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Nach langer Zeit richtete er sich wieder auf. Die Sonnenstrahlen fielen schräge hinein und hatten einen rötlichen Glanz. Sie waren wie gerade goldene Stäbe. »Vater! Vater!« flüsterte Johannes.
Draußen erfüllte die Sonne die ganze Natur mit einer Wolke aus golden-leuchtender Glut. Die Blättlein hingen regungslos, und alles schwieg in feierlicher Sonnenweihe.
Und von dem Licht getragen, schwebte ein sanftes Säuseln hinein. Es war als sängen die lichten Strahlen:
Sonnensohn! Sonnensohn!«
Johannes richtete den Kopf auf und lauschte. In seinen Ohren rauschte es:
»Sonnensohn! Sonnensohn!«
Es klang wie Windekinds Stimme. – Nur der hatte ihn so genannt – ob er ihn jetzt wohl rief?
Allein er blickte auf das Antlitz an seiner Seite – und wollte nicht hören.
»Armer, lieber Vater!« sagte er.
Plötzlich aber klang es wieder um ihn her, – von allen Seiten um ihn her – so stark und so eindringlich, daß er vor wundersamer Rührung erzitterte.
»Sonnensohn! Sonnensohn!«
Johannes erhob sich und blickte hinaus.
Was für ein Licht! was für ein strahlendes Licht! Es ergoß sich über die vollen Baumkronen, es funkelte in den Grashalmen und leuchtete an dunklen schattenreichen Stellen. Die ganze Luft war davon erfüllt, bis hoch hinauf in den blauen Äther, wo sich die ersten zarten Abendwölkchen formten.
Über den Nasen hinweg erblickte er die Dünenhänge zwischen den grünen Bäumen und Büschen. Auf ihren Spitzen lag rotes Gold und in ihren Schatten hing des Himmels Bläue.
Ruhig lagen sie dort hingestreckt in einem Gewand aus zarten Färbungen. Das sanfte Wogen ihrer Umrisse war friedenkündend wie ein Gebet. Wieder fühlte Johannes, wie es war, als ihn Windekind einst das Beten gelehrt hatte. War sie da nicht, die lichte Gestalt im blauen Gewande? – Sieh, dort mitten in dem Licht, das da schimmert in einem Dunst aus Blau und Gold. Ist das nicht Windekind, der ihm winkt?
Johannes eilte hinaus in den Sonnenglanz. Dort hielt er einen Augenblick inne. Er empfand des Lichtes heilige Weihe und wagte kaum sich zu regen, so still war das Laub.
Allein da vor ihm war sie wieder, die lichte Gestalt. Es war Windekind, sicherlich! er war es. Das strahlende Köpfchen ihm zugewandt, die Lippen halb geöffnet, gleichsam als wolle er rufen. Er winkte ihm mit der rechten Hand, in der linken hielt er etwas empor. Hoch streckte er es hinauf mit den schlanken Fingerspitzen, daß es blitzte und funkelte in seiner Hand.
Mit einem jauchzenden Jubelruf eilte Johannes auf die geliebte Erscheinung zu. Die aber stieg empor und schwebte vor ihm her mit lachendem Antlitz und winkenden Händen. Hin und wieder berührte sie, langsam herniederschwebend, flüchtig die Erde; dann aber stieg sie wiederum auf, leicht und schnell, und schwebte weiter, wie der Samen, der vom Winde fortgetrieben wird.
Johannes wollte sich gleichfalls erheben und schweben, so wie einst in seinem Traum. Die Erde aber zog seine Füße an sich und schwer blieb sein Schritt auf dem grasbewachsenen Boden. Mühsam mußte er sich seinen Weg bahnen durch die Sträucher, deren Laubwerk raschelnd seine Kleider streifte und deren Zweige ihm das Antlitz peitschten. Keuchend erklomm er die moosigen Abhänge der Dünen. Allein er folgte unermüdlich, und unverwandt hing sein Auge an Windekinds strahlender Erscheinung und an dem, was dort in der hochgehobenen Hand erglänzte.
Jetzt war er mitten in den Dünen. In den glutgetränkten Tälern blühten die Dünenrosen und schauten mit ihren unzähligen mattgelben Kelchen in das helle Licht. Auch viele andere Blümlein blühten dort, hellgelbe, mattblaue und purpurfarbene – und in den kleinen Tälern hing eine schwüle Hitze, die die duftenden Kräuter umfing. Starke harzige Düfte schwebten durch die Luft. Johannes roch sie, während er weiterging – den Duft des Thymians atmete er ein und des trockenen Renntiermooses, das unter seinen Schritten knisterte. Es war berauschend schön.
Und vor dem lieblichen Bilde, dem er folgte, sah er die bunten Dünenfalter einherflattern. Kleine schwarze und rote Schmetterlinge und das Sammetäuglein, das muntere Falterchen mit den seidenweichen Flügeln von zartestem Blau. Um seinen Kopf surrten die goldenen Käfer, die auf der Dünenrose leben, und dicke Hummeln schwirrten summend über dem halbversengten Dünengrase.
Wie köstlich war es und wie glücklich würde er sein, wenn er doch nur bei Windekind wäre!
Windekind aber schwebte weiter und immer weiter fort. Atemlos mußte er folgen. Die großen blaßblättrigen, dornigen Gebüsche hielten ihn zurück und kratzten ihn mit ihren Dornen: die fahlen, molligen Königskerzen schüttelten die langen Köpfe, wenn er sie in seinem eiligen Lauf beiseite drängte. Er erklomm die sandigen Hänge und verletzte sich die Hände an den stachligen Halmen.
