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Habt ihr wohl einmal an einem schönen Herbsttage den Wald durchstreift, wenn die Sonne das buntfarbige Laub so still und klar bescheint, wenn die Äste knacken und die dürren Blätter unter euren Füßen rascheln?
Dann scheint der Wald so müde: er vermag nur noch zu grübeln und in alten Erinnerungen zu leben. Ein blauer Nebel umhüllt ihn wie ein Traum mit geheimnisvoller Pracht, und die glitzernden Herbstfäden weben in träger Schwingung schöne stille Träume durch die Lüfte.
Doch aus dem feuchten Boden zwischen Moos und dürren Blättern erheben sich dann plötzlich und rätselhaft die wunderlichen Gestalten der Pilze, einige fleischig und unförmig, andere wieder hoch und schlank mit geringtem Stiel und leuchtend buntem Hut. Das sind wunderseltsame Traumgebilde des Waldes.
Und dann sieht man auch auf morschen Baumstämmen unzählige kleine weiße Stümpfchen mit schwarzen Spitzen, gleichsam als seien sie verbrannt. Es gibt kluge Leute, die sie für eine Art von Schwämmen halten. Johannes indessen wurde eines Besseren belehrt:
Es sind kleine Kerzen. Die brennen in stillen Herbstnächten – und leuchten den Heinzelmännchen, die in winzigen Büchelchen lesen.
Das lehrte ihn Windekind an solch einem stillen Herbsttage, und mit dem dumpfigen Geruch, der aus dem Waldboden aufstieg, atmete Johannes zugleich eine seltsame Traumstimmung.
»Wie kommt es, daß die Blätter der Esche so schwarz gefleckt sind?«
»Ja, daran sind auch die Heinzelmännchen schuld«, sagte Windekind. »Wenn sie des Nachts geschrieben haben, gießen sie am Morgen den Rest aus ihren Tintenfässern über die Blätter aus. Den Baum können sie nicht leiden. Aus Eschenholz werden kleine Kreuze und die Stiele der Klingelbeutel gemacht.«
Johannes ward ganz neugierig auf die kleinen emsigen Heinzelmännchen und ließ sich von Windekind versprechen, daß er ihn zu einem von ihnen hinführen würde.
Lange Zeit schon war er bei Windekind gewesen und er fühlte sich in seinem neuen Leben so glücklich, daß er sein Gelübde, alles das zu vergessen, was er zurückgelassen, nur selten noch bereute. Es gab keine Augenblicke der Angst oder der Einsamkeit, während welchen die Reue sich stets einzuschleichen pflegt. Windekind verließ ihn niemals, und bei ihm ward jedes Fleckchen ihm zur Heimat.
Ruhig schlief er in dem schwanken Nest einer Rohrdrossel, das zwischen den grünen Schilfhalmen hing, ob auch die Drossel schrie und die Krähen noch so unheilkündend krächzten. Keinerlei Angst empfand er bei dem klatschenden Regen und dem pfeifenden Sturm – dann suchte er in einem hohlen Baume Schutz oder in einer Kaninchenhöhle und schlüpfte unter Windekinds Mäntelchen und lauschte seiner Stimme, die Märchen erzählte.
Und jetzt sollte er die Heinzelmännchen sehen.
Dazu war es gerade der rechte Tag. So still! So still! Johannes glaubte ihre feinen Stimmchen und das Scharren ihrer Füßchen bereits zu hören. Allein es war erst Mittag. Die Vögel waren beinahe alle fort, nur die Drosseln schmausten noch an den roten Beeren. Eine saß in einem Strick gefangen. Mit ausgebreiteten Flügeln hing sie dort und zappelte, bis das scharf umklemmte Füßchen beinahe auseinander gerissen ward. Johannes befreite sie alsbald und freudig zwitschernd flog sie schleunigst davon.
Die Pilze waren in eifriger Unterhaltung begriffen.
»Schaut mich doch nur an«, sagte ein dicker Satanspilz, »habt ihr jemals dergleichen gesehen? Seht nur, wie dick und weiß mein Stiel ist und wie mein Hut glänzt. Jetzt bin ich der größte von allen. Und das nach einer Nacht!«
»Bah«, sagte der rote Fliegenschwamm, »du bist sehr plump. So braun und so grob. Ich wiege mich auf meinem schlanken Stengel wie ein Schilfrohr. Leuchtendrot bin ich wie die Vogelbeeren und zierlich gesprenkelt. Ich bin schöner als alle anderen.«
»Still«, sagte Johannes, der diese Pilze von früher her recht wohl kannte, »ihr seid beide giftig.«
»Das ist eine Tugend«, sagte der Fliegenschwamm.
