Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Johannes hatte eine Eigenheit, die er sich selber sehr verübelte. Seine guten Einfälle und heldenhaften Entschlüsse kamen seiner Ansicht nach meist ein wenig zu spät. Er würde wohl noch ein ganz guter Junge sein, meinte er, wenn die Dinge nur nicht gar so schnell geschähen, damit er doch wenigstens Zeit genug hätte, gründlich nachzudenken, bevor es ans Handeln ging. So geschah es auch jetzt, daß es ihm, während er Tante Serena ruhig am Frühstückstisch gegenübersaß und mit sich zu Rate ging, ob es nach dem erschütternden Geschehnis des heutigen Morgens wohl anginge, daß er sein erstes Brötchen wie gewöhnlich mit weichem Käse und sein zweites mit Kuchen belegte, plötzlich klar zu werden begann, was für ein feiger, treuloser Knabe er gewesen und wie sich jeder rechtschaffene und aufrichtige Mensch an seiner Stelle sofort erhoben und diesem schändlichen Vergehen an seinem lieben Bruder mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht widersetzt haben würde.

Ja natürlich, er hätte energisch auftreten müssen, anstatt sich so zu stellen, als ginge ihn die ganze Sache gar nichts an und ruhig und artig mit Tante den Heimweg anzutreten. Wie war es doch nur möglich, daß er das erst jetzt einsah? Er würde am Ende auch gar nichts erreicht haben. Aber das kam hier nicht in Frage. Handelte es sich nicht um seinen treuesten Freund? und hatte er den nicht feige im Stich gelassen? Saß der nicht jetzt im düstern Diebesloch, von plumpen Gendarmen unsanft behandelt, während er in Tantes behaglichem Haus ruhig seinen Kaffee trank? Das ging nicht an. Er empfand es jetzt als etwas völlig Gewisses. Und da sich Johannes, wie wir bereits bemerkt haben, nicht fürchtete zu handeln, wenn er nur erst mit seinen Gedanken im Reinen war, blieben nicht nur die Brötchen und der Käse, sondern auch der Kuchen und der Kaffee unberührt. Er erhob sich plötzlich und sagte:

»Tante Serena!«

»Was gibt's, mein Junge?«

»Ich will fort.«

Tante legte den Kopf ein wenig zurück, um ihn durch ihre Brillengläser scharf ansehen zu können, während sich ein gequälter Ausdruck über ihre Züge breitete.

»Wie meinst du das?« fragte sie endlich nach einer langen Pause.

»Ich will weg, fort von hier, ich kann es hier nicht aushalten, ich will bei meinem Freunde sein.«

»Glaubst du denn, daß der besser für dich sorgen wird als ich, Johannes?«

»Das weiß ich nicht, Tante; aber er wird ungerecht behandelt. Er ist im Recht.«

»Ich will mir nicht anmaßen,« sagte Tante stockend ... »zu sagen, daß er im Unrecht war, dazu bin ich nicht klug genug. Ich bin nur eine alte Frau und habe nicht viel gelernt, wenn ich auch viel nachgedacht und viel erlebt habe. Ich will gern eingestehen, daß ich vielleicht schuldig war, ohne es zu wissen. Ich tat mein Bestes nach bestem Wissen und Gewissen. Aber wie viel Bessere gibt es als ich, die deinen Freund im Unrecht glauben!«

»Sind sie auch besser als er?«

»Wer vermöchte das wohl zu sagen? Wie lange kennst du deinen Freund und wen unter den Menschen kennst du außer ihm? Aber wenn dein Freund auch recht hätte, was kümmert das mich? und was könnte das für mich zu bedeuten haben? Soll ich etwa mit meinen vierundsechzig Jahren alles verschenken, was ich besitze und zu fremden Leuten in Dienst gehen? Meinst du, daß ich das tun sollte, Johannes?«

Johannes wurde verlegen.

»Das sage ich ja nicht, Tante.«

»Aber was sagst du denn wohl? Was verlangst du von mir?«

Johannes schwieg.

»Sieh mal, Johannes,« fuhr Tante Serena fort, und sie schaute ihn jetzt nicht an, sondern starrte unentwegt vor sich hin, während ihre Stimme stets heiserer und heiserer klang »Ich habe niemals Kinder gehabt, und alle Menschen, die ich einst sehr lieb hatte, sind entweder fort oder tot. Mir wird ja allerdings von meinen Freunden viel Herzlichkeit erwiesen ... An meinem letzten Geburtstage habe ich vierundvierzig Besuche, zweihundertelf Karten und Briefe und wohl fünfzig Geschenke bekommen ... Aber das alles ist dennoch nicht das Rechte für mich. Das Leben eines alten Menschen ist so düster, so öde, wenn daneben nichts Junges aufwächst. Ich habe mich nie darüber beklagt, sondern mich stets gottergeben mit meinem Schicksal abgefunden. Aber als ... du ... vor ein paar Monaten ... da glaubte ich, daß es eine Gnade für mich sei, eine Fügung Gottes ...«

Tante stotterte so sehr und ihre Stimme ward so heiser, daß sie es vorzog zu schweigen und ein wenig in ihrem Arbeitskorb herumzukramen.

Johannes empfand jetzt eine große Zärtlichkeit für sie. Aber ihm war es, als sei er in diesen wenigen Augenblicken viel älter und viel klüger geworden. Ja! als sei er sogar sichtlich gewachsen, und größer jetzt als zuvor. Er sprach so würdevoll, wie er noch niemals gesprochen hatte.

»Liebe Tante, ich bin wirklich nicht undankbar. Ich finde, daß du ein guter Mensch bist. Zu mir bist du so gut gewesen, wie kaum jemand zuvor. Aber ich muß dennoch fort. Mein Gewissen sagt mir, daß ich nicht bleiben darf. Ich möchte wohl bleiben wollen, weißt du, aber ich will dennoch fort. Wenn du mir jetzt sagst: das darfst du nicht, dann kann ich nichts daran ändern. Aber ich glaube, daß ich dann doch heimlich davonlaufen werde. Es tut mir wirklich leid, wenn ich dir dadurch Verdruß bereite, aber du wirst leicht einen anderen Jungen oder ein anderes Mädchen finden, an dem du mehr Freude erlebst. Ich muß zu meinem Freunde, das sagt mir mein Gewissen. Wirst du mir nun sagen, daß ich das nicht darf, Tante?«

Tante holte ihre Handarbeit zum Vorschein und stellte sich so, als vergleiche sie aufmerksam die verschiedenfarbigen Wollfäden. Darauf sagte sie langsam:

»Nein, das werde ich nicht sagen, mein lieber Junge, wenn du wenigstens reiflich darüber nachgedacht hast.«

»Ja, Tante, das habe ich,« sagte Johannes.

Seine Ungeduld war so groß, daß er am liebsten sofort gehen wollte, um zu fragen, wohin man Markus gebracht. Danach wollte er zur Tante zurückkehren.

Ängstlich und halb widerwillig betrat er die steinernen Stufen, die zu der Polizeiwache führten, vor der die Gendarmen auf Stühlen draußen saßen und ihn, ihrer Gewohnheit gemäß, nicht allzu höflich empfingen. Der Brigadier blickte Johannes nach dessen schüchterner Frage unwirsch an, als wolle er sagen: »Was geht das dich an? und wo habe ich dich doch schon mal gesehen?«

Dennoch erfuhr Johannes, daß man den »Arrestanten« bereits wieder »auf freien Fuß« gesetzt habe. In welche Richtung er den »freien Fuß« dann fortbewegt habe, das müsse Johannes nur selber auskundschaften.

Da er für sein Interesse keinen anderen Grund anzugeben wußte, als den, daß der Arrestant sein Freund sei, und da diese Freundschaft nicht gerade dazu angetan war, sein Ansehen in den Augen der polizeilichen Macht zu erhöhen, verspürte keiner der Beamten Lust dazu, ihm irgendwie auf die Spur zu helfen. Man vermute, daß der Scherenschleifer die Jahrmärkte bereisen würde, das war alles, was er in Erfahrung brachte.

Erregt und entmutigt kehrte Johannes zur Tante zurück. Dort wurde ihm besser geholfen, denn die gute Tante hatte bereits ausfindig gemacht, daß man Markus aus der Gemeinde ausgewiesen und daß er mit seinem Wagen die Utrechtsche Fahrstraße eingeschlagen habe. Es lag schon eine große altmodische Tasche aus behaartem Leder bereit, eine Art Jagdtasche, die man umhängen konnte und die mit sauber eingewickelten Butterbroten und hartgekochten Eiern gefüllt war. Und in das Innenfutter einer Weste hatte Tante ein kleines Täschchen eingenäht, das eine Börse mit fünf Goldstücken enthielt.

»Mehr will ich dir nicht geben, Johannes, denn wenn du das aufgebraucht hast, dann wirft du schon wissen, ob du wirklich für immer wegbleiben oder ob du wiederkommen willst. Schäme dich nicht, wenn du den Wunsch haben solltest, zurückzukehren. Von mir sollst du niemals ein Wort darüber zu hören bekommen.«

»Ich werde dir auch alles auf Heller und Pfennig zurückgeben, Tante, wenn ich es nur erst verdient habe.« Dies war ihm völlig ernst, aber eine bestimmte Vorstellung von dieser Möglichkeit hatte er ebenso wenig wie die Tante.

