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Am heißen Nachmittag legten sich die Kirmesleute schlafen, überall lagen sie umher im Schatten der Wagen, auf Stroh oder Lumpen, in häßlichen, plumpen Haltungen, und schnarchten. Aber die Kinder blieben wach, und allenthalben ward Weinen und Schreien hörbar.
Niedergeschlagen irrte Johannes umher. Sich zwischen diese Menschen zu legen und zu schlafen, so wie Markus es tat, das war ihm nicht möglich. Es roch überall so schlecht, und außerdem fürchtete er sich vor Ungeziefer. Ob er ein wenig spazieren ging, in dem Stadtpark oder auf den sonnigen Wiesen? Aber er schämte sich fortzulaufen, und konnte doch nicht ruhig dableiben. Wieder überkam ihn das entsetzliche Gefühl der Ohnmacht angesichts seiner großen Aufgabe. Er war zu schwach, zu empfindsam.
Mit einer fast schmerzenden Sehnsucht dachte er an die kühlen, ruhigen, vornehmen Zimmer in den städtischen Häusern, in denen die Möbel von sauberen Dienstmädchen abgestaubt wurden. Er dachte auch an Tante Serena und an ihr schönes altes Haus und den großen schattenreichen Garten, in dem die Himbeeren nun sicherlich schon reif waren.
Doch seht, da gelangte er, während er mißmutig einherschlenderte, zu dem grünen Wagen und sah Marion ruhig schlafend daliegen. Sie lag auf einer rauhen, gelb und rot gestreiften Pferdedecke, und ihr magerer Hals und ihre dünnen Ärmchen waren entblößt. Sie schlief ganz ruhig, so daß man nicht recht wußte, ob sie am Ende wachend daläge, mit geschlossenen Augen, die Knie hochgezogen, das Gesicht auf beide Hände gestützt.
Dicht neben ihr hockte das Äffchen in der grellen Sonne und spielte in behaglicher Gemütsruhe mit einer Kokusnußschale. Da ward Johannes gerührt und setzte sich nieder und lehnte sich gegen das Rad des Wagens. Er blickte das reizende Mädchen an und dachte über ihr unstätes Wanderleben nach. Und vergaß seines eigenen Kummers. Und langsam wandelte sich seine tiefe Verzagtheit in eine zärtliche Wehmut voller Mitleid. In seinem Innern wurden Worte geboren, die er sorgfältig festhielt. Er dachte an einen Falter, den er einst über den Strand hatte seewärts fliegen sehen und flüsterte, indem er an Marion dachte, leise vor sich hin:
»Über See ein weißer Falter flog,
»Die Sonne ihn fort von der Küste zog,
»Nun muß er flattern mit allen Winden,
»Kann Ruhe nicht finden.«
Und während er die letzten Worte wiederholte, wurde er sehr gerührt und fühlte, wie ihm die Tränen über die Wangen rannen. Er wiederholte die Verse wieder und wieder und machte neue dazu, bis er sich gänzlich in dies süße Spiel verlor.
So schwand der Sommernachmittag langsam dahin, und Johannes suchte in dem Schleifwagen nach Papier und Bleistift, um niederzuschreiben, was ihm in den Sinn gekommen war. Er fürchtete, daß er es sonst wieder vergessen könne.
»Was machst du da?« fragte Marion erwachend, »zeichnest du mich?«
»Ich mache Verse«, sagte Johannes gewichtig.
Marion mußte das Gedicht lesen, und als sie es gelesen hatte, wollte sie es singen. Sie holte eine Zither aus dem Wagen und begann, leise vor sich hinsummend, Akkorde zu suchen. Johannes saß in gespannter Erwartung da.
Endlich hatte Marion eine wehmütige und zugleich feurige Weise gefunden, die Johannes so erklang, als kenne er sie von altersher; und dann sangen sie zusammen das Lied:
»Über See ein weißer Falter flog,
»Die Sonne ihn fort von der Küste zog,
»Nun muß er flattern mit allen Winden,
»Kann Ruhe nicht finden.
»O Falter, kleiner Falter,
»Suchst du überall nach dem grünen Tal,
»Kehrst du nimmer, ach nimmer,
»Zu den Dünenhöh'n, wo die Blumen stehn?
»Der Sonne zu, von der Küste fort,
»Seewärts getrieben von wilden Winden,
»Muß er flattern fort und fort,
»Darf Ruhe nicht finden.
»O Falter, lieber Falter,
»Ob durch Himmel blau, ob durch Wolken grau,
»Findest nimmer, ach nimmer,
»Zu den Dünenhöh'n, wo die Rosen steh'n.«
Die Kinder sangen es einmal und zweimal und dreimal, denn einige der Menschen waren aufgewacht und kamen nun herbei und lauschten und baten sie, es zu wiederholen.
Und wie in einer plötzlichen Erleuchtung seines Verstandes und seines Gemütes begriff Johannes, daß er etwas Gutes getan. Die armen, schmutzigen, verwahrlosten Menschen und Kinder lauschten. Er hatte das Gedicht gemacht, und es hatte ihm Glück gegeben. Jetzt schien es auch den traurigen Menschen ein wenig Freude zu machen. Und das stimmte ihn froh. Es war zwar nicht viel, aber er konnte doch etwas.
Der Abend kam, die Luft ward kühler, ein duftender Wind strich von der See her über die grasbewachsenen Polder, und über den Dünen begann langsam ein mattroter Nebel aufzusteigen.
Der breite Kanal, an dem das Lager aufgeschlagen war, spiegelte sich glitzernd im Abendlicht: ringsumher ward es lärmender, und auch von der Stadt klangen schrillere Geräusche von Drehorgeln und Wagengerassel herüber.
Die Kirmesleute bildeten einen Kreis und, begierig noch mehr zu hören, baten sie Markus, etwas zu spielen. Markus nahm eine Harmonika zur Hand und spielte allerlei Weisen. Aufmerksam lauschten Männer und Frauen, niederkauernd oder lang hingestreckt, die Ellenbogen auf den Boden und das Kinn in die Hände gestützt. Und wenn die Kinder, ohne die Musik zu beachten, mit irgend einer Bitte zu den Eltern kamen, wurde ihnen ungeduldig gewehrt.
