehen, wo immer ich es vermag. Ich will dir ein Merkmal unseres Bundes geben.«

Und dabei löste Oberon von seiner Halskette ein kleines goldenes Schlüsselein und reichte es Johannes, der es voller Ehrfurcht entgegennahm und es fest mit seiner Hand umschloß.

»Dies Schlüsselein kann dein Glück bedeuten,« fuhr der König fort. »Es paßt zu einem kleinen goldenen Schrein, der kostbare Schätze enthält. Aber wer den Schrein besitzt, das kann ich dir nicht sagen, du mußt nur recht fleißig suchen. Wenn du mit mir und mit Windekind gut Freund bist und wenn du stets treu und standhaft bleibst, so wird es dir wohl glücken.« Dabei nickte der Elfenkönig freundlich mit dem schönen Köpfchen, und Johannes dankte ihm überglücklich.

Da begannen drei Frösche, die auf einer kleinen Anhöhe aus feuchtem Moose saßen, die Einleitung zu einem langsamen Walzer zu singen, und es bildete sich ein Pärchen nach dem andern. Die nicht tanzten, wurden von einer grünen Eidechse, die das Amt eines Zeremonienmeisters bekleidete und geschäftig hin und her eilte, schleunigst beiseite geschoben – zum größten Ärger der beiden Kröten, die sich beklagten, daß sie nichts sehen könnten – und dann begann der Tanz.

Das war aber drollig! Ein jeder tanzte auf seine eigene Art und bildete sich natürlich ein, daß er es viel besser mache als alle anderen. Die Mäuse und die Frösche sprangen auf ihren Hinterbeinen in die Höhe, eine alte Ratte drehte sich so wild im Kreise herum, daß alle Tänzer vor ihr zur Seite wichen, und auch eine fette Baumschnecke wagte ein Tänzchen mit einem Maulwurf, gab es indessen alsbald wieder auf unter dem Vorwand, daß sie Seitenstechen davon bekäme. – In Wahrheit aber nur deshalb, weil sie sich auf die Kunst nicht allzu gut verstand.

Es vollzog sich indessen alles sehr ernst und feierlich. Man betrachtete das alles als eine Ehrensache und blickte gespannt zum König hinüber, ob auf seinem Antlitz nicht der Ausdruck des Wohlwollens zu entdecken wäre. Der König indessen fürchtete Unzufriedene zu machen und blickte starr vor sich hin. Die Elfen seines Gefolges stellten ihre Tanzkunst viel zu hoch, als daß sie sich in diesem Kreise daran beteiligt hätten.

Johannes war angesichts dieser feierlichen Würde lange ernst geblieben. Als er dann aber sah, wie eine kleine Kröte sich mit einer langen Eidechse im Kreise drehte, die das unglückliche Krötchen oft hoch über die Erde emporhob und es in der Luft einen Halbkreis beschreiben ließ, brach er endlich in ein schallendes Gelächter aus.

Das verursachte allgemeine Bestürzung. Die Musik verstummte. Der König blickte verstört um sich. Der Zeremonienmeister eilte so geschwind, wie er nur irgend konnte, auf den Lacher zu und ersuchte ihn dringend, sich ein wenig anständiger zu benehmen.

»Der Tanz ist eine ernsthafte Sache,« sagte er, »und dabei gibt's nichts zu lachen. Es ist hier eine vornehme Gesellschaft, in der nicht etwa nur zum Spaß getanzt wird. Ein jeder tut, was er kann, und keiner will ausgelacht werden. Das ist eine Grobheit, übrigens wohnen wir hier einem Feste bei, das aus recht traurigen Gründen veranstaltet wurde. Hier sollte sich ein jeder anständig benehmen und nicht etwa so wie bei den Menschen.«

Darob erschrak Johannes sehr. Allüberall sah er haßerfüllte Blicke. Seine Vertraulichkeit mit dem König hatte ihm manchen zum Feinde gemacht. Windekind zog ihn beiseite:

»Es ist wohl besser, wir gehen, Johannes,« flüsterte er. »Du hast die Sache wieder einmal gründlich verdorben. Ja, ja, das kommt davon, wenn man bei den Menschen erzogen ist.«

Geschwind schlüpften sie unter den Flügeln der Fledermauspförtnerin hindurch und gelangten in den dunklen Gang. Das höfliche Glühwürmchen erwartete sie bereits.