Johannes lief noch rasch in den Garten, um all seinen teuren Fleckchen, den heimlichen versteckten Pfaden und den Blumen Lebewohl zu sagen. Schnell und verstohlen, um nicht gesehen zu werden, eilte er an der Küche entlang, wo Daatje unter frommem Gesang geräuschvoll Spinat hackte. Darauf umarmte er Tante Serena zum ersten- und zum letztenmal im Hausflur. »Kuckuck, Kuckuck!« klang es, als die Uhr zwei schlug, höhnend und triumphierend von der oberen Treppe. Dann schloß sich die gediegene grün gestrichene Haustüre zwischen ihm und der Tante.

Das war nur für einen Augenblick quälend; alsbald ward es in Johannes' Herzen weit und fröhlich. Ein Gefühl der Freiheit, wie er es nie zuvor gekannt. Er fühlte sich beinahe erwachsen. Er hatte sich freigemacht aus weichen gefährlichen Fesseln. Er ging in die weite Welt hinein. Er würde seinen lieben Bruder wiederfinden, und er hatte eine Tasche voller Brötchen und in seiner Weste fünf Goldstücke bei sich. Die waren ihm allerdings nur geliehen. Er wollte sich das Geld verdienen und es dann der Tante wiedergeben.

Es war ein stiller, schwüler Augusttag, und voll tiefer Freude erblickte Johannes sein schönes Vaterland, wie es unter dem seinen grauen Himmel in weichem Lichte dalag: die baumbewachsenen Deiche, die dunklen und die weißen Kühe, die braunen Schiffe auf den spiegelglatten Kanälen. Er lief eilig und fragte überall nach Markus, dem Scherenschleifer. Vor einem Wirtshaus, unweit der Stadt, saßen drei junge Herren, allem Anschein nach Schreiber in Regierungs- oder Postdiensten, die ihren Nachmittagsspaziergang gemacht hatten und jetzt behaglich ihren Wein tranken. Johannes versuchte bei dem Kellner, der den Wein brachte, Erkundigungen einzuziehen, erhielt indessen keinen Bescheid.

Eines der Herrchen, das seine Frage gehört hatte, sagte zu seinem Genossen:

»Donnerwetter ja, habt Ihr das schon gehört? Der Kerl hat heute in der Neuen Kirche plötzlich angefangen zu predigen, und zwar schnurstracks gegen den Pfarrer.«

»Was für'n Kerl?« fragte der andere.

»Herrgott, kennst du denn den nicht? Der halb Verrückte mit dem schwarzen Lockenkopf. So was macht der öfters.«

»Weiß Gott, das ist nicht übel. Und was sagte der Pfarrer?«

»Na, dem war es nichts weniger als angenehm. Denn der Kerl konnte es, verdammt! genau so gut wie er selber, und der Landstreicher tat es umsonst, und von solch schmutziger Konkurrenz will der Pfarrer natürlich nichts wissen, das versteht sich.«

Die drei Freunde lachten laut auf.

»Und wie ist die Sache abgelaufen?« fragte einer von ihnen.

»Er hat ihn ohne weiteres aus der Kirche rausschmeißen lassen durch den Küster und zwei Diener der Gerechtigkeit.«

»Das finde ich aber kindisch, sie hätten gegeneinander ankrähen sollen. Wer's am lautesten kann, gewinnt.«

»Jawohl, das kannst du dir denken. Der Pfarrer wird sich schön hüten, sie könnten am Ende mal den andern wählen –«

»Na, ob man nun von einem Pfaffen oder von einem Scherenschleifer beschwatzt wird, das kommt schließlich auf eins raus.«

Johannes dachte einen Augenblick darüber nach, ob es jetzt schön und gut sein würde, das zu tun, wozu er nicht übel Lust verspürte, nämlich sich auf diese Menschen zu stürzen und sie tüchtig zu verprügeln. Aber er beherrschte sich und ging ruhig seines Weges, nachdem er sich überlegt hatte, daß er sonst am Ende wohl allzuviel zu tun bekommen könnte.

Fünf Stunden ging er so weiter, ohne durch sein Fragen viel klüger zu werden. Einige behaupteten, Markus gesehen zu haben, andere wußten von nichts.

Johannes begann zu fürchten, daß er ihn am Ende schon überholt habe, denn sonst müßte er ihn jetzt sicherlich schon getroffen haben.

Es fing bereits zu dämmern an, und vor ihm dehnte sich ein großer Fluß, über den er sich mit einer Fähre übersetzen lassen mußte.

Jenseits des Flusses lag eine Hügelkette, die mit Buschholz und hochstehendem violettfarbigem Heidekraut dicht bewachsen war.

Der Fährmann wußte bestimmt, daß er an diesem Tage keinen Scherenschleifer übergesetzt habe. Aber in dem Städtchen drüben, das eine Stunde vom Fluß gelegen war, beginne morgen der Jahrmarkt, vielleicht würde Markus dazu wohl auch hinkommen.

Johannes ließ sich am Wegrand mitten in der dunkeln, mit Millionen kleiner purpurner Blümchen überwachsenen Heide nieder. Wundervoll färbte die untergehende Sonne Land und Nebel und das glitzernde ruhig dahinfließende Wasser. Eri war müde, aber nicht mutlos, und aß sein Brot wohlzufrieden, und fest davon überzeugt, daß er Markus finden würde. Der Weg war still und einsam geworden. Wie schön war es, so frei zu sein und so allein und gänzlich vertraut mit der weiten Natur! Am liebsten wollte er draußen im Buschholz nächtigen. Aber als er sich gerade niederlegen wollte, sah er die Gestalt eines Mannes, der, die Hände in den Taschen, und den Hut im Nacken, langsam dahergeschlendert kam. Johannes richtete sich auf und wartete, bis er ganz nahe war. Dann erkannte er ihn.

»Guten Abend, Herr Direktor«, sagte Johannes.

»Schön guten Abend auch«, antwortete der andere. »Was machst du denn hier? hast du dich verirrt?«

»Nein, ich suche die Freunde. Ist Markus bei euch?«

Der Mann war der Direktor eines Flohtheaters, ein kleiner Kerl, der mit heiserer Stimme sprach und dessen Augen infolge der feinen Arbeit stark entzündet waren.

»Markus? Nein. Aber komm du nur mit, möglich, daß er doch da ist.«

»Suchen Sie neue Zöglinge?« fragte Johannes.

»Hast du am Ende welche? Du weißt ja, für die ganz großen zahle ich fünf Cents.«

Sie gingen zusammen zu dem unweit der Stadt gelegenen Platz, auf dem die Wohnwagen standen. Johannes traf dort lauter alte Bekannte. Da war die dicke Frau, die einen Teller auf ihren Busen setzen und so davon essen konnte. Augenblicklich aß sie indessen nur von einer Kiste, genau so wie die andern, weil kein Publikum da war. Da waren die Mutter und die Tochter, die abwechselnd das lebende Meerweibchen darstellten, weil eine es nicht so lange aushalten konnte. Da war der Besitzer eines Raritätenkabinetts, ein armer, buckliger Tropf, dessen ganzer Reichtum in einem ausgestopften Krokodil, einem Walroßzahn und einem Sechsmonatskinde in Spiritus bestand. Da waren die zwei wilden Männer, die unter entsetzlichem Gebrüll Glas und lebende Kaninchen verschlangen, und die nur während der Dunkelheit, wenn die Gassenjungen fort waren, aus dem Wagen herauskommen durften. Jetzt saßen sie nichts weniger als wild im flackernden Schein einer trüben Laterne und spielten mit unbeschreiblich schmutzigen Karten ihre Partie.

Endlich führte der Flohbändiger Johannes an Marions Wagen.

»Jotte doch,« rief Lorum, der ziemlich gut gelaunt schien und rauchend am Wege saß, »da ist unser verliebter junger Herr ja wieder. Da werden sich die Mädchens aber freuen.«

Hinter dem Wagen erklang zur Zitherbegleitung eine weiche Stimme, und durch den traumstillen Abend hörte Johannes das Liedchen ganz deutlich. Es wurde schmelzend und wehmütig gesungen nach einer bekannten Drehorgelmelodie, aber mit hinreißender Leidenschaft:

»Sie haben mein Leben zerstört,
Sie wollten, daß wir uns ließen:
Hätt' ich seine Stimm' nie gehört,
Ich würd' keine Tränen vergießen. –
Ach Du! Ach Du!
Wie konntest Du mich lassen?
Ach Du! – Ach Du! –
Wo ist jetzt meine Ruh?« –

Es war eine Weise, die Johannes schon oftmals von Kindermädchen gehört zu haben glaubte. Aber weil er die liebliche Stimme erkannte und vielleicht auch wohl, weil er vermutete, worauf sich das Liedchen bezog, rührte es ihn tief.

»Heda!« rief Lorum jetzt laut, »das verlorene Schaf ist wieder zurück. Du brauchst jetzt nicht mehr zu flennen!«

Da kam Marion hinter dem Wagen zum Vorschein und eilte auf Johannes zu. Gleichzeitig ging die Wagentür auf, und in der lichtüberfluteten Öffnung sah Johannes Marions Schwester stehen, in ihrer Nachtjacke, mit dicken bloßen Armen.