Als Markus aufhörte, rief ein Mann mit heiserer Stimme: »Nur los, ihr Leute, singt jetzt auch mal was! Das Lied von den armen Teufeln zum Beispiel.«
Und gehorsam sangen sie gleich alle, während Markus die Melodie angab, das folgende Lied mit:
»Wir Leutchen ohne Heim und Land,
»Wir sind gar arme Käuze,
»Nur wer mehr Geld hat als Verstand,
»Genießt des Lebens Reize!
»Wir springen kreuz, wir springen quer,
»Wir müssen Künste machen,
»Wir tanzen, weil der Magen leer,
»Wer Geld hat, der kann lachen.«
»Einst stand der König obenan,
»Von wegen unsrer Sünden,
»Jetzt ist er nur ein nicht'ger Mann,
»Hat seinen Meister funden.
»Denn tut mit Kron' und Szepter wer
»Auch hoheitsvoll stolzieren,
»Und springt er kreuz und springt er quer,
»Das Geld wird stets regieren.«
»Es kommandiert der General,
»Er lehrt die Menschen morden,
»Die tapferen Helden allemal
»Sind gar gehorsam worden.
»Und doch hat all die mächt'ge Wehr
»Kein Jota mehr zu sagen,
»Springt man auch kreuz, springt man auch quer,
»Geld herrscht seit ew'gen Tagen.«
»Ein Vaterland? ein eigen Dach?
»Wo würd' uns das wohl winken?
»Wir zeigen Künste, Tag für Tag,
»Dort, wo die Groschen blinken;
»Und brechen wir zuletzt den Hals,
»Dann soll'n auch wir was kriegen,
»Ne Handvoll Erde allenfalls,
»Ein Fleckchen, still zu liegen.«
Als das letzte Wort des Liedes verklungen war, rief die heisere Stimme:
»Ihr könntet ruhig dazu sagen, daß die Kirchhöfe alle zehn Jahre geräumt werden müssen.«
»Alle zwanzig«, rief da ein anderer.
»Kinder«, sagte Markus, während er sein Instrument einen Augenblick behutsam beiseite stellte, »Kinder, jetzt hört mir mal aufmerksam zu.«
»Vom Geld haben wir gesungen und von den Menschen, die mehr Geld haben als Verstand. Aber habt ihr denn mehr Verstand als Geld? Und welches von beiden ist euch lieber?«
»Gib mir nur Geld her!« schrie die heisere Stimme.
»Und mir auch!« fügte eine andere hinzu.
»Dann gebe ich dem Affen da noch lieber das Geld. Der wirft es ins Wasser und besauft sich nicht,« sagte Markus.
»Kinder«, fuhr er fort, und Johannes hörte wie allmählich der warme Klang in seine Stimme kam, der so tief erschütterte und zu atemlosem Hören zwang – »wo Geld ist ohne Verstand, da ist Unheil, und wo Verstand ist, da ist Segen. Denn die Weisheit wird des Geldes nicht entraten.
»Ihr seid wahrlich arme Schelme und werdet mißhandelt und betrogen.
»Aber niemand erhält, was ihm nicht zukommt. Ihr sollt also darob nicht rasen und fluchen.
»Der Weise ist stark und kann nicht mißhandelt werden. Der Weise ist schlau und kann nicht betrogen werden. Der Weise ist gut und bestiehlt nicht, noch läßt er sich bestehlen.
»Ihr seid schwach und unklug, darum werdet ihr betrogen.
»Aber ihr selbst könnt nichts dafür, ihr Armen, das weiß ich wohl. Denn die Kinder leiden um dessentwillen, was die Eltern und die Großeltern getan.
»Dennoch erhält niemand das, was ihm nicht zukommt.
»Wir büßen für unsere Eltern und Großeltern. Nennt das nicht unrecht, denn der Weise hat seine Eltern lieb und will gerne gut machen, was sie verbrochen.
»Und wir alle können das gut machen, worin unsere Eltern gefehlt. Ja, an unseren Eltern können wir es gut machen, auch dann noch, wenn sie gestorben sind.
»Das Grab ist keine Falle, ihr Kinder, in der die Seelenvögel gefangen werden. Vater und Mutter leben noch und gedeihen durch unsere Fürsorge.
»So sorget denn, daß eure Kinder gut sind, denn sie werden euch nötig sein. Ja, denen, die als Dummköpfe, als Dirnen und als Säufer sterben, werden die guten Kinder am meisten nötig sein.
»Und keiner, der der Buße der guten Kinder enträt, wird sich darob beschweren, und da ist auch keiner, der durch ihre Hilfe nicht weiser werden könnte.
»Wenn zwei Reisende durch Nacht und Kälte irren und der eine hat Holz und der andere hat Streichhölzer und sie verstehen einander nicht, dann werden sie dennoch beide erfrieren und sich verirren.
»Und wenn zwei Schiffbrüchige nichts anderes haben als eine einzige Kokusnuß, und der eine nimmt die Milch und der andere nimmt das Fleisch, dann werden sie beide umkommen, der eine vor Hunger und der andere vor Durst.
»So ist es auch mit der Weisheit – und kein Mensch auf Erden kann allein weise werden.«
Markus' Stimme klang laut und klar, und es war totenstill auf dem Rasen, auf dem all die zerlumpten Menschen lagerten. Eine Weile schwieg er, und Johannes weinte still vor sich hin vor Rührung, obgleich er gar nicht so recht begriff, was das Gesagte eigentlich zu bedeuten hatte.
Endlich erklang wieder die heisere Stimme – aber leiser jetzt:
»Ich will verdammt 'ne Gurke sein, wenn ich ein Wort davon verstehe, aber es wird wohl wahr sein.«
»Kinder«, sagte Markus, »ihr braucht mich nicht zu verstehen, und ihr braucht mir nicht zu glauben. Aber wollt ihr um meinetwillen das, was ich euch soeben gesagt habe, Wort für Wort behalten und es eure Kinder lehren? Dann will ich euch danken.«
Und leise ließ sich hier und dort eine Stimme vernehmen – »Ja – jawohl!«
»Spielst du uns dann auch noch etwas?« fragte ein Mädchen mit großen dunklen Augen.
»Ja, ich werde spielen, und du darfst tanzen«, sagte Markus mit freundlichem Lächeln.
Da nahm er einem der Musikanten die Geige aus der Hand und begann seine schönste Tanzmusik zu spielen, so schön, daß die Spaziergänger auf der Landstraße stehen blieben, um zu lauschen. Ja, ein Schöffe sagte sogar zu seinem Freunde, dem Notar, mit dem er des öfteren Duette für Klavier und Geige spielte, daß unter den fahrenden Leuten wohl ein echter Zigeuner sein müsse, denn nur ein solcher vermöchte so zu spielen.