»Bist du etwa ein Mensch?« brummte der Dicke höhnisch, »dann wäre es mir ganz recht, wenn du mich verspeistest.«
Das tat Johannes indessen nicht. Er nahm ein paar dürre Zweige auf und steckte sie durch den fleischigen Hut. Das sah gar drollig aus, und alle lachten; auch eine Anzahl dünner Pilze mit braunen Köpfen, die allesamt in ein paar Stunden emporgeschossen waren und sich jetzt gegenseitig verdrängten, um in die Welt hineinzuschauen. Der Satanspilz wurde ganz blau vor Arger. Dadurch trat seine giftige Art so recht zutage.
Erdsterne erhoben auf getupften Postamenten ihre runden aufgedunsenen Köpfchen, aus deren Öffnung von Zeit zu Zeit eine kleine Wolke äußerst feinen Staubes flog. Wohin der Staub auf den feuchten Boden fiel, da sollten sich Fäden durch die schwarze Erde schlingen und im kommenden Jahr hunderte neuer Erdsterne emporschießen.
»Was für ein schönes Dasein!« sagten sie zueinander. »Stäuben ist der höchste Lebenszweck! Welch eine Lust, stäuben zu können, solange man lebt!«
Und voll andächtiger Hingebung trieben sie ihre kleinen Staubwölkchen in die Luft.
»Haben sie recht, Windekind?«
»Warum denn nicht? Was kann es für sie wohl Höheres geben? Es ist ein Glück für sie, daß sie nicht mehr verlangen, denn sie sind zu nichts Anderem imstande.«
Als sich die Nacht herabgesenkt hatte und die Schatten der Bäume zu gleichmäßigem Dunkel zusammengeflossen waren, hörte das geheimnisvolle Waldleben noch immer nicht auf. Die Zweige knackten und krachten, und hier und dort raschelten dürre Blättchen im Grase und in dem dichten Gestrüpp. Johannes fühlte das Streifen unhörbarer Flügelschläge und war sich der Nähe unsichtbarer Wesen bewußt. Jetzt aber hörte er ganz deutlich Stimmen flüstern und Füßchen trippeln. Und siehe, dort in der dunkeln Tiefe des Gebüsches blitzte flüchtig ein kleiner blauer Funke auf und verschwand. Da wieder einer, und noch einer! Still ... Wenn er aufmerksam horchte, hörte er ganz in der Nähe ein Rascheln in den Blättern – dort bei dem dunkeln Baumstumpf. Und dahinter kamen blaue Lichtlein zum Vorschein und machten auf der Spitze Halt.
Allerorten sah Johannes jetzt glänzende Lichtchen glitzern – sie schwebten zwischen dem dunklen Laube, tanzten in kleinen Sprüngen über den Boden hin, und in der Ferne leuchtete eine große funkelnde Masse wie ein blaues Freudenfeuer.
»Was für ein Feuer ist das?« fragte Johannes. »Das brennt ja wundervoll.«
»Das ist ein morscher Baumstamm«, sagte Windekind.
Sie gingen auf ein stilles, helles Lichtlein zu.
»Jetzt werde ich dich dem Wistik vorstellen. Er ist der älteste und gescheiteste unter den Heinzelmännchen.«
Als Johannes näher kam, sah er ihn neben einer kleinen Kerze sitzen. Deutlich vermochte man in dem bläulichen Schein das runzlige Gesichtchen mit dem grauen Bart zu erkennen. Er las laut und mit schwer gerunzelten Brauen. Auf dem Kopf trug er ein Eichelkäppchen mit einer kleinen Feder – vor ihm saß eine Kreuzspinne und hörte seinem Vorlesen zu.
Als die beiden sich näherten, blickte das Heinzelmännchen, ohne den Kopf zu heben, von seinem Büchelchen auf und zog die Brauen in die Höhe. Die Kreuzspinne kroch langsam fort. »Guten Abend«, sagte das Heinzelmännchen, »ich bin Wistik. Und Ihr beiden?«
»Ich heiße Johannes. Ich wollte gerne deine Bekanntschaft machen. Was liest du da?«
»Das ist nicht für deine Ohren bestimmt«, antwortete Wistik, »das ist nur für Kreuzspinnen.«
»Laß es mich doch auch mal sehen, lieber Wistik«, bat Johannes.