Nach jener ersten Nacht, die er mit Windekind in den Dünen verlebt, hatte Johannes noch manch liebes Mal unter freiem Himmel geschlafen, und er fürchtete sich auch jetzt nicht davor. Unter dem Wagen wollte er liegen, auf einem Heubündel. Er war müde und würde schon einschlafen. Aber das ging so schnell nicht. Die Abenteuer in der Menschenwelt schienen ihm aufregender und verwirrender als die in Windekinds Elfenland. Er war von seinem gewichtigen und ungewohnten Zustand gänzlich erfüllt und mußte, ob er nun wollte oder nicht, auf das seltsame menschliche Leben um sich her achten. Ueber sich hörte er Füße auf den Planken des Wagens scharren, und er sah, wie das Volk in den warmen, schmutzigen Wagen zusammenkroch, alle nebeneinander und durcheinander. Er mußte dem Geplauder, dem Gesang, dem Gelächter und dem Gezanke lauschen, das immerfort noch hier und dort ertönte. Eine einsame Okarina klang unermüdlich weiter, als längst schon alles schwieg.

Ihn fröstelte. Er hatte von Tante nur ein dünnes Mäntelchen mitbekommen, und eine Pferdedecke konnte nicht entbehrt werden. Er fand zwar ein paar leere Hafersäcke, aber die waren viel zu kurz.

Als alles schlief und er noch immer zitternd und wachend dalag und seine Mundwinkel sich bereits bedenklich herabzusenken begannen, hörte er, wie die Wagentür leise geöffnet wurde. Eine flüsternde Stimme rief ihn. Johannes kroch unter dem Wagen hervor und erkannte Marions schwarze Schwester.

»Warum kommst du nicht herein, kleiner Kerl?« fragte sie.

In Wahrheit fürchtete sich Johannes besonders vor der schlechten Luft und den Flöhen. Aber da er diesen verletzenden Grund nicht angeben mochte, antwortete er, in der Meinung sehr anständig und würdevoll zu sein: »Aber das geht doch nicht – ich zu euch!«

Nun wird es allerdings mit der Förmlichkeit in einem Wohnwagen nicht allzu genau genommen. In den sehr vornehmen findet man zwar hin und wieder einen Vorhang, durch den des Nachts der Wohnraum in zwei Schlafzimmer umgeschaffen und der Wohlanständigkeit auf solche Weise Genüge getan wird. Meistens aber macht man es so wie die Vögel, die nur einmal im Jahr ihr Kleidchen wechseln, und auch dann nur ganz mählich, und wie die Mäuse, bei denen auch nicht jede eine Schlafkammer für sich hat.

»Ach was, Junge, du bist wohl verrückt! Vorwärts, komm du nur ruhig. Du darfst wirklich, hörst du wohl?«

Und als Johannes noch immer beschämt und verlegen zögerte, fühlte er plötzlich einen dicken schweren Arm um seinen Nacken und auf seiner Wange ein Paar kühle weiche Lippen.

»Komm du nur, Kerlchen, genier dich nicht. Du bist gewiß noch ein ganz Grüner, da wird es hohe Zeit, daß ich dich ein wenig klüger mache.«

Nun gab es nichts, was Johannes mehr zu schätzen gelernt hatte als Klugheit und Klügerwerden; das war etwas, wozu er mit Freuden jede Gelegenheit ergriff. In diesem Augenblick aber bekam er von der Existenz einer nichts weniger als begehrenswerten Klugheit eine sehr deutliche Vorstellung.

Er hatte keine Zeit diese wunderliche Entdeckung aufmerksam zu erwägen. Zum Glück aber kam seinem trägen Gedankengang diesmal ein sehr starkes Gefühl des Abscheus zu Hilfe, so daß er ausnahmsweise einmal rechtzeitig wußte, was er zu tun hatte.

So sagte er denn sehr laut und bestimmt: »Nein, danke, ich liege da ganz gut« und kroch wiederum unter den Wagen.

Das schwarzäugige Weib schien das durchaus nicht freundlich von ihm zu finden, denn sie fluchte und sagte: »Meinetwegen kannst du verrecken,« während sie wieder hineinging. Johannes nahm sich das nicht allzusehr zu Herzen, obwohl es ihm sehr ungerecht erschien. Er schlief indessen ebensowenig wie zuvor, und das Gefühl der soeben erlittenen Berührung, und der unangenehme Duft von schlechtem Parfüm, den die Frau an sich hatte, blieben beklemmend um ihn haften.

Sobald es zu dämmern begann, öffnete sich die Wagentür von neuem. Johannes blickte auf. Marion kam barfuß hinausgeschlichen, ein altes lilafarbenes Umschlagetuch um die hageren Schultern. Sie setzte sich neben Johannes auf die Erde.

»Was hat sie getan?« fragte sie flüsternd.

»Wer?« fragte Johannes zurück. Aber das war nur Verlegenheit, denn er wußte sehr gut, wen sie meinte.

»Na, das weißt du doch wohl; glaubst du etwa, ich hätte geschlafen? hat sie dich geküßt?«

»Ja,« nickte Johannes.

»Wo? Auf deinen Mund?«

»Nein, auf die Backe.«

»Gott sei dank,« sagte Marion. »Und wirst du sie das nie wieder tun lassen? Sie ist ein gemeines Weib.«

»Ich konnte nichts dafür,« sagte Johannes.

Marion blickte ihn mit ihren klaren hellgrauen Augen eine Weile nachdenklich an.

»Wagst du zu stehlen?« fragte sie dann ganz unvermittelt.

»Nein,« sagte Johannes, »ich wage es wohl, aber es ist schlecht.«

»Denkt gar nicht dran,« antwortete Marion mit großer Bestimmtheit. »Es hängt nur davon ab von wem. Von einander stehlen ist gemein, aber von dem Publikum stehlen, das darf man. Von dem Weib darf ich nicht stehlen, und auch nicht von Lorum. Aber du darfst von dem Weib stehlen. Wenn du doch nur den Mut dazu hättest!«

»Darfst du denn auch von mir stehlen?« fragte Johannes.

Marion blickte ihn plötzlich verwundert an und lächelte anmutig, während sie ihre weißen gleichmäßigen Zähnchen zeigte.

»Früher wohl, aber jetzt nicht mehr, jetzt gehörst du zu mir. Aber das Weib hat eine Menge Geld und du nicht.«

»Ich habe auch Geld, fünfzig Gulden, die hat mir Tante gegeben.«

Marion sog die Luft mit ihren Lippen ein wie einen köstlichen Leckerbissen. Ihr bleiches Gesichtchen erstrahlte vor Freude.

»Fünf Goldfüchschen, ist das wahr? Aber Hanni, dann sind wir ja fein raus. Dann brennen wir ganz einfach durch. Ist dir's recht?«

»Jawohl,« sagte Johannes langsam, »aber eigentlich wollte ich Markus suchen.«

»Schon recht,« antwortete Marion, »das trifft sich gerade gut. Dann suchen wir zusammen.«

»Gehen wir jetzt gleich?« fragte Johannes.

»Nein, du kleiner Dummkopf. Dann würde man uns ja sofort wieder zurückholen. Aber heute Abend, sobald es dunkel wird, können wir ein ganzes Ende weiterkommen. Ich werde dir schon rechtzeitig Bescheid sagen.«

Es begann langsam zu tagen, – ein klarer frischer Morgen mit warmer und dennoch frischer Augustsonne. Allüberall blitzten die taubenetzten Spinngewebe wie funkelnde Sternenkränzlein auf dem dunkeln Heidegesträuch. Im Wohnlager glommen noch die Feuer vom Vorabend, und es roch nach Holzbrand und Honig.

Johannes war zufrieden. Auch in ihm brannte ein Feuerlein mit lustiger Glut. Er fühlte, daß es gut sei, zu leben und freudig zu kämpfen. Es war ein langer, seltsamer Tag, aber er hatte Geduld und freute sich heimlich auf die Flucht mit Marion. Das dunkeläugige Weib war wieder sehr freundlich zu ihm. Er half den ganzen Tag im Zirkus und hatte keine Gelegenheit Marion zu sprechen. Aber hin und wieder schauten sie einander voll heimlichen Einverständnisses an, und das war köstlich. Etwas so köstliches hatte Johannes im Alltagsleben noch niemals empfunden.

An jenem Abend fand eine Vorstellung statt, und Marion zeigte ihre Künste. Johannes fühlte sich stolz und gewichtig, weil er mit zur Truppe gehörte und vom Publikum als ein Reiter oder Clown angesehen wurde; er durfte nämlich in Stulpstiefeln und mit einer Peitsche in der Hand am Stalleingang stehen. Aber er verstand sich auf keine einzige Kunst, ja, nicht einmal mit der Peitsche konnte er knallen.

Als es ganz dunkel war und alles wieder schlief, kam Marion, um ihn zu rufen. Er vermochte ihre Gestalt kaum zu erkennen, erriet aber an einem leisen Knurren, daß sie Kees, ihr Äffchen, auf dem Arme trug. Sie drückte Johannes ihre Guitarre in die Hand und sagte leise: »Und nun los.«

Hastig und schweigend eilten sie davon. Marion gab die Richtung an. Erst über die große Chaussee, dann über einen Fußweg den Fluß entlang, dann bei einer Fähre behutsam ein kleines Boot losgemacht und sich so stromabwärts treiben lassen.