Und das Völkchen tanzte in einem großen Kreise. Die Männer faßten die Mädchen mit dem rechten Arm unter die Achsel und drehten sich so im Kreise herum mit linkischem ungeschicktem Schwung, ohne aufzuhören, bis ihnen der Schweiß über die roten, ernsten Gesichter rann. Die Kinder und die älteren Leute saßen ringsumher. Es wurde auch zwischendurch gesungen und viel gelacht, und man unterhielt sich königlich.
Allein mitten in der Freude kamen plötzlich ein paar Kinder atemlos dahergerannt. Das größte war ein Mädchen von ungefähr acht Jahren mit einem schmutzigen, von weißlich-blonden Locken umrahmten Engelsgesichtchen; sie trug eine alte Jungenshose, die ihr, durch ein paar Hosenträger notdürftig emporgehalten, bis auf die bloßen Füßchen herabhing, so daß sie beim raschen Laufen fast darüber stolperte. »Pickelhauben!« rief das größte der beiden Mädchen gänzlich außer Atem, und das zweite ihr nach: »Pickelhauben!«
Dies Wort, das Johannes kaum im vollen Umfang seiner Gewichtigkeit begriffen hatte, übte auf diese Menschen etwa dieselbe Wirkung aus, wie ein Adler in hohen Lüften auf einen Schwarm Meisen oder Stare.
Zwar war die Anwesenheit von einem oder zwei Feldhütern auf dem Wege vor dem Lager nichts Ungewöhnliches. Aber jetzt kamen sie in größerer Zahl, und allen voran schritt ein vornehm aussehender Beamter im schwarzen Rock und mit einem Kneifer auf der Nase – am Ende war es gar der Bürgermeister! – und mit jenem kriegerischen Schritt, der ein erhöhtes Pflichtbewußtsein andeutete, infolge der Erwartung, daß hier energisch aufgetreten werden müsse. Die Musik und das Lachen verstummten, man hörte zu tanzen auf, und ein jeder blickte dahin, wo die gemeinschaftliche Gefahr drohte, und legte sich ängstlich die Frage vor, wer wohl die größte Chance habe, das Schlachtopfer zu werden, oder aber erwog die Möglichkeit eines völlig ungefährlichen Verlaufs dieser Begebenheit. Nur Johannes dachte sich nichts Besonderes dabei, und vermochte den Grund zu diesem gespannten Interesse nicht zu erraten.
Indessen – nachdem die Feldhüter und der mutmaßliche Bürgermeister vor dem Eingang zum Lager eine Weile Halt gemacht und Erkundigungen eingezogen hatten – kamen sie schnurstracks auf Marions Wagen zu. Da plötzlich gewahrten sie Marion und Johannes, und Johannes ward es mit einem Schlage klar, daß das alles ihm gelte. Es war eine unangenehme Empfindung, etwa wie die Furcht vor der Schande. Und trotzdem er sich einer Schuld nicht bewußt war, so empfand er doch ganz deutlich, daß er etwas Schlechtes getan haben müsse, und daß nun das Gericht, das Gericht kam, um ihn zu holen und zu bestrafen.
»Donnerwetter, Hanni – nun wird's dir aber schlecht gehen«, sagte Marion, »sie hat dich also doch gesehen.«
»Wer?« fragte Johannes, bleich und verwirrt und nichts von alledem begreifend.
»Na, die verfluchte Tante natürlich.«
Johannes hörte seinen Namen nennen und wie man ihn aufforderte, mitzukommen. Während er ängstlich und zögernd schwieg, begann Marions Schwester mit scharfer Stimme zu kreischen. Allein die Feldhüter taten, als hörten sie das gar nicht, und der Brigadier sagte mit würdevoller, ermahnender Stimme:
»Junger Mann, Sie sind noch nicht großjährig. Sie müssen den Befehlen Ihrer Familie Folge leisten. Sie sind hier nicht unter Ihresgleichen. Ihre Tante ist eine sehr edle und angesehene Dame. Sie haben es dort viel besser als hier. Ihre Tante ist reich, und Sie müssen tun, was sie verlangt.«
In seiner Verwirrung sah Johannes sich nach Markus um und fragte ihn: »Was soll ich tun?«
Allein Markus blickte ihn ernsthaft an und sagte, ohne ihm den geringsten Trost zu gewähren:
»Glaube nur ja nicht, Johannes, daß ich dir jedesmal sagen werde, was du tun sollst. Das würde dich nicht klüger machen. Tue, was dich gut dünkt, mein Junge, und fürchte dich nicht.«
»Komm du nur, Freundchen, hier gibt's nicht viel zu wählen«, sagte darauf der würdige Herr, »du darfst hier ganz einfach nicht bleiben, und damit basta.«
Als Johannes ihm folgen wollte, fiel Marion ihm um den Hals und begann zu weinen. Das Kirmesvolk schalt und murrte.
Allein Johannes weinte nicht. Er dachte an Tante Serenas schönes Haus und das kühle geräumige Schlafzimmer mit dem großen Bett und den grünen Vorhängen und der dicken Bettquaste.
»Sei tapfer, Marion«, sagte er, »ich werde dich nicht vergessen. Auf Wiedersehen!«
Und so ging er mit den drei Beamten nach »Vredebest«, während er sich noch oftmals umschaute, um der weinenden Marion zuzuwinken.
»Nun, nun, junger Herr«, sagte Daatje, das alte Dienstmädchen, während sie die warme Bettflasche zwischen die frischen leinenen Laken legte, »da sind Sie, weiß Gott, noch gut davon gekommen.«
»Das ist soviel wie aus dem Fegefeuer ins Paradies, von dem schmutzigen Volk zu unserer Dame. Das ist wohl wahrhaftig ein Glück für Sie, ja, ja!«
Feuchte Laken sind ungesund, sogar im heißesten Sommer, und Daatje war von ihrer Herrin stets zur größten Sorgfalt für ihre Gäste angehalten worden.