»Das darf ich nicht. Es ist das heilige Buch der Spinnen – ich habe es in Verwahrung und darf es niemals weggeben. Ich habe die heiligen Bücher der Käfer und Schmetterlinge und Igel und Maulwürfe und aller derer, die hier leben. Sie können nicht alle lesen – und wenn sie nun etwas wissen wollen, dann lese ich es ihnen vor. Das ist eine große Ehre für mich, ein Vertrauensposten, verstehst du wohl?«
Das Männlein nickte mehrmals sehr ernsthaft, während es den Zeigefinger emporstreckte.
»Und was triebst du soeben?«
»Ich las die Geschichte des Kritzelflink, des großen Helden unter den Kreuzspinnen, der vor langen, langen Zeiten lebte und ein Netz besaß, das über drei Bäume ausgespannt war und darinnen er an einem Tage Millionen von Fliegen fing. Vor Kritzelflinks Zeiten machten die Spinnen keine Netze, sondern lebten nur von Gras und kleinen toten Tieren: Kritzelflink aber war ein kluger Kopf und wies nach, daß auch lebendige Tiere zum Futter für die Spinnen geschaffen seien. Alsdann erfand Kritzelflink, dank seinen langwierigen komplizierten Berechnungen, die kunstvollen Netze, denn er war ein großer Mathematiker, und die Kreuzspinnen machen ihre Gewebe noch heute genau so, wie er es sie gelehrt – ein Fädchen neben dem andern – nur viel kleiner. Denn das Geschlecht der Spinnen ist stark entartet. Kritzelflink fing in seinem Netz große Vögel und mordete Tausende seiner eigenen Kinder, ja, er war wirklich eine große Spinne. Endlich hat sich dann ein furchtbarer Sturm erhoben, der Kritzelflink mitsamt seinem Netz und den drei Bäumen, über denen es ausgespannt war, mitschleppte durch die Lüfte nach fernen Wäldern, wo er jetzt um seiner wilden Mordgier und seiner Behendigkeit willen ewiglich verehrt wird.«
»Ist das alles wirklich wahr?« fragte Johannes.
»Es steht in dem Buch«, antwortete Wistik.
»Glaubst du es?«
Das Heinzelmännchen kniff ein Auge zu und legte den Zeigefinger an die Nase.
»In den heiligen Büchern der anderen Tiere wird Kritzelflink vielfach als ein abscheuliches und verächtliches Ungeheuer bezeichnet. Aber ich mische mich grundsätzlich nicht hinein.«
»Gibt es auch ein Heinzelmännchenbuch, Wistik?«
Wistik blickte Johannes ein wenig mißtrauisch an.
»Was für ein Wesen bist du eigentlich, Johannes? Du hast so etwas – so etwas – Menschliches an dir, möchte ich sagen.«
»Nein, nein, du kannst ganz ruhig sein, Wistik, sagte Windekind rasch, »wir sind Elfen. Johannes hat allerdings einst viel Menschen gesehen. Du kannst ihm aber dennoch vertrauen.«
»Ja, ja, das ist alles gut und schön – aber ich gelte als der Klügste unter den Heinzelmännchen, und ich habe lange und eifrig studiert, bevor ich das wußte, was ich heute weiß. Nun muß ich mit meiner Weisheit sehr sparsam umgehen. Denn wenn ich allzu viel erzähle, so ist's um mein Ansehen geschehen.«
»Aber in welchem Büchlein mag denn das Richtige stehen? Was glaubst du?«
»Ich habe viel gelesen, aber ich glaube nicht, daß ich jenes Büchlein jemals unter die Augen bekommen habe. Es ist nicht das Elfenbuch – auch nicht das Heinzelmännchenbuch. Aber existieren muß es dennoch.«
»Vielleicht das Menschenbuch?«
»Das kenne ich nicht: aber ich glaube es kaum. Denn das echte Büchlein muß großes Glück und großen Frieden bringen – darin muß ganz ausführlich beschrieben sein, warum alles so ist, wie es ist, so daß niemand mehr etwas fragen oder wünschen kann. Nun, und so weit sind die Menschen denn doch nicht, glaube ich.«
»O nein!« rief Windekind lachend.
»Gibt es denn wirklich solch ein Büchlein?« fragte Johannes begierig.
»Ja, ja«, flüsterte das Heinzelmännchen, »ich weiß es aus alten alten Geschichten. Und – horch! – ich weiß auch, wo es ist und wer es zu finden vermag.«
»O Wistik, Wistik!«
»Warum hast du es denn noch nicht?« fragte Windekind.