»Aufpassen, Hanni, und gut ausschauen!«

»Wir werden angefahren werden,« sagte Johannes, dem durchaus nicht behaglich zumute war.

»Fürchtest du dich?«

»Nein, das gerade nicht,« sagte Johannes, obgleich er in Wirklichkeit sich nur nicht fürchten wollte. »Aber wo werden wir denn hingeraten, und wie sollen wir ausweichen, wenn ein Boot kommt? Wir haben ja gar keine Ruder.«

»Ich wollte nur, daß eins käme, dann führen wir mit.«

»Wohin möchtest du denn, Marion?«

»Na, natürlich über die Grenze, sonst kriegen sie uns doch zu packen.«

»Und Markus?!«

»Den werden wir später schon finden, wenn wir nur erst mal fort sind.«

Schweigend ließen sich die beiden Kinder forttreiben über das dunkle stille Wasser, das im Vorüberfließen hier und dort leise gegen eine Planke oder eine Tonne klatschte. Weit und geheimnisvoll war alles ringsumher, stockfinster und windstill die Luft, kaum, daß das Schilf am Ufer leise seufzte. Der kleine Kees piepte kläglich und unzufrieden – ihn fror.

»Wer ist Markus doch eigentlich, Marion? weißt du das nicht?«

»Danach darfst du nicht fragen, Hanni, du mußt ihm vertrauen, das tue ich auch.«

Da plötzlich ertönte von weither ein dumpfes Poltern und Lärmen und kam näher und näher, und in der Ferne sah Johannes rote und weiße Laternen aufleuchten.

»Ein Dampfer!« rief er, »was sollen wir jetzt bloß anfangen?«

»Singen,« sagte Marion, ohne zu zögern.

Der Dampfer fuhr sehr langsam, und hinter ihm gewahrte Johannes eine lange Reihe kleiner Lichtchen wie eine Sternenschnur. Es war ein Schleppdampfer, der eine schwere Fracht von Rheinschiffen hinter sich herzog. Ächzend und stöhnend schien der Dampfer gegen den mächtigen Strom anzukämpfen.

Das kleine Boot blieb ein Ende seitwärts vom Schlepper, aber die folgenden Schiffe, die groß und schwerfällig in einem weiten Bogen hinterher schwenkten, kamen immer näher und näher.

Marion nahm ihre Guitarre und begann zu singen, daß es fein und klar durch die stille Nacht erklang, trotzdem das Wasser mächtig rauschte und das Stoßen des Dampfers immer näher kam. Sie sang eine bekannte deutsche Melodie, aber mit den folgenden Worten:

»Auf tiefen dunkeln Fluten
»ist mir doch nimmer bang –
»ich weiß, ich werd zum Guten
»gelenkt mein Lebenlang.«

»Seid Ihr denn ganz verrückt oder habt Ihr genug vom Leben, daß Ihr euch so ohne Licht quer ins Fahrwasser legt?« schrie von einem der Schiffe eine Stimme übers Wasser.

»Helft uns, werft uns ein Tau zu!« rief Marion zurück.

»Helft uns, helft uns!« – rief auch Johannes.

Klatsch! In weitem Bogen kam da ein Tau über das Schiff daher geflogen. Auf gut Glück griff Johannes danach und arbeitete sich in die Richtung des Schiffes. Der Steuermann, der an dem riesengroßen hochgebogenen Steuer stand, spähte, eine Laterne in der Hand, aufmerksam über Bord.

»Von was für einer Hochzeit kommt Ihr denn eigentlich?«

Johannes und Marion bestiegen das Schiff und Marion stieß das kleine Boot ab.

»Zwei Buben?« fragte der Steuermann.

»Und ein Affe« – fügte Marion hinzu.

Johannes blickte sich nach ihr um. Im Licht der Laterne sah er eine kleine Gestalt, die er kaum zu erkennen vermochte: Ein zart gebauter Knabe mit einer Mütze auf kurz geschnittenem Haar. Ihr seidenweiches Blondhaar hatte sie der Flucht zum Opfer gebracht.

Kees streckte seinen Kopf aus ihrem Kittel heraus und blinzelte im grellen Schein der Laterne.

»Ach so, Kirmesvolk,« brummte der Schiffer, »und was soll mit dem Boot werden?«

»Das weiß den Weg nach Hause,« sagte Marion.

Damit Ihr ruhig und aufmerksam weiter lesen könnt, will ich euch nur gleich erzählen, daß Johannes und Marion Mann und Frau werden, noch bevor dies Buch zu Ende geht. Aber als ihnen der alte Schiffer in dem Roof der langen Rhein-Aake ein behagliches Schlafplätzchen anwies, hatten sie davon noch nicht die leiseste Ahnung, und müde, wie sie waren, lagen sie beide alsbald wie zwei kleine Brüder in tiefem Schlaf. Keesje, jetzt warm und zufrieden, in ihrer Mitte.

Als es hell zu werden begann, schien die ganze Welt verschwunden. Johannes erwachte durch das Gerassel von Ankerketten, und als er hinausblickte, sah er an allen Seiten nichts als weißes dunstiges Licht. Kein Himmel, keine Ufer, nur dicht unter den kleinen Fensterchen das gelbe fliehende Wasser. Aber er hörte Dorfglocken läuten und sogar Hähne krähen. Die Welt war also doch noch da, ebenso schön wie stets, aber von einem dichten weißen Nebel umhüllt.

Die Schiffe lagen still, man konnte nicht fahren. Wenn man das Wasser des Rheines nicht um die Ankerketten hätte brausen sehen, würde man vom Windstrich nichts gewußt haben. So blieben sie stundenlang in dem stillen, weißen, schweren Licht und lauschten den gedämpften Geräuschen, die vom Ufer her aus dem Dorf zu ihnen herüberklangen.

Die beiden Kinder liefen auf dem langen Schiff auf und ab und amüsierten sich königlich. Der Schiffer hatte sich bereits mit ihnen angefreundet, besonders nachdem er erfahren, daß sie ihre Reise bezahlen konnten. Sie aßen Brot und Wurst und starrten gespannt in den Nebel, ob sie nicht ein kleines Boot kommen sähen mit Lorum und dem schwarzen Weib, die sie zurückholen wollten. Denn sie konnten noch nicht weit von ihrer letzten Wohnstätte entfernt sein.

Endlich ergriffen die immer dünner und dünner werdenden Nebel vor dem leuchtenden Sonnenantlitz die Flucht, und während die Erde noch stets in einem dichten Weiß verborgen blieb, begann dort oben bereits alles in herrlichem Blau zu erstrahlen.

Jetzt brach für Johannes ein schöner Tag an.

Seufzend und ächzend, wie mit heftigem Widerwillen begann der Schleppdampfer seine Ladung von neuem stromaufwärts zu stauen. Der stille Sommertag ward warm, die breite Stromfläche glitzerte in der Sonne, und zu beiden Seiten glitten die Ufer, die mit ihrem graugrünen Schilf, mit ihren Weiden und Pappeln frisch und taubenetzt aus dem Nebel emporstiegen, träge vorüber.

Johannes lag auf Deck und starrte auf Strom und Ufer, während Marion neben ihm saß und Keesje, der sich im Takelwerk die Zeit vertrieb, vergnügte Kehllaute ausstieß und hin und wieder ernsten Blickes auf einen vorüberfliegenden Vogel oder auf ein Insekt starrte.

»Marion,« sagte Johannes, »wie wußtest du gestern denn so gewiß, daß du dich nicht zu fürchten brauchtest?«

»Weil auf mich aufgepaßt wird,« sagte Marion.

»Durch wen denn?« fragte Johannes.

»Durch Vater.«

Johannes blickte sie an und fragte dann leise:

»Meinst du deinen eignen Vater?«

Aber Marion deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf die grünenden Ufer, das fließende Wasser, den blauen Himmel und die strahlende Sonne, und sagte danach mit seltsamer Betonung, gleich als müsse es jetzt ganz klar und deutlich sein:

»Nein, ich meine Vater.«

»Ist das der Vater, von dem Markus spricht?«

»Ja, natürlich,« erwiderte Marion.

Johannes schwieg eine Zeit lang und blickte träumerisch auf den raschen Lauf des Wassers und den immer träger und träger werdenden Gang der Dinge, die dahinter lagen. Sein Kopf war voller Gedanken und jeder begehrte ausgesprochen zu werden. Aber es ist eine Wonne so dazuliegen und im sonnenklaren Licht auf ein vorüberziehendes Land zu schauen und die Gedanken ganz ruhig herankommen zu lassen und sorgfältig diejenigen unter ihnen auszuwählen, die es wert sind mit Wortklang bekleidet zu werden. Viele sind zu zart und zu schwach, um dieser Ehre teilhaftig zu werden, und dennoch sind das nicht die schlechtesten.

Johannes wählte zunächst einen Nebengedanken aus, der ihm zwar nicht sehr tief erschien, aber doch ausgesprochen werden wollte.

»Hast du das aus dir selber?« fragte er.

Marion war diesmal mit ihrer Antwort auch nicht allzu schnell bei der Hand.