Daatje trug eine schneeweiße Haube und ein lilafarbenes Kattunkleid. Sie hatte ein runzliges Gesicht und noch viel runzligere Arme und Hände. Sie war eine erstaunlich lange Zeit, vielleicht wohl schon vierzig Jahre, bei Tante Serena in Dienst gewesen und ließ nicht nach, Johannes in allen Tonarten klar zu machen, was für ein vortreffliches Wesen seine Tante sei. Immer liebenswürdig und freundlich, immer hilfsbereit, ein Segen für arme Menschen, eine Zufluchtsstätte für einen jeden aus der Umgegend, von allen, die sie kannten, auf Händen getragen und fromm wie ein Engel.
»Ein veränderter Mensch«, sagte Daatje, »ja, ja, so recht ein veränderter Mensch. Man kann fragen, wen man will, so wie sie leben nicht viele.«
Johannes begriff, daß in diesem Fall »verändert« »sehr gut« bedeutete. Nach Daatjes Ansicht war der natürliche Mensch nicht gut, und es mußte sich ein jeder erst »verändern«, ehe er etwas taugte.
Lange Zeit, bevor er einschlief, dachte Johannes darüber nach, während er sich in seinem großen stillen Schlafgemach umschaute.
Knisternd brannte ein nachdenkliches Nachtlichtchen in einem Glase, das halb mit Öl, halb mit Wasser gefüllt war, hinter milchweißen undurchsichtigen kleinen Scheiben, auf denen infolge ihrer ungleichen Dicke seltsame traumartige Landschaften erschienen, sobald die kleine Flamme angezündet wurde.
Das Zimmer roch altfränkisch-muffig, und die Möbel waren von einer altmodischen, steifen Vornehmheit. In die grünen Bettvorhänge war ein eigentümliches Muster eingewebt, wie halbgeöffnete Augen – beklemmend anzusehen. Die große Bettquaste hing still herab, unwirsch und würdevoll wie der Schwanz eines Löwen, der oben auf dem Betthimmel die Wache hielt.
Johannes fühlte sich zwar sehr behaglich, aber um ihn her war etwas Gespenstisches, das ihm nicht zusagte. Der schwere Leinenschrank aus dunklem Holz schien sich vollkommen einig zu sein mit der großen Kommode mit Messinghandgriffen, auf der unter einer Glasglocke ein Körbchen mit Wachsfrüchten stand. Was die Gemälde darstellten, konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen, aber sie schienen auch in alles eingeweiht zu sein, genau so wie der Nachttisch mit dem gehäkelten Deckchen, und das riesengroße Bett.
Und jede halbe Stunde erklang es »Kuckuck! Kuckuck!« durch das stille Haus, gleich als wären sie dort im Korridor und im Hausflur auch über alles orientiert.
Nur der kleine Kerl, der dort zwischen den gewärmten Laken mit reinem Unterzeug und in einem viel zu großen Nachthemd wachend um sich schaute, hatte mit alledem nichts zu schaffen. Er bildete hier zwischen all diesen gediegenen, wichtigen, stattlichen Gegenständen eine gar komische Figur! Er fühlte, daß er auf höfliche Weise zum Narren gehalten wurde. Es blieb doch noch sehr abzuwarten, ob man ihn nach seinen mehr oder minder unpassenden Abenteuern jemals des allgemeinen Vertrauens würdig erachten würde. Das ganze Haus beobachtete allem Anschein nach eine, wenn auch nicht gerade feindliche, so doch äußerst reservierte Haltung. Er behielt die Bettquaste im Auge und war immerfort darauf bedacht, den Schwanz des Löwen wedeln zu sehen. Allerdings müsse er hierfür sicherlich erst »verändert« werden, genau so wie Tante.
Allein mit dem erwachenden Tage gestaltete sich das neue Leben über alle Erwartung angenehm. Tante Serena saß am Frühstückstisch, auf dem Tee, frische Brötchen, Korinthenbrot und schwarzes Roggenbrot ihn erwarteten. Auf den von der Sonne beschienenen Pfeilertischen standen blaue japanische Vasen mit großen runden Sträußen aus Rosen, Reseda und bunten Ziergräsern. Die Glastüren waren weit geöffnet, und der würzige Geruch von frischgemähtem Grase strömte aus dem Garten in das Zimmer, in dem es schon nach Rosen, Reseda und aromatischem Tee köstlich duftete.
Die Tante sprach weder von dem gestrigen Tage noch von dem Tode seines Vaters. Sie war voll der gütigsten Fürsorge und fragte Johannes freundlich, aber dennoch in sehr bestimmtem Ton nach allem, was er in der Schule gelernt und wer ihm Religionsunterricht erteilt habe. Jetzt sei Ferienzeit, und er dürfe erst noch ein Weilchen nur seinem Vergnügen leben, dann aber würden die Schule und der Religionsunterricht wiederum in ihre Rechte treten.
Bis zu dieser Stunde hatte Johannes von seinem feierlichen Vorhaben, die Menschen höher zu schätzen, freundlich mit ihnen zusammen zu leben und ihnen wohlgesinnt zu sein, nur noch wenig Freude gehabt. Diesmal aber ward es ihm leicht. Das schöne, behagliche Haus, der Sonnenschein, die aromatischen Düfte, die Blumen, die frischen Brötchen und der Tee, das alles stimmte ihn freundlich, und er war schon auf dem besten Wege, Tante in dem Lichte von Daatjes Verherrlichung zu sehen. Voller Zutrauen blickte er in die blitzenden Gläser ihrer Brille und half ihr den großen Arbeitskorb tragen, aus dem sie die vielfarbigen Wollfäden zum Vorschein holte, die sie zu ihren sehr umfangreichen und langwierigen Tapisseriearbeiten brauchte.
Aber der Garten, der Garten! Das war das Wunder, die Gnade seines neuen Lebens. Als er, bis zum zweiten Frühstück von der Tante entlassen, wie ein junger Hund hinausrannte und all die kleinen Pfade, Alleen, Beete, Lauben, Hügel und den kleinen Teich entdeckte, da fühlte er sich beinahe in Windekinds Reich zurückversetzt. Da war eine schattenreiche Lindenallee, die zwei große Windungen machte und dadurch sehr, sehr lang erschien. Da waren kleine Wege zwischen üppigen, jetzt bereits aufgeblühten Fliederbüschen und Jasminsträuchern, die mit weißen und farbigen Blumen gänzlich überdeckt waren. Da war ein Hügel mit einer Bank und einer herrlichen Aussicht nach Westen über die benachbarten Blumistereien. Denn Tante liebte das Schauspiel der untergehenden Sonne. Da war ein Beet mit Rosen, stark duftend und groß wie eine Hand. Da waren hochgewachsene Mohnblumen mit rauhem Stengel, tiefblauer Rittersporn, lilafarbene Akeleien, hohe Stockrosen, die wie aus Papier gefaltet erschienen und seltsam dufteten. Da waren lange Reihen Saxifraginen, ein paar große dunkle Buchen und allüberall, wie köstliche Überraschungen, Obstbäume: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Nüsse, Mispeln, Kornellen und Haselnüsse, die zwischen den nicht Obst tragenden Bäumen verstreut lagen.