»Habt ihr euch gut unterhalten?« fragte es, »habt ihr König Oberon gesprochen?«

»O ja, es war ein sehr lustiges Fest,« sagte Johannes. »Mußt du denn immer hier in dem dunklen Gang bleiben?«

»Das ist meine freie Wahl,« sagte das Glühwürmchen in wehmütig-bittrem Ton. »Mir machen solche Nichtigkeiten keinen Spaß mehr.«

»Ach was,« sagte Windekind, »das meinst du ja gar nicht.«

»Doch, es ist so wie ich sage. Früher – ja früher hat es eine Zeit gegeben, da auch ich Festlichkeiten besuchte und tanzte und mich mit solchen Spielereien abgab. Jetzt aber bin ich durch Kummer geläutert, jetzt...«

Und das Glühwürmchen war so gerührt, daß sein Lichtlein wiederum erlosch. Zum Glück waren sie dem Ausgang ganz nahe und das Kaninchen, das sie kommen hörte, trat ein wenig zur Seite, so daß das Mondenlicht voll hineinströmen konnte.

Sobald sie draußen bei dem Kaninchen angelangt waren, sagte Johannes:

»Erzähle uns doch mal deine Geschichte, Glühwürmchen.«

»Ach,« seufzte das Glühwürmchen, »die ist einfach und traurig und wird euch sicherlich nicht belustigen.«

»Aber erzähle sie, erzähle sie trotzdem!« riefen alle.

»Nun: – euch allen ist es ja wohl bekannt, daß wir Glühwürmchen ganz außergewöhnliche Wesen sind. Ja, ich glaube sogar, niemand würde wagen, es in Abrede zu stellen, daß wir Glühwürmchen unter allem, was da lebt, am reichsten begabt sind.«

»Warum denn? Davon weiß ich nichts,« sagte das Kaninchen.

Und voller Verachtung fragte das Glühwürmchen: »kannst du denn etwa Licht ausstrahlen?«

»Nein, das allerdings nicht,« mußte das Kaninchen eingestehen.

»Aber wir strahlen Licht aus. Alle! Und wir können es nach Willkür leuchten lassen und auslöschen. Licht ist die schönste Gabe der Natur und Licht verbreiten das Höchste, wozu ein lebendes Wesen es bringen kann. Sollte uns da wirklich jemand den Vorrang streitig machen wollen? Wir Männchen haben außerdem auch noch Flügel und können meilenweit fliegen.«

»Das kann ich auch nicht,« gestand das Kaninchen demütig ein.

»Und weil wir die göttliche Gabe des Lichtes besitzen,« fuhr das Glühwürmchen fort, »schonen uns auch die übrigen Tiere. Kein Vogel wird uns jemals überfallen. Nur ein einziges Tier, das niedrigste von allen, sucht uns und nimmt uns mit sich. Das ist der Mensch, das scheußlichste Ungeheuer der Schöpfung.«

Bei diesem Ausspruch blickte Johannes Windekind verständnislos an. Dieser aber bedeutete ihm lächelnd, daß er schweigen solle.