»Aus mir selber? – nein. Markus hat es mir gesagt, aber ich wußte es selbst auch schon längst. Ich wußte es, aber er sagte es. Er hat es aus mir herausgeholt. Ich behalte alles, was er sagt. Alles. Auch wenn ich nichts davon verstehe.«

»Nützt das denn etwas?« fragte Johannes ein wenig unbesonnen.

Marion blickte ihn verächtlich an und sagte dann:

»Donner und Doria, du bist ja genau wie Kees. Der weiß auch nicht, daß er mit einem Groschen mehr anfangen kann als mit einem Pfennig. Als ich meinen ersten Groschen bekam, begriff ich auch nichts davon. Aber da merkte ich doch bald, daß ich viel mehr Süßigkeiten dafür bekommen konnte, als für einen Pfennig. Und fing an, besser darauf zu achten. So verwahre ich jetzt sorgsam alles, was Markus gesagt hat, alles.«

»Hast du ihn gerade so lieb wie ich?« fragte Johannes.

»Noch lieber,« sagte Marion.

»Das ist nicht möglich.«

Dann wiederum eine lange Pause. Der Dampfer hatte es nicht eilig. Die Sonne ebensowenig. Und auch der breite Strom sputete sich nicht. So nahmen sich auch die Kinder alle Zeit für ihr Gespräch.

»Ja, aber weißt du wohl,« begann Johannes dann wieder, »wenn die Menschen von unserm Vater sprechen, so meinen sie Gott, und Gott ist ...«

Was hatte Windekind doch gleich von Gott gesagt? Der Gedanke kam und bat um sein altes Wortgewand. Aber Johannes zögerte. Das Gewand kleidete ihn nicht.

»Nun, was ist Gott?« ... fragte Marion.

Dann also doch nur her mit dem alten Kleidchen. Ein besseres war nicht da.

»... eine Petroleumlampe, an der die kleinen Fliegen festkleben.«

Marion ließ einen schrillen gebieterischen Pfiff ertönen. Ein Zirkuskommando. Kees, der, in dem kurzen Schiffsmast hockend, aufmerksam seinen ausgestreckten Hinterfuß inspizierte, fuhr unverzüglich auf und ließ sich mit pflichtgemäßer Eile an dem Stahldraht heruntergleiten.

»Hierher, Kees, aufgepaßt!«

Kees brummte bestätigend und war sofort ganz und gar Aufmerksamkeit, denn er war gut dressiert. Kaum, daß seine scharfen braunen Äuglein auch nur für eine Sekunde von dem Gesicht seiner Herrin wegblinzelten.

»Der junge Herr hier behauptet, daß er weiß, was Gott ist ... weißt du's?«

Kees schüttelte mit einer raschen Bewegung den Kopf und zeigte grinsend all seine scharfen weißen Zähnchen. Man hätte meinen können, daß er lachte, aber seine Äuglein blickten ernsthaft wie immer von Marions Mund auf ihre Hand. Da gab es nichts zu lachen. Hier galt es aufpassen, das wußte er. Und es würde entweder ein Leckerbissen oder eine Tracht Prügel folgen.

Aber Marion lachte laut auf.

»Hierher, Kees, brav gemacht!«

Es folgte ein Leckerbissen, und die Mahlzeit wurde unter lautem Schmatzen hoch oben im Mast verzehrt.

Der Erfolg dieser Neckerei kam Marion gänzlich unerwartet. Johannes, der, das Kinn in die Hände gestützt, auf Deck lag, starrte eine Zeitlang betrübt auf den Horizont und verbarg dann das Gesicht in die verschränkten Arme, während es schien, als ob sein ganzer Körper vor Weinen zuckte.

»Aber ich bitte dich, Hanni, bist du denn verrückt? Wie kannst du darüber nur weinen?« fragte Marion erschreckt, während sie versuchte seine Arme von seinem Gesicht zu entfernen. Aber Johannes schüttelte den Kopf.

»Still, laß mich denken,« sagte er.

Marion ließ ihm wohl eine Viertelstunde Zeit. Dann sagte sie leise und herzlich, gleich als wolle sie ihn trösten:

»Ich weiß ganz gut, was du sagen wolltest, mein lieber Junge. Darum spreche ich auch immer vom Vater. Ich kann das am besten verstehen. Denn weißt du, meinen Vater habe ich niemals gekannt, aber der muß wohl viel besser gewesen sein als andere Väter.«

»Warum denn?« fragte Johannes.

»Weil ich selbst viel besser bin als all das Volk um mich her und als das gemeine schwarze Weib, das einen andern Vater gehabt hat.«

Marion sagte das ganz einfach und unumwunden, weil sie es so empfand. Mit einem bescheidenen Stimmchen sagte sie es, fühlte aber dennoch, daß sie wohl noch eine Erklärung hinzufügen müsse.

»Nicht als ob ich gar so brav wäre, ach herrjeh, nein! Aber ich bin doch besser als all die andern, und das kommt durch Vater, denn meine Mutter war auch nur eine Kirmesfrau, und jetzt ist das schönste, was ich sagen kann, »Vater«, und das sagte Markus auch.«

Johannes blickte sie mit noch stets traurigen Augen an. »Ja, aber all das Gemeine und all das Häßliche und all das Traurige, das Vater dennoch immerfort geschehen läßt? ... Erst schickt er uns in die Welt hinein, dumm wie wir sind, und er sagt uns nichts, und wenn wir dann Böses tun, weil wir es nicht besser wissen, dann werden wir bestraft. Ist das etwa väterlich?«

Marion aber antwortete:

»Ja, natürlich. Kees bekommt auch Strafe, damit er lernt, aber jetzt, wo er klug ist und gut gezogen, kriegt er fast gar keine Schläge mehr und nur noch was Gutes, gelt, Kees?«

»Aber hast du mir nicht selbst erzählt, Marion, wie du Kees gefunden hast, mager und verschüchtert und voller Räude und sein ganzes Fell kaput vor Hunger und Schlägen, weil ihn ein paar abscheuliche Jungens mißhandelt hatten, und wie er dann noch lange, lange Zeit scheu geblieben ist?«

Marion nickte und sagte: »Es gibt abscheuliche Menschen und Teufelskinder, und es wird auch wohl einen Teufel geben. Aber ich bin ein Kind meines Vaters und fürchte mich nicht vor ihm, was immer er auch mit mir tun mag.«

»Und wenn er dich nun krank macht, und wenn er es ruhig mit ansieht, wie dich die Menschen mißhandeln, und wenn er dich eine Sünde begehen und vor Reue weinen und dich dann wahnsinnig werden läßt?«

Keesje hatte sich ganz langsam von dem Mast heruntergleiten lassen. Zögernd und vorsichtig betastete er Marions Knabenanzug mit seinen schwarzen schmutzigen Händchen. Er wollte schlafen und war an einen weichen Schoß gewöhnt. Allein seine Herrin nahm ihn auf und barg ihn in ihrem Kittel. Darauf gähnte er behaglich wie ein altes Männchen, schloß sogleich die Augenlider und schlief langsam ein, mit einem devoten Gesichtchen und fromm emporgezogenen Augenbrauen. Marion sagte:

»Wenn ich es mir einfallen ließe, Keesje zu mißhandeln, so würde er fürchterlich toben, aber er würde trotzdem bei mir bleiben.«

»Ja, aber das würde er ebensogut auch bei einem gemeinen Schuft tun,« sagte Johannes.

Marion aber schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Kees ist zwar dumm, viel dümmer als du und ich, aber doch nicht ganz dumm. Er weiß genau, wer es gut mit ihm meint. Auch daß ich ihn nicht zu meinem Vergnügen mißhandle. Und siehst du, Hanni, daß der Vater mich nicht ohne Grund mißhandeln wird, das weiß ich gewiß, ganz gewiß.«

Johannes faßte ihre Hand und fragte erregt:

»Wie weißt du das? wie weißt du das denn?«

Marion lächelte und richtete einen sanften Blick auf ihn.

»Genau so gut wie ich weiß, daß du ein braver Junge bist, der mich lieb hat. Das sehe ich dir an, an allerhand Dingen, die ich nicht einmal erklären könnte. Eins kommt zum andern. So kann ich auch sehen, daß Vater es gut mit mir meint. An den Blumen, an den Wollen, an dem glitzernden Wasser. So deutlich, daß ich manchmal fast darüber weinen muß.«

Da entsann sich Johannes, wie er einst beten gelernt hatte, und es kam mehr Ruhe in seine aufrührerischen Gedanken. Dennoch aber konnte er, weil er schon gar so lange mit Klauber verkehrt hatte, – es nicht unterlassen zu fragen:

»Und warum kann das kein Trug sein?«

Keesje wachte plötzlich auf und schaute sich erschreckt nach Johannes um.

»Ach, du bist ein Schaf,« sagte Marion ungeduldig. »Das ist nun gerade so, als wenn du fragen wolltest, warum der Sommer nicht mal zufällig der Winter sein kann. Ich erkenne Vater gerade daran, daß er nicht betrügt. Wenn Markus doch jetzt da wäre, dann würdest du tüchtig was abbekommen.«

»Ja, wenn er doch da wäre!« sagte Johannes seufzend und schien sich gar nicht davor zu fürchten, daß er »was abbekommen« würde.

Darauf ließ Marion freundlicher folgen:

»Weißt du, was Markus sagt, Hanni? ... Wenn der Teufel sich vor Gott hinstellt, so durchbohrt das aufrichtige Vertrauen ihm das Herz.«

»Soll ich denn etwa dem Teufel vertrauen?« fragte Johannes.