Ei, jetzt schien ihm die Welt doch gar so übel nicht. Ein vollkommenes menschliches Wesen zu vollkommener menschlicher Bewunderung erschaffen, eine Menschenwohnung voller Luxus und Bequemlichkeit und dicht daneben eine liebliche Nachbildung von Windekinds Reich. Und dennoch Pflichterfüllung und keinerlei Abweichung von der vorgeschriebenen Bahn. Wahrlich, Johannes hatte das Leben mit allzu düsteren Augen angesehen. Das war beschämend.
Gegen zwölf Uhr hörte man Daatje in der Küche sehr geräuschvoll den Kaffee mahlen, und Johannes wagte es für einen Augenblick ihre Domäne zu betreten, in der ringsum Kupfergeräte blitzten und funkelten. Über einem kleinen Hof hingen an der dicht mit Efeu bewachsenen Mauer viel Vogelkäfige, darunter einer mit einer Lerche, die, den Schnabel emporgerichtet, auf einen kleinen Grashaufen starrte. Oben in dem Käfig war ein weißes Tuch ausgespannt.
»Das ist für seinen Kopf«, sagte Daatje, »für wenn er es vielleicht mal vergessen sollte, daß er in einem Käfig sitzt und in die Luft fliegen will.«
Daneben hingen Finken in sehr vielen kleinen Käfigen. Sie hüpften immerfort hin und her, hin und her, von einem Stöckchen auf das andere. Mehr Platz hatten sie nicht. Und dabei riefen sie »pink, pink«. Hin und wieder schlug einer laut. Und so ging das während des ganzen Tages.
»Die sind blind«, sagte Daatje, »dann singen sie schöner.«
»Warum?« fragte Johannes.
»Aber Menschenskind – dann können sie doch nicht sehen, ob es Morgen oder Abend ist, und dann singen sie eben immerzu.«
»Sind Sie auch verändert, Daatje?« fragte Johannes.
»Jawohl, junger Herr, ich werde der Gnade teilhaftig. Ich weiß, wohin ich einst komme. Und das können nur wenige von sich sagen.«
»Wer denn zum Beispiel?«
»Na, ich und unser Fräulein und Pfarrer Kraalboom.«
»Tut ein veränderter Mensch manchmal auch noch etwas Böses?«
»Etwas Böses – na, das ist mir auch 'ne schöne Frage. Nein, beileibe nicht. Ich kann nichts Böses mehr tun, und wenn Sie sich auch auf den Kopf stellen und ihre Füße ausruhen wollten. Aber laufen Sie mir jetzt doch nicht mit den schmutzigen Stiefeln durch die Küche. Der Fußkratzer steht draußen. Bitte sehr. Dazu ist mir meine Küche denn doch zu gut.«
Das zweite Frühstück war nicht weniger einladend. Frisches Weißbrot, Rauchfleisch, Kuchen und Käse und köstlicher Kaffee, der durch's ganze Haus duftete. Tante sprach über den Kirchgang, über einen zu wählenden Beruf, über brav und rein leben. Und Johannes vermied jeglichen Widerspruch und war geneigt, alles gut zu heißen.
Des Mittags, während er in der schattenreichen Lindenallee saß und träumte, kam Tante mit einem Tablett, auf dem neben einem kleinen Kuchen ein Gläschen Weichselwein stand.
Um halb fünf kam das Mittagessen. Daatje war eine vorzügliche Köchin, und alle Gerichte, die in geringer Abwechslung stets an bestimmten Tagen wiederkehrten, waren ausgezeichnet zubereitet. Nudelsuppe mit Klößen, Hackbraten mit Blumenkohl und Griesmehlpudding mit Fruchtsauce: das war das erste Mahl, das sich späterhin des öfteren wiederholte. Tante betete und dankte, und Johannes tat so etwa desgleichen, die Augen niedergeschlagen, den Kopf leicht geneigt und zum Schein die Lippen bewegend.
An einem langen dämmerigen Abend saßen Tante und Johannes einander gegenüber, jeder vor einem der beiden kleinen »Spione«. Tante war sparsam, und da die Straßenlaterne ihren Schein in das Zimmer warf, begann sie ihr eigenes Öl nicht allzu früh zu brennen. Nur das Lichtchen unter der Teekanne schimmerte bescheiden hinter kleinen Scheiben aus Milchglas, auf dem ähnliche Landschaften zu sehen waren wie auf dem Nachtlicht.
In vollkommener Gemütsruhe saß Tante in ihrem Sessel, die Hände übereinander gelegt, hin und wieder in langen Zwischenräumen ein Wörtchen sagend, bis Daatje mit der Frage eintrat: ob das Fräulein denn noch nicht Abend machen wolle? Dabei zog Daatje die Patentöllampe auf, die ein Geräusch machte, als würde sie erwürgt. Eine Viertelstunde später wurde sie angezündet, und sobald der gemütliche runde Lichtschein auf der roten Tischdecke sichtbar ward, sagte Tante Serena wohlzufrieden: »Da ist die liebe Lampe wieder.«
Um halb zehn kam ein Butterbrot und ein Glas Milch für Johannes, Daatje stand schon mit der Kerze bereit, und oben warteten das Nachtlicht, die Kommode mit den Wachsfrüchten, die grünen Bettvorhänge und die imposante Bettquaste. Johannes entdeckte als etwas neues eine große Bibel auf seinem Nachttisch. Von seiten des Mobiliars empfand er noch immer nicht die leiseste Annäherung. Auch der Kuckuck wandte sich noch eben so ausschließlich an das stille nächtliche Haus und nahm von Johannes auch nicht die geringste Notiz. Dieser aber nahm sich das nicht mehr allzu sehr zu Herzen und schlief alsbald fest ein.