»Nur Geduld – es wird schon kommen. Nähere Einzelheiten weiß ich noch nicht. Aber alsbald werde ich es finden. Ich habe mein Leben lang dafür gearbeitet und danach gesucht. Denn dem, der es findet, wird das Leben wie ein ewiger Herbsttag erscheinen – oben blauer Himmel und bläulicher Nebel ringsumher – allein kein fallendes Blatt wird rascheln, kein Zweiglein wird knacken und kein Tröpfchen fallen – die Schatten werden sich nicht wandeln und das Gold auf den Baumkronen wird nicht erblassen. Was uns hell erscheint, wird finster sein und was uns glücklich dünkt, wird den, der dies Büchlein gelesen hat, traurig stimmen. Ja, das alles weiß ich, und ich werde es auch einst finden.«
Der Kobold zog die Augenbrauen nun ganz in die Höhe und legte den Finger auf die Lippen.
»Wistik, könntest du mich wohl lehren ...?« begann Johannes; doch bevor er ausgesprochen hatte, fühlte er einen heftigen Windstoß und gewahrte über sich ein großes schwarzes Etwas, das schnell und unhörbar vorüberschoß.
Als er sich wieder nach Wistik umschaute, sah er gerade noch ein Füßchen in dem Baumstamm verschwinden.
Schwupp, da war das Heinzelmännchen mitsamt seinem Büchlein in seine Höhle gesprungen. Das Lichtlein begann immer matter und matter zu leuchten, bis es plötzlich erlosch. Ja, das sind sehr seltsame Kerzen.
»Was war das?« fragte Johannes, der sich in der Dunkelheit ängstlich an Windekind klammerte.
»Eine Nachteule«, sagte Windekind.
Sie schwiegen beide eine Weile. Dann fragte Johannes: »Glaubst du das, was uns Wistik gesagt hat?«
»Wistik ist nicht gar so klug wie er selber wohl meint. Solch ein Büchelchen findet er nimmermehr, und du auch nicht.«
»Aber besteht es denn überhaupt?«
»Das Büchelchen besteht so wie dein Schatten besteht, Johannes. Du magst noch so schnell laufen und noch so behende haschen, doch wirst du ihn nimmer einholen oder greifen können. Bis du endlich gewahr wirst, daß du dich selber suchst. Sei nicht töricht und vergiß das Gnomengeschwätz. Ich werde dir hundert schönere Geschichten erzählen. Komm mit mir! Wir wollen an den Waldessaum treten und sehen, wie unser guter Vater die weißen Taudecken von den schlafenden Wiesen hebt. Komm mit!«
Johannes kam, aber Windekinds Worte vermochte er nicht zu verstehen, und seinen Rat befolgte er nicht. Und während er den strahlenden Herbstmorgen langsam erwachen sah, grübelte er über das Büchelchen, darinnen beschrieben stand, warum alles so ist wie es ist, und leise murmelte er vor sich hin: »Wistik! ...«
Während der folgenden Tage wollte es ihm scheinen, als sei es bei Windekind, im Wald und in den Dünen nicht mehr gar so schön und lustig. Seine Gedanken waren nicht mehr so gänzlich erfüllt von alledem, was ihm Windekind zeigte und sagte. Immer und immer wieder mußte er an jenes Büchelchen denken – und wagte doch nicht davon zu sprechen. Was er sah, wollte ihn nicht gar so schön und so wundersam mehr dünken wie zuvor. Die Wolken waren so schwarz und so schwer – und er fürchtete sich vor ihnen, gleich als würden sie auf ihn herniederfallen. Es tat ihm weh, wenn der Herbstwind unablässig an den armen müden Bäumen rüttelte und schüttelte, so daß die blasse Rückseite der grünen Blätter sichtbar ward und gelbes Laub und dürre Zweige durch die Luft wirbelten.
Was Windekind ihm erzählte, vermochte ihn nicht zu befriedigen. Vieles begriff er nicht, und nimmermehr erhielt er eine vollkommen klare und befreiende Antwort, wenn er eine seiner alten Fragen stellte.
Dann mußte er wiederum an jenes Büchelchen denken, in dem alles so klar und so einfach beschrieben war, und an den ewig sonnigen stillen Herbsttag, der dann folgen würde.
»Wistik! Wistik!«
Windekind hörte es.