»Aber nein, wie wäre das wohl möglich? Das kann niemand. Du sollst nur dem Vater vertrauen. Aber wenn du zufällig den Teufel mal für Vater ansiehst, so schadet das auch noch nichts, denn der weiß mit aufrichtigem Vertrauen nichts anzufangen. Das geht quer durch ihn hindurch und langt schließlich doch beim Vater an.«

»O Marion, Marion,« sagte Johannes, während er voll tiefer Rührung die Hände faltete.

Sie lächelte glückselig und sagte:

»Siehst du, das war nun ein Groschen aus meiner Sparbüchse.«

Es ward wirklich ein sehr schöner Tag für Johannes. Er sah die großen hochgetürmten Wolken, die schlanken Bäume in dem weichen Sonnenlicht, die stillen Häuschen am Ufer und den gewaltigen rastlos fortgleitenden Strom, golden glitzernd und violett glänzend, und über sich das tiefe, tiefe Blau, und er flüsterte: – »Vater, Vater.« In einem einzigen Augenblick erkannte er plötzlich in allem, was er sah, die herrlichen wunderbaren Gedanken seines Vaters, die er allzeit anstaunen und jetzt, ganz flüchtig, auch begreifen durfte. Vater sagte ihm das alles wie ein ungeheures Mahnen, daß Er da sei, schön und wahrhaftig, ewig sorgend, allzeit harrend und auch hinter dem Häßlichen und Trügerischen auffindbar.

»Wirst du immer bei mir bleiben, Marion?« fragte er innig.

»Ja, Hanni, das will ich wohl. Und du bei mir?«

Da begann der kleine Johannes kühn und unerschrocken alles mögliche zu versprechen, als wüßte er wirklich alles, was da kommen würde, und als besitze er die Herrschaft über sein ganzes unbekanntes kleines Wesen.

»Ja, liebe Marion, ich verlasse dich nicht mehr. Ich verspreche dir, daß wir zusammenbleiben. Aber wie zwei Freunde, ist dir das recht? Keine Liebelei.«

»Schön, Hanni, wie du willst,« sagte Marion. Danach ward sie sehr still.

Abend ward es, und sie näherten sich dem deutschen Lande. Die Häuschen am Ufer sahen jetzt nicht mehr so frisch und hellfarbig, sondern grau und schmutzig aus. Sie kamen an ein Städtchen, das einen gar häßlichen verwahrlosten Eindruck machte mit seinen braunroten Mauern und grauen Häusern, an denen in verschnörkelten Buchstaben allerhand Aufschriften zu lesen waren.

Die Schiffe legten sich auf dem Strom vor Anker und es kamen Zollbeamte. Da sagte Marion, allmählich aus dem stillen Grübeln erwachend, in das sie des Johannes letzte Frage versetzt hatte:

»Wir müssen singen, Hanni, denke doch daran, daß Tantes Geld bald alle sein wird, wir müssen uns was verdienen.«

»Ob das wohl gehen wird?« fragte Johannes.

»Ganz leicht. Du sorgst für die Worte und ich für die Musik. Und wenn es auch nicht gar so schön klingt, das tut nichts, du wirst mal sehen, daß es Groschen regnet, wenn sie auch nichts davon verstehen.«

Marion kannte ihr Publikum. Es kam genau so wie sie es vorausgesagt hatte. Als sie zu singen begannen, lauschten ihnen die barschen Zollbeamten, und der alte Schiffer lauschte und die Schiffsleute der umliegenden Schiffe lauschten und die Heizer der Schleppdampfer streckten ihre schwarzen berußten Gesichter aus der Luke des Maschinenraums und lauschten gleichfalls, denn die beiden jungen Stimmen klangen wohllautend und harmonisch über die ruhige Stromesfläche, und es war etwas gar zierliches um diese beiden zarten Bürschlein, etwas Feines und Vornehmes, das ganz anders war als bei anderem fahrenden Volk, und das sofort auffiel, wenngleich sich niemand so recht zu erklären vermochte, woran es eigentlich lag, und man von dem Gesungenen weder den Sinn noch die Worte verstand.

Sie sangen erst ihre alten Lieder. Das Falterlied und das wehmütige Liedchen, das Marion allein gemacht hatte und das Johannes ein wenig verächtlich das »Kindermädchenlied« nannte, und auch das, das Marion sich eines Abends im Boot ausgedacht hatte. Aber da sagte Marion:

»Jetzt mußt du etwas Neues machen.«

Johannes schaute sie ernsthaft an und sagte:

»Verse kann man nicht machen, die werden geboren, genau so wie kleine Kinder.«

Marion errötete, lächelte verlegen und antwortete: »Was redest du doch für dummes Zeug, Hanni! Es ist nur gut, daß das Weib dich nicht hört, die würde dir ordentlich ihre Meinung sagen.«

Aber nachdem sie eine Weile geschwiegen, fuhr sie fort: »Ich glaube doch, daß du Unsinn sagst, Hanni. Wenn ich Lieder mache, dann kommt die Musik wohl von selbst, aber dann muß ich sie doch zurecht machen, ich muß sie machen, ausdenken, weißt du. – Es ist gerade so«, fuhr sie nach kurzer Pause fort, »als käme eine Horde Kinder hereingestürmt, alle wild durcheinander, und als ob ich sie dann genauso wie eine Schullehrerin je zu zweien und in einer Reihe gehen lasse und ihnen die Kleider glatt streiche und ihnen Blumen in die Hände gebe und sie so marschieren lasse. So mache ich Lieder, und so mußt du Verse machen – versuch's doch mal so.«

»Nun ja,« sagte Johannes, »aber die Kinder müssen dann doch erst von selber kommen.«

»Sind die denn nicht schon da, Hanni?«

Johannes dachte nach und starrte in die weite Kuppel des abendlichen Himmels, an dem die bleichen Sterne zu leuchten begannen. Er dachte nach über seinen schönen Tag und über alles, was ihm durch den Sinn gegangen war.

»Uebrigens,« – sagte Marion ziemlich trocken – »wirst du wohl müssen, ob du willst oder nicht, um nicht zu verhungern.«

Da ging Johannes, durch diese Möglichkeit scheinbar aufs äußerste erschreckt, und suchte Papier und Bleistift. Und wahrlich, da kamen die Kinder auch schon in ungeordneten Trupps daher und wurden von ihm in Reih und Glied aufgestellt und mit Blumen geschmückt.

Erst schrieb er dies:

»Was ist der lichte Sonnenschein,
»der große ruhelose Rhein,
»das Land mit seinem Leben,
»des Stromes Glanz, der Falter Tanz,
»der sommerliche Himmel ganz,
»daran die Wölkchen schweben?
»Der Vater denkt, und seinen Traum
»in Sonn' und Himmel, Feld und Baum
»läßt ewig er mich schauen –
»ich hab' die Botschaft wohl empfah'n
»und all mein Herze wird fortan
»dem Wunder still vertrauen.«

Marion las es und sagte langsam, während sie nachdenklich mit dem Kopf nickte: »Nicht übel, Hanni, aber ich fürchte, daß ich dazu kein Liedchen machen kann, wenigstens jetzt nicht. Ich muß etwas haben, in dem mehr Leben und Bewegung ist. Dies ist so schwermütig. Ich muß etwas haben, das tanzt. Kannst du nicht etwas von den Sternen sagen? Die gefallen mir immer so gut, oder von dem Fluß oder von der Sonne oder vom Herbst?«

»Ich werde es versuchen.« sagte Johannes, während er auf die glitzernden Pünktlein schaute, die in immer größerer Zahl an dem dunkler und dunkler werdenden Nachthimmel aufleuchteten.

Darauf machte er das folgende Lied, dem Marion sofort eine Melodie gab, und das darauf von ihnen gemeinsam gesungen wurde.

»Die stillen Sterne klommen
»gen Himmel, zwei zu zwei'n,
»Und ihre Füßchen glommen
»wie Gold auf blauem Stein.
»Und als hinauf sie kamen
»und schauten herab von dem Kranz,
»da sangen sie zusammen
»ein Lied von lauter Glanz.«

Das klang gut. Ihre jungen Stimmen flossen zusammen, wanden sich wie zierliche Guirlanden, wie zwei geschmeidige spielende Fischlein in klarem Wasser und umflatterten sich wie zwei Falter im Sonnenschein. Der alte gebräunte Schiffer schmunzelte vergnügt und die Heizer mit ihren berußten Gesichtern blickten sich lächelnd an. Sie verstanden es zwar nicht, hielten es aber ganz bestimmt für ein luftiges Liebesliedchen. Wohl drei-, viermal wiederholten die Kinder den Gesang, bis sich die Nacht langsam herabsenkte.

Aber Johannes hatte noch mehr zu sagen. Die Sonne und der köstliche Sommertag, der nun dahingeschwunden, hatten in ihm ein süßes wehmütiges Verlangen gewellt, und das wollte er nun besingen. Er lag auf Deck und schrieb im matten Schein der Schiffslaterne die folgenden Verse:

»O Sommerlicht, o Sonnenschein,
»ach! Könntet Ihr doch bei mir sein
»in langer banger Winternacht.
»Der schönste Glanz ist Euch zerronnen,
»und nicht mehr wecket hehre Wonnen
»Euer flammend Schreiten.
»Und allerorten klinget sacht
»ein Todesläuten.«

Während er sie vorlas, begann seine Stimme bei der letzten Zeile vor Rührung zu zittern.