Der nächste Morgen brachte nur die eine Veränderung, daß auf dem Frühstückstisch Bibeln bereitlagen, daß Daatje eintrat, daß sie, die halbentblößten runzligen Arme verschränkt, feierlich Platz nahm, und daß Tante vorlas. Gestern war Tante von dieser Gewohnheit abgewichen, da sie nicht recht wußte, wie Johannes das wohl aufnehmen würde. Jetzt aber, nachdem sie ihn so artig und manierlich gefunden, glaubte sie ruhig damit fortfahren zu können. Es war ein Kapitel aus Jesaia, voll schauderhafter Drohungen, die Daatje sehr zu behagen schienen. Aus ihren Zügen sprach höchste Anerkennung, und ab und zu nickte sie mit dem Kopf, die Lippen fest aufeinander gepreßt und energisch durch die Nase schnaubend. Johannes erschien das alles ohne rechten Zusammenhang, und er vermochte beim besten Willen nicht aufmerksam zu bleiben. Er lauschte dem Pfeifen der Staare auf dem Dache und dem Girren einer Holztaube, die in der Buche saß.
Vor sich sah er einen Stahlstich, der eine junge Frau darstellte, wie sie, in ein langes Hemd gekleidet, mit ausgebreiteten Armen an einem steinernen Kreuz hing, das aus einem wildbewegten Meer herausragte; von oben herab leuchtete ein Lichtbündel, in das sie voller Vertrauen emporblickte. Die Unterschrift lautete: »Der Fels der Ewigkeiten«, und Johannes vertiefte sich ganz in den Gedanken, wie diese Dame dort wohl hingeraten sein mochte und, vor allem, wie sie wieder von dort wegkommen würde. Denn es war nicht anzunehmen, daß sie es in dieser unbequemen Haltung lange aushalten würde. Sicherlich keine Ewigkeiten. Und dann erschien diese Zuflucht doch wahrlich sehr kümmerlich. Es sei denn, daß mit jenem Lichtbündel etwas besseres getan werden könnte.
An derselben Wand hing zwischen unzähligen Blumen und Schmetterlingen ein in farbigen Lettern gemalter Spruch, der also lautete: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.«
Dieserhalb erwachten in Johannes unehrerbietige Gedanken, und als die Bibellektüre beendet war, fand er plötzlich den Mut zu einer Bemerkung:
»Tante Serena,« sagte er, und er fühlte, daß er errötete und daß ihm ob seines Freimutes ein wenig bang ums Herz ward, »ist es nur, weil der Herr dein Hirte ist, daß dir nichts mangelt?«
Aber die Frage sollte ihm schlecht bekommen.
Tante machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, rückte unruhig an ihrer Brille und sagte: »Lieber Johannes, ich will gern zugeben, daß ich in mancher Hinsicht unverdientermaßen reich gesegnet bin. Aber solltest du, der du solch einen guten und bescheidenen Vater gehabt hast, nicht wissen, daß es jungen Menschen nicht geziemt, über das Leben Älterer zu urteilen, deren Heimsuchungen und Segnungen ihnen fremd sind?«
Da saß nun Johannes tief beschämt und schalt sich selber einen dummen vorlauten Knaben.
Aber Daatje stand auf, und während sie langsam auf die Türe zuschritt, in leicht gebückter Haltung, und wie es ihr eigen war, die Hände in die Hüften gestemmt, sagte sie mit Nachdruck: »Soll ich Ihnen mal was sagen, Fräulein? Sie sind viel zu gut. Übergelegt müßte er werden, ganz einfach übergelegt.« Und mit diesen Worten ging sie in die Küche.
In Tante Serenas Leben gab es regelmäßig wiederkehrende Abwechslungen. Da war in erster Reihe der Kirchgang. Der bildete das große Ereignis der Woche. Und der Kirchenzettel wurde stets andächtig studiert. Dann machte die mit Seidenbändern garnierte Spitzenhaube einem Hut mit Gazeschleier Platz, und Daatje sorgte dafür, daß Gesangbuch, Mantel und Handschuhe rechtzeitig bereitlagen. Meistens ging Daatje mit; wenn nicht, dann wurde die Predigt ihr ausführlich erzählt.
Folgsam begleitete Johannes die Tante und versuchte, nicht ohne geringen Erfolg, das, was zwischen ihnen gesprochen wurde, nach Gebühr zu schätzen.
Pfarrer Kraalbooms Besuche waren nicht minder wichtig. Da sah Johannes voller Staunen, wie die sonst so würdevolle, stattliche Tante sich nicht genug tun konnte an ehrerbietiger und untertäniger Bewunderung. Sie behandelte diesen Mann, in dem Johannes kaum etwas anderes zu sehen vermochte als einen ganz gewöhnlichen freundlichen Herrn mit grauem leichtgelocktem Haar und dicken glattrasierten Backen, wie ein höheres Wesen, und der also Verehrte ließ sich das allem Anschein nach sehr gern gefallen. Das Beste, was Tante an seinem Wein, Kuchen und Likör im Hause hatte, wurde ihm vorgesetzt, und da der Pfarrer ein starker Raucher war, hatte Daatje nach jedem seiner Besuche zwischen ihrer Ehrfurcht vor dem Diener des Wortes und ihrem Abscheu vor umhergestreuter Asche und nach Tabak riechenden Vorhängen einen schweren Kampf zu kämpfen.
Einmal wöchentlich fand das Kränzchen statt, zu dem Tantes Freundinnen erschienen. Das waren lauter mehr oder minder bejahrte und ohne Ausnahme sehr reizlose Frauen, zwischen denen Tante Serena mit ihrer aufrechten Haltung und dem seinen blassen Gesicht sich sehr gut ausnahm und augenscheinlich auch als gewichtige Hauptperson galt. Es wurden Cremetörtchen und warmer Punsch herumgereicht. Zweck dieser Zusammenkünfte war die Wohltätigkeit. Man verfertigte unter lebhaften Gesprächen eine ganze Anzahl unnützer und meistens auch geschmackloser Gegenstände, wie Antimarkassen, Nadelkissen, Blumentopfhüllen, Photographierahmen aus getrockneten Blumen und dergleichen mehr. Davon wurde alsdann eine Lotterie, Tombola genannt, veranstaltet; ein jeder mußte möglichst viel Lose an den Mann bringen, und der Erlös kam abwechselnd einer kranken Witwe, einem Krankenhaus oder der Missionssache zugute.