»Johannes, ich fürchte, du wirst doch immer ein Mensch bleiben. Sogar deine Freundschaft ist wie die der Menschen. – Der erste, der nach mir zu dir gesprochen, hat gleich schon dein ganzes Vertrauen gewonnen. Ach, meine Mutter hatte wahrlich recht!« »Nein, Windekind! Aber du bist so viel klüger als Wistik – du bist so klug wie jenes Büchelchen. Warum sagst du mir denn das alles nicht? Nun sieh, warum fährt der Wind durch die Bäume, daß sie sich neigen und immer wieder neigen müssen? Sieh – sie können nicht mehr – ihre schönsten Zweige werden geknickt und zu Hunderten lösen sich die Blätter ab, trotzdem sie noch grün und frisch sind. Sie sind so müde und können sich nicht mehr halten, und dennoch werden sie immer und immer wieder von dem rauhen wütenden Winde gepeitscht und geschlagen. Warum denn nur? Was will der Wind?«
»Armer Johannes! du sprichst die Sprache der Menschen.«
»Laß es still werden, Windekind! ich will Ruhe und Sonnenschein!«
»Du fragst und du willst wie ein Mensch, aber dafür gibt es weder Antwort noch Erfüllung. Wenn du nicht besser fragen und wünschen lernst, so wird jener Herbsttag für dich nimmer anbrechen und du wirst sein wie die Tausende und Abertausende von Menschen, die den Wistik gesprochen haben.«
»Gibt es ihrer so viele?«
»Jawohl, Tausende! Wistik tat sehr geheimnisvoll, aber er ist dennoch ein Schwätzer, der sein Geheimnis nicht für sich behalten kann. Er hofft das Büchelchen bei den Menschen zu finden und teilt seine Weisheit einem Jeden mit, der ihm möglicherweise helfen könnte. Dadurch hat er schon Viele unglücklich gemacht. Sie glauben ihm und fangen an das Büchelchen zu suchen mit demselben Eifer, mit dem manch Einer die Kunst des Goldmachens zu ergründen sucht. Sie opfern alles dafür auf – vergessen ihre Arbeit und ihr Glück – und schließen sich mit dicken Folianten und allerhand sonderbaren Werkzeugen und Apparaten ein. Ihr Leben und ihre Gesundheit setzen sie aufs Spiel. Sie vergessen den blauen Himmel und die milde gütige Natur und auch ihre Mitmenschen. Hin und wieder finden sie schöne und nützliche Dinge, wie Goldklumpen, die sie dann aus ihren Höhlen an die Oberfläche der lichten sonnigen Erde werfen: sie selber aber kümmern sich nicht darum und lassen andere davon genießen, während sie ruhelos und fieberhaft in der Dunkelheit weiter graben und wühlen. Nicht Gold suchen sie, sondern das Büchelchen. Manche von ihnen werden durch die Arbeit ganz stumpfsinnig, vergessen ihr Ziel und ihre Wünsche und verirren sich in jämmerliche Tändeleien. Dann hat der Kobold sie kindisch gemacht. Man sieht sie kleine Türme aus Sand erbauen und zählen, wie viel Körner dazu nötig sind, bis sie umfallen. Sie machen Wasserfälle und berechnen ganz genau jede Krümmung und jede Welle, die das Wasser bilden wird; sie graben Gruben und verwenden all ihre Geduld und all ihren Scharfsinn darauf, sie recht schön glatt und ohne Steinchen herzustellen. Wenn man diese armen Verirrten in ihrer Arbeit stört und sie fragt, was sie treiben, so schütteln sie den Kopf und murmeln: »Wistik! Wistik!« Ja – an alledem ist dieser kleine garstige Kobold schuld. Hüte dich vor ihm, Johannes!«
Johannes indessen starrte vor sich hin auf die schwanken ächzenden Bäume; über seinen klaren Kinderaugen zogen sich tiefe Runzeln durch die zarte Haut. Noch niemals hatte er so ernsthaft dreingeschaut.
»Und du hast ja selber gesagt, daß das Büchelchen bestände? O, ich weiß es ganz sicher: darin steht auch etwas von dem großen Licht, das du mir nicht nennen willst.«
»Armer, armer Johannes!« sagte Windekind und über des Sturmes wildem Rauschen klang seine Stimme wie ein friedlicher Choral, der von fernher ertönte. »Habe mich lieb, habe mich lieb mit deinem ganzen Sein. In mir findest du mehr als das, was du dir wünschest. Du wirst verstehen, was du dir nicht denken kannst und du selber wirst das sein, was du zu kennen begehrst. Himmel und Erde werden deine Vertrauten, die Sterne deine Nächsten und die Unendlichkeit wird deine Wohnung sein.