»Das ist schön, Hanni,« sagte Marion, »das wird mir bald gelingen.«

Und nachdem sie etwa ein halbes Stündchen gesucht und probiert, hatte sie eine süße sehnsüchtige Weise gefunden, nach der das Lied gesungen werden sollte.

Und sie sangen es in der Dunkelheit und wiederholten das vorige, bis ein ganzer Trupp Straßenmusikanten lärmend aus einer am Ufer gelegenen Kneipe kam und ihre zarte Stimmung durch einen sehr laut und sehr falsch geblasenen Kriegermarsch verscheuchte.

»Still jetzt,« sagte Marion, »gegen den Spektakel können wir doch nicht ankommen. Aber das tut nichts. Wir haben jetzt schon zwei, das Sternenliedchen und das Herbstlied. Wenn's so weiter geht, werden wir reich. Und aus dem Vaterlied werde ich wohl auch was machen können. Morgen vielleicht, heute haben wir wenigstens unser Tagesgeld verdient und können uns zufrieden aufs Ohr legen. Gehst du mit, Hanni?«

»Marion,« sagte Johannes nachdenklich und einen Augenblick zögernd, ehe er ihr folgte, »weißt du, wer Klauber ist?«

»Nein,« sagte Marion kurz.

»Weißt du, was der sagen würde?«

»Nun?« fragte Marion gleichgültig.

»Daß du ganz und gar unmöglich bist.«

»Unmöglich? warum denn?«

»Weil du nicht bestehen kannst, würde er sagen. Solche Wesen bestehen nicht und können nicht bestehen.«

»O, der meint gewiß, daß ich nur fluchen und stinken und Schnaps trinken kann, ist's nicht so? Weil ich ein Kirmesmädel bin, he?«

»Ja, so etwas Aehnliches würde er sagen, und auch das vom Vater würde er lauter Geschwätz nennen. Wolken bestehen aus Wasserdampf und der Sonnenschein aus Schwingungen, sagt er, und das ist alles. Daß jemand damit etwas zum Ausdruck bringen sollte, das ist lauter Unsinn, sagt er.«

»Das sagt er denn doch gewiß auch von einem Heft Notenpapier voller Noten?« fragte Marion.

»Das weiß ich nicht,« antwortete Johannes, »aber wohl sagt er, daß das Licht und die Dunkelheit im Grunde genommen eins sind.«

»O, dann kenne ich ihn schon. Sag der nicht auch, daß es dasselbe ist, ob man auf dem Kopf oder auf den Füßen steht?«

»Ja, ja, der ist es,« sagte Johannes erfreut. »Und was hast du darauf zu erwidern?«

»Daß er meinetwegen auf seinem Kopf stehen bleiben und verrecken kann.«

»Ist das alles?« fragte Johannes zaghaft.

»Aber natürlich,« antwortete Marion sehr bestimmt.

»Soll ich ihm denn etwa auseinandersetzen, daß es am Tage hell und in der Nacht dunkel ist? Aber wie kommst du denn mit einemmal auf den Duckmäuser zu sprechen?«

»Ich weiß nicht,« sagte Johannes, »vielleicht durch die Musikanten.«

Darauf stiegen sie in den Schiffsroof hinab, wo Keesje bereits zusammengekauert und leise schnarchend auf der breiten ledergepolsterten Bank lag, die den beiden Kindern als Schlafstätte diente.

Um zweiten Tage kamen sie am großen Dom vorüber, der damals zum Glück noch nicht fertig war und Johannes an einen wundervollen, rauh bewachsenen Fels erinnerte. Und als er hörte, daß man ihn wirklich fertig machen wolle bis zum höchsten Türmchen, da empfand er eine große Ehrfurcht vor diesen kühnen Menschen und ihrer herrlichen Schöpfung. Er wußte damals noch nicht, daß die Menschen oftmals besser daran täten, es bei schönen Phantasien zu lassen, weil vollendete Werke auf Erden oft nüchterner und weniger schön sein können als unausgeführte Pläne.

Und als er endlich am dritten Abend in die Berge kam, war er gänzlich erfreut. Das war einmal eine lustige Welt. Zu beiden Seiten fuhren hell erleuchtete Dampfer über den Rhein, die mit fröhlichen, essenden und singenden Menschen überfüllt waren. Mattrot erglänzte die Flut in dem Abendlicht zwischen den dunklen Weinbergen. Musik erklang auf dem Wasser, Musik erklang von beiden Ufern. Die Menschen saßen auf den Terrassen am Wasser und in den Lauben, von buntfarbigen, brennenden Lampen umgeben, und tranken goldgelben Wein aus grünen Kelchen. Vom Ufer her hörte man leises Lachen und Gläserklirren. Und singend kamen sie von den Bergen herunter, in Hemdsärmeln, während sie den Rock an einem krummen Stabe über der Schulter trugen.

Der Abendhimmel flammte im Westen und rot erglühten der Porphyr und das Rebenlaub der weinbewachsenen Felsen. Hurra, hier durfte man fröhlich sein. Hier schien das Leben wahrlich eitel Freud und Hopsasa!

Johannes und Marion gingen an Land und sagten ihrem treuen Fahrzeug Lebewohl. Johannes war sehr wehmütig gestimmt, als er das liebe Schiff verlassen sollte, denn er war noch ein gefühlvoller kleiner Kerl, der sofort mit ganz feinen Fädchen dort festwuchs, wo er glücklich war. Und dann tat Scheiden weh.

Jetzt gingen sie an die Arbeit, um sich ihr Brot zu verdienen. Auch um Keesjes faule Tage war es nun geschehen. Er bekam sein rotes Röckchen wieder an und mußte in die Bäume klettern und auf einem kleinen Teller das Geld einsammeln.

Und die Kinder mußten ihre Liedchen singen, bis Johannes sie gar nicht mehr schön, sondern entsetzlich langweilig fand.

Aber sie verdienten viel, viel mehr als Markus mit seinem Scherenschleifen. Die dicken Herren mit ihren aufgezwirbelten Schnurrbärten und die geputzten parfümierten Damen, die auf den Terrassen der Hotels saßen, betrachteten sie allerdings wohl unerträglich herausfordernd und machten allerhand schlechte Witze über sie, die Johannes nur halb verstand, und die sie selbst aus vollem Halse belachten – aber zum Schluß gaben sie doch meistens etwas, manchmal Kupfer, aber hin und wieder auch Silbergeld, bis die tadellos frisierten Kellner in ihren schwarzen Fracks und weißen Oberhemden sie wütend davonjagten, sicherlich weil sie fürchteten, daß ihre eigenen Trinkgelder dadurch geschmälert werden könnten.

Es war Marion, die anordnete, was geschehen sollte, die niemals verlegen war, die den Kellnern schlagfertige Antworten gab und die allzeit Rat wußte.

Und wenn sie ein wenig allzuviel gesungen hatten, dann begann sie mit Tellern zu werfen und zu balancieren. Die fremde Sprache beherrschte sie vollkommen, und sie war es auch, die stets für ein Nachtquartier sorgte.

Ueber das Publikum, diese dummen, hochmütigen, selbstzufriedenen Menschen, die einzig und allein an ihr eigenes Vergnügen zu denken schienen, ärgerte Marion sich weniger als Johannes.

Wenn ihm die Tränen in den Augen standen ob ihrer Grobheit und ihres Hochmutes, oder wenn er wütend ward über ihre dummen Witze, dann lachte Marion laut auf.

»Aber fühlst du das denn nicht, Marion?« fragte Johannes entrüstet, »stört dich denn das nicht, daß sie alle zu denken scheinen, daß sie schöne vornehme glückliche Menschen und etwas viel Besseres sind als du und ich? Während sie im Grunde genommen dumm sind und häßlich.«

Und er dachte an die Menschen, die ihm Wistik gezeigt.

»Nun, und was kümmert mich das?« sagte Marion fröhlich, »wir leben doch davon. Wenn sie nur zahlen, im übrigen können sie mir gestohlen werden. Kees ist noch viel häßlicher. Und den lachst du aus, ebenso wie ich. Warum lachst du denn die dummen Menschen nicht auch aus?«

Nach langem Nachdenken erwiderte Johannes:

»Kees macht mich niemals wütend, aber manchmal, wenn er einem Menschen sehr ähnlich sieht, dann muß ich über ihn weinen, weil er so 'n armes schmutziges Kerlchen ist. Die Menschen aber machen mich wütend, weil sie sich so furchtbar viel einbilden.«

Marion schaute ihn sehr innig an und sagte: »Was für ein guter Junge bist du doch! Sieh mal, die Menschen – und das Publikum – habe ich immer nur als die Leute angesehen, von denen man sein Geld haben muß. Dabei fühle ich nichts anderes als: Geld. Im übrigen pfeife ich auf sie. Aber du pfeifst nicht auf sie, und darum bist du besser als ich. Darum habe ich dich lieb.«

Und schüchtern schmiegte sie ihr blondes Köpfchen mit dem glänzenden kurz geschnittenen Haar an seine Schulter, ein wenig ängstlich seiner harten Mahnung »keine Liebelei« eingedenk.