An solchen Abenden saß Johannes schweigend in seiner Ecke mit einer der illustrierten Zeitschriften, von denen Tante einen großen Schrank voll besaß. Er lauschte den Gesprächen, indem er versuchte, etwas Edles und Gutes darin zu finden, und schaute auf die geschäftigen Finger. Man kümmerte sich nicht um ihn, und er trank seinen Punsch und aß seine Kuchen, froh, daß man ihn in Ruhe ließ. Denn er fühlte sich zu keiner der Blumen aus diesem Kranze hingezogen.
Tante Serena aber glaubte, ihre Lebenspflichten damit noch nicht erfüllt zu haben. Sie machte eifrig Besuche in allen Familien, ob reich oder arm, wo sie glaubte Gutes tun zu können. Und Johannes war hocherfreut, als sie ihm auf seine Bitte, sie doch einmal begleiten zu dürfen, herzlich antwortete: »Gewiß, mein lieber Junge, warum denn nicht?«
Voller Spannung ging Johannes das erste Mal mit. Jetzt würde er eingeweiht werden in das »Wohltun«, in das »Ein guter Mensch sein«. Dies war eine schöne Gelegenheit.
So zogen sie denn zusammen aus, und Johannes trug eine Tasche mit lauter kleinen Säckchen voller Graupen und Reis und Zucker und Erbsen. Und auch eine Flasche Wein und ein großes Stück Rauchfleisch für die Kranken.
Zuerst gingen sie zu Frau Stok, die etwa hundert Schritte von Tantes Haus entfernt auf dem »Franschepad« wohnte. Frau Stok rechnete allem Anschein nach auf solche Besuche und war äußerst redselig. Ihren Worten zufolge hätte man meinen sollen, daß es auf der ganzen Welt kein edleres Wesen gäbe als Tante Serena, und kein anständigeres, dankbareres und zufriedeneres Geschöpf als Frau Stok. Auch dem Pfarrer Kraalboom wurde über alle Maßen gehuldigt.
Darauf machten sie Krankenbesuche in muffigen Kellerwohnungen, die in engen dunkeln Gäßchen gelegen waren, und überall wiederholte sich die untertänige Dankbarkeit und Zufriedenheit der Beschenkten und die einstimmige Verherrlichung der Tante Serena, so daß Johannes mehr und mehr fühlte, wie ihm die Augen feucht wurden. Die Graupen und Erbsen wurden dort zurückgelassen, wo sie am Platz zu sein schienen, ebenso wie der Wein und das Rauchfleisch.
Außerordentlich zufrieden kehrten Tante und Johannes heim. Tante erfreut über ihren fügsamen und alles anerkennenden Jungen, Johannes beglückt durch diese wohlgelungene Probe von Menschenfreundlichkeit. So würde es schon gehen. Fröhlich und guter Dinge rannte er in den Garten und verträumte den köstlichen Nachmittag zwischen den reichbeladenen Himbeersträuchern.
»Tante«, sagte Johannes, wahrend man bei Tische saß, »der arme Junge in der Achterstraat mit den kranken Augen und dem schwärenden Bein, ist das ein frommer Junge?«
»Ja, Johannes, so viel ich weiß, wohl.«
»Und ist der Herr denn auch sein Hirte?«
»Ja, Johannes.« Seiner früheren Bemerkung eingedenk, sprach Tante diese Worte sehr ernsthaft. Aber Johannes fuhr unbefangen fort, gleichsam ganz in seine eigenen Gedanken vertieft.
»Wie kommt es denn, daß ihm so vielerlei mangelt? Er hat niemals die Dünen oder die See gesehen. Er kennt nur die schmutzige kleine Kammer und geht von seinem Stuhl in sein Bett und von seinem Bett auf seinen Stuhl.«
»Der Herr weiß am besten was uns not tut, Johannes. Wenn er fromm ist und es bleibt, so wird ihm einstmals nichts mangeln.«
»Meinst du, wenn er tot ist? Ja, aber Tante, wenn ich fromm bin, so komme ich doch auch in den Himmel, nicht wahr?«
»Gewiß, Johannes.«
»Aber Tante, dann habe ich doch bei dir schon ein schönes Leben gehabt mit Himbeeren und Rosen und gutem Essen, und er hat nichts gehabt als Schmerzen und Armut, und das Ende ist das gleiche. Das würde doch nicht gerecht sein, meinst du wohl, Tante?«
»Der Herr weiß, was uns not tut, Johannes. Die am schwersten geprüft wurden, sind ihm am teuersten.«
»Dann ist es auch kein Segen, es gut zu haben, dann müssen wir uns nach Heimsuchungen und Entbehrungen sehnen.«
»Wir müssen uns abfinden mit dem, was uns beschieden ist«, sagte die Tante ein wenig beunruhigt.
»Und dennoch dankbar sein, Tante, für all das Gute und Schöne, trotzdem wir wissen, daß Heimsuchungen besser sind?«
Johannes fragte es ernsthaft, ohne den leisesten Anflug von Spott, und die Tante, erfreut, das Gespräch hiermit beenden zu können, antwortete ihm rasch:
»Jawohl, Johannes, stets dankbar sein, frage du nur den Herrn Pfarrer Kraalboom danach.« Am Abend kam Pfarrer Kraalboom, und als Tante ihm Johannes' Fragen wiederholte, gruben sich dieselben Furchen in seine Züge wie des Sonntags, wenn er auf der Kanzel stand, und sein etwas schiefer Mund sprach mit rollendem R und mit dem Ausdruck behaglicher Gewißheit das Folgende:
»Mein guter Junge, was du da in deiner kindlichen Einfalt fragst, das ist in der Tat ... in der Tat das große Problem, über das die Frommen aller Jahrhunderte gegrübelt haben und im Zweifel gewesen sind. Jawohl, gegrübelt und im Zweifel gewesen. Wir sollen dankbar das Gute genießen, das uns Gott in seiner unendlichen Barmherzigkeit zu schenken beliebt, ohne darob hochmütig zu werden. Wir sollen das Leid, das er andere erleiden läßt, nach Kräften zu lindern versuchen und die Leidenden gleichzeitig lehren, daß sie sich in das Unvermeidliche fügen. Denn er weiß, was uns allen not tut, und gibt die Kraft, das Kreuz zu tragen.«
Da meinte Johannes: »Also Sie und Tante und ich, wir haben es jetzt gut, weil uns all das Elend nicht not tut, und dem kranken Jungen tut es wohl not? Ist es so, Herr Pfarrer?«
»So ist es, mein Junge.«
»Und tun Daatje denn auch noch Entbehrungen not? Daatje sagte, daß sie verändert sei, ebenso wie Sie und Tante.«
»Daatje ist eine gute, fromme Seele, die glücklich und zufrieden ist mit dem, was ihr der Herr zugeteilt hat.«
»Ja, aber Herr Pfarrer,« fagte Johannes, und er sprach mit zitternder Stimme, »ich bin noch nicht verändert, wirklich nicht, ich bin durchaus noch nicht gut. Warum wird mir denn soviel mehr zugeteilt als Daatje? Daatje hat nur eine ganze kleine Bodenkammer, und ich wohne in der großen Fremdenstube. Die muß arbeiten und in der Küche essen, und ich esse drinnen und bekomme viel mehr gute Sachen. Und das tut nicht der liebe Gott, sondern Tante.«
Pfarrer Kraalboom trank schweigend aus seinem grünen mit Rheinwein gefüllten Kelch, während er einen scharfen Blick auf Johannes richtete. Tante schaute mit einer gewissen Spannung auf des Pfarrers Lippen, von denen alsbald das folgende Orakel ertönen und die Unsicherheit verscheuchen würde.