Er drang durch die niedrigen Birkenwäldchen, wo ihm das Gras bis an die Kniee reichte und die Wasservögel aus den kleinen Teichen aufflogen, die zwischen den Sträuchern erglänzten. Weißblühender Schlehdorn mischte seinen Duft dem des Birkenlaubes und der Krauseminze bei, die aus dem sumpfigen Boden üppig emporschoß.
Dann aber hörten die Wälder, das Grün und die bunten Blumen auf. Nur die wunderlich mattblaue Meeresdistel wuchs noch zwischen den fahlen, dürren Halmen.
Auf dem Kamm der letzten hohen Dünenreihe sah Johannes Windekind winken. Blendend glänzte das Ding in seiner hocherhobenen Hand. Geheimnisvoll lockend ertönte ein starkes unablässiges Rauschen, von einem kühlen Winde herüber getragen. Es war das Meer. Johannes fühlte, daß er sich ihm näherte, und langsam erstieg er den letzten Hügel. Dort oben fiel er auf die Knie und lange, lange schaute er über die See.
Als er sich über den Dünenrand erhob, umgab ihn eine rote Glut. Die Abendwolken hatten sich um des Lichtes Ausfahrt geschart. Wie ein weiter Ring aus gewaltigen Felsblöcken mit rotglühenden Rändern umgaben sie die untergehende Sonne, über das Meer zog sich ein breiter Weg von lebendigem Purpurfeuer – ein flammender glitzernder Lichtweg, der hinführte bis an die Pforte des fernen Himmels.
Hinter der Sonne, wohin das Auge noch nicht zu blicken vermochte, wimmelten in der Tiefe der Lichtgrotte zarte Schattierungen von Blau und Rosenrot durcheinander. Dort draußen an dem ganzen weiten Himmel leuchteten rote Flammen und Streifen, lichte Flöckchen blutigen Flaumes und Glutflecken wie zerfließendes Feuer.
Johannes wartete – bis die Sonnenscheibe den glühenden Weg, der bis zu ihm führte, an seinem äußersten Ende berührte.
Dann blickte er herab, und ganz nahe war ihm das lichte Bild, dem er gefolgt war. Ein Fahrzeug, klar und glitzernd wie Kristall, trieb auf der breiten Feuerbahn. An dem einen Ende des Bootes stand Windekinds schlanke Gestalt und hielt den goldenleuchtenden Gegenstand in der Hand. An dem andern erkannte Johannes den düsteren Tod.
»Windekind! Windekind!« rief Johannes. Doch während er sich dem wundersamen Fahrzeug näherte, blickte er nach dem Horizont. Inmitten des lichten Raumes, von großen feurigen Wolken umgeben, sah er eine kleine dunkle Gestalt. Die ward größer und immer größer – langsam näherte sich ein Mensch, ruhig über die feurigen, wogenden Wasser daherschreitend.
Die rotglühenden Wellen hoben und senkten sich unter seinem Fuß; allein still und ruhig kam er näher.
Es war ein Mensch: sein Antlitz war bleich und sein Auge tief und dunkel. So tief wie die Augen Windekinds, doch aus ihrem Blick sprach eine unendlich sanfte Wehmut, so wie Johannes sie immer in andern Augen gesehen.
»Wer bist du?« fragte Johannes, »bist du ein Mensch?«
»Ich bin mehr,« sagte er.
»Bist du Jesus? bist du Gott?«
»Nenne jene Namen nicht,« sagte die Gestalt, »die waren rein und heilig wie Priestergewänder und köstlich wie nährendes Korn. Jetzt aber sind sie zum Träber für die Schweine geworden und zum Narrenkleid für die Toren. Nenne sie nicht, denn ihr Sinn ward Verirrung und ihre Weihe Spott und Hohn. Wer mich kennen will, werfe jene Namen von sich und höre auf die Stimme seines Innern.«
»Ich kenne dich! ich kenne dich!« sagte Johannes.
»Ich war es, der dich um die Menschen weinen ließ, während du deine Tränen nicht begreifen konntest. Ich war es, der dich lieben hieß, während du deine Liebe nicht verstandest. Ich bin bei dir gewesen und du hast mich nicht gesehen. Ich habe deine Seele bewegt und du hast mich nicht gekannt.«
»Warum sehe ich dich erst jetzt?«
»Viele Tränen müssen die Augen erhellen, die mich sehen werden, und nicht nur um dich selber allein, sondern auch um mich sollst du weinen, dann werde ich dir erscheinen und du wirst mich erkennen wie einen alten Freund.«
»Ich kenne dich. Ich habe dich wiedererkannt. Ich will bei dir sein.«
Johannes streckte die Hände aus. Der Mensch aber wies auf das leuchtende Fahrzeug, das langsam weiter zog auf seinem feurigen Wege.
»Sieh,« sagte er, »dies ist der Weg zu alledem, was du ersehnt hast. Einen andern gibt es nicht. Ohne diese Leiden wirst du es niemals finden. So wähle jetzt. Dort ist das große Licht. Dort wirst du selber das sein, was du zu kennen begehrst. Dort – und er wies auf den dunklen Osten – wo die Menschheit ist und ihr Weh, dort ist mein Weg. Nicht das Irrlicht, das du ausgelöscht hast, wird dich begleiten, sondern ich. So, jetzt weißt du es, und nun wähle.«
Da wandte Johannes langsam den Blick von Windekinds winkender Gestalt und streckte die Hände dem ernsten Menschen entgegen. Und mit seinem Begleiter trat er, gegen den frostigen Nachtwind kämpfend, den schweren Weg nach der großen finsteren Stadt an, wo die Menschheit wohnt und ihr Weh.
Möglich, daß ich euch ein andermal noch mehr von dem kleinen Johannes erzähle, aber einem Märchen wird es alsdann nicht mehr gleichen.