Die Tage waren lustig, weil das Leben so frei und ungebunden war und weil es so viel Freude machte, Geld zu verdienen, und weil der Spätsommer in den Bergen so wunderbar schön war. Die Nächte aber waren weniger spaßhaft. O, mit was für schmutzigen Kammern und Betten mußten sie fürlieb nehmen, weil Kirmesleute sich nun einmal nichts Besseres leisten können. Es stank dort immer so nach Zwiebeln und gebratenem Fett und nach viel Schlimmerem noch. An der Wand neben dem Kopfkissen waren oft so verdächtige Flecken und die dicken Bettdecken waren so warm und so weich und so unsauber. Auch ohne tatsächlichen Grund, vor lauter Einbildung, juckte es Johannes schon am ganzen Körper, wenn ihnen ihr zweifelhaftes Nachtquartier mit viel Aufhebens als ein »sehr sauberes Zimmer« angepriesen wurde.

Marion nahm das alles viel ruhiger auf und schlief stets sofort ein, während Johannes oft stundenlang wach lag und vor lauter Unruhe über den Schmutz nicht einschlafen konnte.

»Wenn man nur nicht daran denkt, dann schadet's nicht,« sagte sie, »all die andern Menschen leben doch auch darin.«

Und was Johannes ferner noch an Marion bewunderte, das war, daß sie deutschen Beamten, Gendarmen, Offizieren und sich sehr vornehm dünkenden Bürgern gegenüber stets so unerschrocken auftrat.

Ehrlich gestanden, fürchtete Johannes sich sehr vor dieser Art von Menschen. Ein Bahnbeamter mit seiner barschen, unfreundlichen Stimme, ein Schutzmann mit seinen unverbindlichen Manieren, ein hochbrüstig einherschreitender links und rechts auf die Welt herabblickender Offizier, ein sich laut räuspernder Herr mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und edelsteingeschmückten Fingern, der sich mit weithin schallender Stimme Schaumwein bestellte und von sich selber außerordentlich eingenommen zu sein schien – sie alle erweckten in Marion Spottlust und in Johannes eine heimliche Angst. Er fürchtete sich vor all diesen Wesen wie vor unbekannten gefährlichen Tieren, und konnte es nicht begreifen, wie Marion ihnen gegenüber stets so ruhig, ja manchmal sogar recht unverschämt sein konnte.

Als ein Gendarm sie eines Tages nach ihren Pässen fragte, hatte Johannes das Gefühl, als sei nun alles verloren.

Der schnarrenden Stimme, der breiten Brust mit den blitzenden Metallknöpfen und der entschiedenen Forderung gegenüber, die Papiere stehenden Fußes vorzuzeigen, hatte Johannes die Empfindung, als befände er sich der Gesamtmacht des großen Deutschen Reiches gegenüber, und als habe er in Ermangelung des Verlangten keinerlei Gnade mehr zu erhoffen.

Aber voller Bewunderung hörte er, wie ihm Marion auf holländisch zuflüsterte: »Ach was, Junge, laß dich doch durch den dummen Kerl nicht einschüchtern.«

Daß sie den Mut hatte, solch eine einflußreiche Persönlichkeit einen »dummen Kerl« zu nennen, das war in seinen Augen eine bewundernswerte Kühnheit, und er schämte sich seiner eigenen Feigheit gar sehr.

Und wirklich gelang es Marion, den Vertreter der deutschen Macht mit der größten Zungenfertigkeit und nach Vorzeigung einiger Geldstücke zu einem etwas sanfteren Ton zu bewegen und seiner Aussicht endlich völlig zu entrinnen.

Anders aber erging es ihnen, als Keesje es eines Tages in sein dummes Affenköpfchen bekam, hinter dem Rücken eines nichts ahnenden Leutnants, auf dessen Stuhllehne sitzend, über die blitzende Epaulette hinweg nach seiner dicken Zigarre zu greifen, wahrscheinlich um doch endlich einmal festzustellen, was für ein geheimnisvoller Genuß wohl in solch einem Ding verborgen sein mochte. Statt der Zigarre bekam Keesje den hoch aufgezwirbelten Schnurrbart zu packen und hielt ihn in seinem nervösen Schrecken, und als er merkte, daß er etwas Unrechtes getan, krampfhaft fest.

Ein erschreckter, gepeinigter und endlich von allen Seiten ausgelachter Leutnant war so etwa das Entsetzlichste, was sich Johannes in menschlicher Gestalt vorzustellen vermochte. Er erwartete also nicht viel weniger als ein Vorspiel zum jüngsten Gericht – das Ende aller Dinge.

Was dann geschah, das vermochte er in seiner Erinnerung nicht mehr genau auseinander zu halten. Es gab einen allgemeinen Aufruhr, ein Knarren und Klirren eiserner Stühle und Tische und ein gewaltiges Gekreische von feiten Keesjes, der sich anstellte wie die ermordete Unschuld. Aus des Leutnants hochrotem Antlitz hörte Johannes zuerst ein Wort, das andeutete, er habe ihn wegen Ungeziefers im Verdacht. Das ließ ihn indessen völlig kalt, denn er freute sich gerade ganz besonders darüber, daß er bisher ohne Läuse davongekommen war. Darauf sah er, wie nicht der schreiende Kees, sondern Marion selbst, die den Affen an sich gerissen hatte und mit ihm flüchten wollte, gepackt und tüchtig durchgeprügelt wurde.

Da wandelten sich plötzlich seine Gefühle, gleich als würde in dem Theater seiner Seele die Szenerie »Gefängnis« links und rechts weggeschoben, um einer »Gebirgslandschaft im Gewitter« Platz zu machen.

Im nächsten Augenblick schon befand er sich auf dem Rücken des langen Leutnants und schlug, schlug aus Leibeskräften drauf los. Erst auf etwas, das zu wenig nachgab, nämlich auf einen blitzenden schwarzen Helm, danach auf weichere Dinge, vermutlich auf Hals und Ohren. Und gleichzeitig fühlte er sich während einiger Sekunden außerordentlich froh und glücklich.

Indessen wandelte sich auch dieser Zustand wieder im Handumdrehen, denn plötzlich fühlte er sich von Griffen, wie aus Eisen bezwungen und auf die staubige Landstraße geschleudert, die sich vor der Terrasse hinzog. Darauf Marions Stimme, leise und hastig:

»Hast du dir weh getan? Kannst du gehen? Schnell dann, aber wie der Teufel!«

Ohne zu begreifen warum, tat Johannes was sie ihn geheißen. Die Kinder rannten schleunigst den Abhang hinunter, krochen durch das Strauchgewächs eines Parks, kletterten über ein paar niedrige Mauern und flüchteten dann in ein kleines am Ufer des Flusses gelegenes Haus, wo eine alte Frau mit einem schwarzen Kopftuch gerade damit beschäftigt war, Hühner zu rupfen.

Arme und Geringe hatten Johannes und Marion stets freundliche Hilfe zuteil werden lassen, und auch jetzt wurden sie nicht abgewiesen, trotzdem sie sofort eingestanden, daß die Polizei ihnen vermutlich wohl nachspüren würde.

»Ja, Ihr Racker,« sagte die alte Frau mit verschmitztem Lächeln, »dann müßt Ihr nur in den Schweinestall. Da suchen sie nicht, denn da stinkt es ihnen zu sehr. Aber paßt auf, wenn ihr mir die Rike wach macht oder wenn euer Gorilla etwa anfängt mit ihr zu raufen!«

Da saßen die beiden nun im Stall bei der dicken Rike, dem Schwein, das die Gäste grunzend willkommen hieß. Es begann zu regnen und sie verhielten sich mäuschenstill, auch Keesje, der es unbestimmt zu empfinden schien, daß er an diesem traurigen Zustand schuld war. Marion flüsterte:

»Wer hätte wohl gedacht, Hanni, daß du so viel Kurage haben würdest? – Jetzt war ich bange und du schlugst ihm auf den Kopf. Famos, weißt du – darf ich dir jetzt einen Kuß geben?«

Schweigend ließ sich Johannes diesen Dank gefallen. Dann fuhr Marion fort:

»Aber wir sind beide dumm gewesen, ich, weil ich während der Musik nicht auf Kees geachtet habe, und du, weil du mich verraten hast.«

»Verraten?« fragte Johannes verwundert.

»Natürlich,« sagte Marion, »du hast doch gerufen, daß ich ein Mädchen bin.«

»Habe ich das getan?« fragte Johannes. Er hatte es schon ganz vergessen.

»Ja,« sagte Marion, »und jetzt sitzen wir wieder in der Tinte, ganz und gar, weißt du das wohl? Denn hier darf man sich nicht verkleiden, das ist noch viel schlimmer, als wenn man einen Leutnant prügelt. Wir müssen wieder durchbrennen.«

»Hat er dich arg geschlagen?« fragte Johannes, »tut es dir noch weh?«

»Ach,« antwortete Marion leichthin, »ich habe in meinem Leben schon schlimmere Haue bekommen.«

An jenem Abend wurden sie, sobald es zu dunkeln begann, durch den Winzer, den Sohn der alten Frau, aus Rikes gastfreundlicher Behausung befreit und in einem kleinen Ruderboot über den Rhein gesetzt.


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