Habe mich lieb, habe mich lieb, umschlinge mich wie die Hopfenranke den Baumstamm, bleibe mir treu wie das Meer seinem Boden – denn nur in mir ist all deine Ruhe, Johannes!«
Windekinds Worte verhallten; allein es war als klänge der Choral noch fort. Aus weiten Fernen schien er heranzuschweben, feierlich und gleichmäßig dem Rasen und Toben des Windes trotzend, friedlich wie das Mondenlicht, das durch die jagenden Wolken schimmerte.
Windekind breitete die Arme aus und Johannes schlief an seiner Brust, von dem blauen Mäntelchen freundlich beschirmt.
In der Nacht aber erwachte er. Plötzlich und unmerklich hatte sich die Stille auf die Erde herabgesenkt, war der Mond hinter dem Horizont verschwunden. Regungslos hing das erschöpfte Laub – schweigende Finsternis erfüllte den Wald.
Da kehrten die Fragen in rascher und gespenstischer Folge in den Kopf des kleinen Johannes zurück und trieben das noch gar junge Vertrauen vor sich her. Warum waren die Menschen so? Warum mußte er sie verlassen? Warum ihre Liebe verlieren? Warum mußte es Winter werden? Warum mußten die Blätter fallen und die Blumen sterben? Warum? Warum?
Da fingen tief unten im Gestrüpp die blauen Lichtlein wiederum zu tanzen an. Sie kamen und gingen. Gespannt starrte Johannes ihnen nach. Er sah das große klare Lichtlein auf dem dunklen Baumstumpf erglänzen. Windekind schlief fest und ruhig.
»Noch eine Frage!« dachte Johannes, während er unter dem blauen Mäntelchen wegschlüpfte.
»Bist du da schon wieder?« sagte Wistik und nickte ihm herzlich zu. »Das freut mich sehr. Wo ist dein Freund?«
»Dort drüben. Ich wollte dich bloß noch Eines fragen. Willst du mir meine Frage beantworten?«
»Du bist bei den Menschen gewesen, nicht wahr? – ist es dir um mein Geheimnis zu tun?«
»Wer wird jenes Büchelchen finden, Wistik?«
»Ja, ja, das ist es! das ist es! – Willst du mir helfen, wenn ich es dir sage?«
»Wenn ich kann, sicherlich.«
»So höre denn, Johannes!« Wistik sperrte die Augen erstaunlich weit auf und zog die Brauen noch höher hinauf als sonst. Darauf flüsterte er hinter der vorgehaltenen Hand: »Menschen haben den goldenen Schrein, Elfen haben das goldene Schlüsselein, Elfenfeind findet es nicht, Menschenfreund nur vermag ihn zu öffnen. Zur Lenznacht ist's die rechte Zeit und Rotkehlchen weiß den Weg.«
»Ist das wahr? ist das wahr?« flüsterte Johannes; während er seines Schlüsseleins gedachte.
»Ja«, sagte Wistik.
»Warum hat es denn noch niemand gefunden? So viele Menschen suchen doch danach.«
»Ich habe keinem einzigen Menschen gesagt, was ich dir anvertraut habe. Noch niemals bin ich einem Elfenfreund begegnet.«
»Ich habe es, Wistik! ich kann dir helfen!« Und jauchzend klatschte Johannes in die Hände. »Ich werde Windekind darum bitten.«
Und fort flog er über Moos und dürre Blätter. Doch immer wieder strauchelte er und sein Gang war schwer. Dicke Zweige knackten unter seinem Fuß, während sich sonst nicht das kleinste Hälmchen neigte.
Da war das dichte Farrenkraut, unter dem sie geschlafen hatten – es erschien ihm gar niedrig.
»Windekind!« rief er. Allein er erschrak vor dem Laut seiner eigenen Stimme.
»Windekind!« – Das klang wie eine Menschenstimme. Ein scheuer Nachtvogel flog kreischend auf.
Unter dem Farrenkraut war alles leer. – Johannes sah nichts.
Die blauen Lichtlein waren verschwunden: um ihn her war es kalt und undurchdringlich dunkel. Über sich sah er die schwarzen Schatten der Baumwipfel, die sich vom Sternenhimmel abhoben.
Noch einmal rief er. Dann wagte er es nicht mehr.
In dieser Stille war seine Stimme Entweihung und Windekinds Name klang wie ein Hohn.
Da fiel der arme kleine Johannes nieder und schluchzte in verzweiflungsvoller Reue.