»Einst flog ich lustig umher wie ein Helles Irrlichtchen zwischen dunklem Gesträuch. Und auf einem einsamen feuchten Rasenplatz, am Rande eines Grabens, wohnte sie, deren Dasein mit meinem Glück unzertrennlich verknüpft war. Wunderbar leuchtete sie in mattem Smaragdglanz, wenn sie zwischen den Grashalmen umherkroch, und sie bezauberte mein junges Herz mit aller Macht. Ich flog um sie herum und gab mir alle Mühe durch den Wechsel meines Glanzes ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Voller Dankbarkeit sah ich, wie sie meinen Gruß gewahrte und sittsam ihr Lichtlein verdunkelte. Vor Rührung zitternd war ich im Begriff meine Flügel zusammenzulegen und verzückt auf meine strahlende Geliebte herabzusinken, als ein entsetzlicher Lärm die Luft erfüllte. Dunkle Gestalten näherten sich. Es waren Menschen. Erschreckt ergriff ich die Flucht – sie jagten hinter mir her und schlugen nach mir mit großen dunklen Gegenständen. Doch meine Flügel waren schneller. Als ich zurückkehrte...«

Hier versagte des Erzählers Stimme. Nach einem Augenblick tiefster Ergriffenheit fuhr das Glühwürmchen fort, während die drei Zuhörer ehrfurchtsvoll schwiegen:

»Ihr werdet es wohl schon vermuten. Meine zarte Braut – die strahlendste und schönste unter allen – war verschwunden, fortgeschleppt von den bösartigen Menschen. Das stille feuchte Rasenplätzchen war zertreten und ihr Lieblingsfleckchen am Graben dunkel und verödet. Ich war allein auf der Welt.«

Bei diesen Worten zog sich das empfindsame Kaninchen wiederum ein Ohr über den Kopf, um sich eine Träne aus dem Auge zu wischen.

»Von dem Augenblick an bin ich anders geworden. Alle eitlen Vergnügungen flößen mir seither Abscheu ein. Ich denke nur an sie, die ich verloren habe und an die Zeit, da ich sie wiedersehen werde.«

»So, hast du noch immer Hoffnung?« fragte das Kaninchen erfreut.

»Mehr sogar als Hoffnung, – ich habe Gewißheit. Dort oben werde ich meine Geliebte wiedersehen.«

»Aber...« wollte das Kaninchen einwenden.

»Kaninchen,« sprach das Glühwürmchen ernsthaft, »ich kann mir denken, daß der, welcher in der Dunkelheit umhertasten muß, zu zweifeln beginnt. Aber wenn man sehen, mit eigenen Augen sehen kann, dann ist mir jegliche Ungewißheit ein Rätsel. Dort oben,« fuhr das Glühwürmchen fort, während es voller Ehrfurcht zu dem sternenfunkelnden Himmel emporblickte, »dort oben sehe ich all meine Vorväter, all meine Freunde und auch sie in noch herrlicherem Glanz erstrahlen als hier auf Erden. Ach, wann werde ich mich aus diesem niederen Dasein emporschwingen können, um zu ihr zu fliegen, die mir lockend winkt? Ja, wann? wann?«

Seufzend verließ das Glühwürmchen seine Zuhörer und kroch wiederum in die dunkle Höhle zurück.

»Armes Geschöpf,« sagte das Kaninchen, »ich will nur hoffen, daß es recht behält.«

»Ja, das hoffe ich auch,« fügte Johannes hinzu.

»Mir ist ein wenig bange davor,« sagte Windekind, »aber es war wirklich sehr ergreifend.«

»Lieber Windekind,« hub Johannes nun an, »ich bin sehr müde und schläfrig.«

»So komm zu mir, damit ich dich mit meinem Mantel bedecke.«

Windekind nahm sein blaues Mäntelchen und breitete es über Johannes und über sich selber aus. So streckten sie sich hin in das duftende Gras am Dünenhang und hielten sich inniglich umschlungen.

»Ihr liegt mit dem Kopf ein wenig tief,« sagte das Kaninchen, »wollt ihr euch auf mich stützen?«

Und das taten sie.

»Gute Nacht, Mutter,« sagte Windekind zum Monde.

Darauf umschloß Johannes sein goldenes Schlüsselein fest mit der Hand, grub seinen Kopf tief in das flaumige Fell des Kaninchens und schlief ruhig ein.


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