Als der Pfarrer wieder zu sprechen anfing, klang seine Stimme viel weniger freundlich. Er sagte: »Ich glaube, Freundchen, es war die höchste Zeit, daß deine Tante dich in ihr Haus nahm. Du bist allem Anschein nach sehr schädlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Gewöhne dich daran, zu glauben, daß ältere und klügere Menschen besser wissen, was gut für dich ist, als du selber, und sei dankbar für alles Gute, ohne allzuviel über die Dinge nachzudenken. Gott hat einen jeden an den Platz gestellt, an dem er zu seinem eigenen Heil und zu dem seiner Mitmenschen tätig sein soll.«
Mit einem tiefen Seufzer nahm Tante Serena ihre Handarbeit wieder auf. Und der Pfarrer beeilte sich, eine frische Zigarre anzuzünden und das Gespräch auf die bevorstehende Tombola zu lenken.
In jener Nacht lag Johannes lange Zeit wachend und unruhig in dem großen Bett. Seine Gedanken waren licht und feurig und sein Gemüt war in Aufruhr. So wollte es doch noch nicht recht gehen. Etwas stimmte da nicht, aber was, das wußte er nicht. Die Möbel in dem stillen nächtlichen Hause hatten jetzt ein beinahe drohendes und feindliches Aussehen. Der Kuckuck kündete Unheil.
Und gegen drei, vier Uhr, als das kleine Nachtlicht bereits erloschen war, lag er immer noch wachend da und starrte auf die Bettquaste, die, größer und dicker als gewöhnlich, in den Strahlen der ersten Morgendämmerung unheimlich sichtbar ward.
Und plötzlich ... ja, wahrhaftig, da sah er es ganz deutlich, wie sie sich bewegte: Ein leichtes Zucken, eine krampfhaft schlängelnde Bewegung wie der Schwanz einer nervösen Katze.
Und hurtig und ohne das geringste Geräusch sah er einen kleinen Schatten an der Bettquaste hinunterhuschen. War es eine Maus?
Darauf hörte er ein feines Stimmchen: »Johannes, Johannes!«
Das Stimmchen kannte er. Er blickte scharf hin, während er den Kopf aufrichtete.
Ganz unten an der Bettquaste, rittlings auf dem Griff saß Wistik, sein alter, kleiner Freund. Er sah noch genau so aus wie früher und schaute noch ebenso gewichtig drein, ja sogar mit einem ganz absonderlichen, beinahe erschreckten Ausdruck der Spannung auf dem runzligen Gesichtchen. Auf dem Kopf trug er keine Eichel mehr, sondern ein hübsches Mützchen, das in der Dämmerung schwarz erschien.
»Eine große Neuigkeit,« rief Wistik, »eine große Neuigkeit, komm sogleich mit!«
»Guten Tag, Wistik,« flüsterte Johannes, sehr zufrieden und behaglich. Er lag warm und wohlig unter den Decken und freute sich, seinen Freund wieder zu sehen. Jetzt sollten der Schrank und der Kuckuck nur ruhig böse sein. Er hatte nun wieder einen Freund.
»Soll ich mitgehen? Wie denn und wohin?«
»Hierhin, mit hinauf,« antwortete Wistik flüsternd, »ich habe etwas gefunden, über das du höchlichst erstaunt sein wirft. Gib mir nur deine Hand, es geht ausgezeichnet. Deinen Körper kannst du so lange hier liegen lassen.«
»Das würde was schönes sein,« antwortete Johannes.
Aber es ging wirklich famos. Er streckte seine Hand aus und saß im Nu neben Wistik auf der Bettquaste. Und als er hinunterschaute, sah er, wahrhaftig! seinen eigenen Körper, der ruhig schlafend dalag. Durch die kleeblattförmigen Löcher in den Fensterläden drang ein Lichtstrahl und beleuchtete seinen schlafenden Kopf. Johannes meinte, daß das ein allerliebstes Gesichtchen und daß er selber ein reizender Junge sei, so wie er dort in den Kissen lag mit dem dunklen lockigen Haar und den leichtgerunzelten Brauen.
»Glaubst du. daß ich sehr schlecht bin, Wistik?« fragt er, während er sich selber immerfort anstarrte.
»Nein,« erwiderte Wistik, »das müssen wir uns niemals weis machen lassen. Ich bin auch nicht schlecht, durchaus nicht. Darüber bin ich mir nun vollkommen klar. O, ich habe seit dem letztenmal so vielerlei entdeckt. Aber wir wollen uns selber deshalb doch nicht bewundern. Das würde töricht sein. Und nun komm, denn wir haben nur wenig Zeit.«
Gleich darauf kletterten sie zusammen an der Bettquaste hinauf. Es ging sehr bequem und gänzlich ohne Mühe, denn Johannes war klein und leicht und arbeitete sich behende an der rauhen Schnur empor. Aber in seinen Händen fühlte sie sich warm und haarig und wie lebendig an. Oben angelangt schoben sie sich durch die Falten des Betthimmels hindurch Dort aber hörte die Bettquaste noch immer nicht auf. Nein, nein, sie setzte sich weiter und weiter fort und verbreitete sich immer mehr und mehr, und dann... ja, was sie dann sahen, werde ich euch in einem folgenden Kapitel erzählen.