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An einem frostigen Herbsttage saßen sie zu dritt in einer düsteren Gaststube beisammen, so wie einst in dem Dorf der Bergleute. Und auch ein vierter war noch dabei, aber um den war es gar traurig bestellt
Keesje lag auf Markus' Schoß, in eine kleine Decke aus altem verschossenem mattrotem Flanell gehüllt. Sein dunkles Gesichtchen war voller Falten wie ein alter Schuh; er war klapperdürr, und sein Atem pfiff und keuchte. Ein behaartes Ärmchen kam aus dem roten Flanell zum Vorschein, und ein langes mageres Händchen umfaßte Markus' Daumen. Und wenn Markus seine Hand flüchtig gebrauchen mußte, dann sah man das schwarze Affenhändchen tasten und suchen, und die braunen Äuglein unruhig umherspähen, gleich als ob nun alles Gefühl der Geborgenheit gewichen sei.
Sie hielten sich in dem Abstinenzler-Café auf, denn Roodhuis gewährte Markus noch stets Gastfreundschaft, obwohl das für sein Geschäft nichts weniger als vorteilhaft war. Nach jener Protestversammlung hatte Markus' Anwesenheit bei Roodhuis sämtliche Genossen dazu veranlaßt, das Wirtshaus zu meiden; mit Ausnahme von van Tyn und einigen wenigen Unabhängigen kam von den alten Kunden keiner mehr. Roodhuis wollte es aber trotzdem durchaus nicht dulden, daß Markus etwa fortgehen solle.
»Jetzt wirst du dich nie mehr vor diesem Vieh erniedrigen, das dich doch nicht versteht, und das deiner nicht wert ist«, sagte Marion mit dem Stolz einer, die weiß, wie es in vornehmen Kreisen zugeht, und die sich selbst von besserer Herkunft glaubt.
»Was würdest du tun, Johannes? erzähle mir das mal«, sagte Markus freundlich, während er Keesjes Händchen in den seinen wärmte.
»Ich weiß nicht, Markus«, sagte Johannes. »Es war ein gräßlicher Abend, denn ich konnte es nicht ertragen, daß es dir galt. Aber wenn sie es mir angetan hätten, so würde es mir ganz gleichgültig gewesen sein.«
»Das ist recht«, sagte Markus, »und glaube jetzt nur ja nicht, lieber Johannes, daß ich weniger demütig bin als du. So eingebildet bist du doch wohl nicht, nicht wahr?«
Johannes verneinte kopfschüttelnd.
»Nun denn, es ist nicht die Schmach, die erniedrigt, sondern das niederträchtige Handeln. Und jene Menschen sind meiner Hilfe nicht weniger wert als zuvor. Böse Neigungen sind verirrte gute Neigungen.«
»Dann gibt es auch keine schlechten Menschen«, sagte Marion.
»Ei ei, gibt es denn etwa keine Nacht, weil es kein schwarzes Licht gibt? Nenne du einen Bösewicht nur getrost einen Bösewicht, und sorge nur dafür, daß du selber es nicht bist, Marion.«
»Für den Vater gibt es doch keine Bösewichter, nicht wahr?« fragte Johannes.
»Sollte es für den Vater nicht geben, was es für uns wohl gibt? Er aber weiß um das Wie und Warum, das wir nicht kennen.«
»Aber ich habe gesehen wie du gelitten hast, Markus, an jenem entsetzlichen Abend, und das darf doch nicht sein. Darfst du denn das Hohe und Edle so verkennen und besudeln lassen?«
Markus schwieg und neigte den Kopf über das hustende Äffchen.
Darauf sagte er leise:
»Ich habe gelitten, meine Teuren, weil Vater mir nicht genug Kraft gegeben hat. Saht ihr nicht, wie sie mich einen Augenblick anhörten und mir vertrauten? Aber darauf gab Vater dem Bösen wiederum die Macht, so wie er es häufig tut, ohne daß wir verstehen, weshalb. Hätte ich mehr Weisheit gehabt, so würde ich so gesprochen haben, daß sie mich verstanden hätten. Darum litt ich doppelt durch ihre Bosheit und Torheit, aber ich schämte mich auch, nicht ihretwegen, sondern nur um meiner Schwäche willen. Und ich sage dies, Johannes, auf daß du wissen sollst, was einem geziemt, der doch stärker ist, als du es jemals werden wirst.«
Johannes blickte ihn lange andächtig an, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt, und flüsterte dann:
»Ich glaube, lieber Bruder, daß ich verstehe.«
So wohnten sie einige Zeit beisammen und sahen einander viel. Johannes und Marion verrichteten ihr Tagewerk in dem Kosthause, und Markus begab sich tagein tagaus auf die Arbeitssuche. Johannes aber gewahrte voll Unruhe und Betrübnis, daß er bleicher und müder aussah als sonst, und wenn Johannes während der Nacht wachend dalag, hörte er seinen Bruder, der bei ihm schlief, oftmals seufzen und leise stöhnen.
Und eines Morgens ging Markus nicht aus, denn Keesje lag still und regungslos da und starrte vor sich hin, und konnte sich nicht rühren und nichts essen. Aber sobald Markus seine Hand von ihm nahm, begann er kläglich zu piepen, und dann mußte er so furchtbar arbeiten, um den Schleim aus seiner Kehle loszubekommen. Markus setzte ihn in das bißchen Sonnenschein, das durch das Oberlicht hinten auf den Ladentisch fiel. Und dort lebte er ein wenig auf und schaute nach den Fliegen, die, durch die Kälte träge geworden, langsam an seinem Kopf vorbei und über den Ladentisch krochen. Allein gegen Abend, als Marion heimkam, hatte Keesje ausgelitten.
Er war gänzlich zusammengeschrumpft, und so leicht war er geworden wie ein Bündelchen Heu. Sie legten ihn in ein Zigarrenkistchen und begruben ihn am Abend zu dritt bei dem matten Schein einer kleinen Laterne in dem kleinen schwarzen fettigen Stückchen Erde, das einen Garten vorstellen sollte, und auf dem Abfall und Scherben den Platz von Bäumen und Blumen einnahmen.
Marion und Johannes versuchten tapfer zu bleiben, aber es wollte ihnen nicht gelingen, und einer nach dem andern begannen sie zu weinen.
»Eigentlich dumm, nicht wahr?« sagte Johannes noch immer schluchzend, »wegen solch eines kleinen Tierchens zu weinen. Es sterben so viel tausend Menschen jeden Tag.«
Markus aber antwortete: »Es sterben hier Tausende, und endlos viele allüberall in Vaters Welten. Aber dennoch weint niemand eine Träne zu viel, der so weint, wie ihr jetzt weint. Denn die Tränen, die die Engel um Johannes weinen werden, wird er ebenso nötig brauchen als Keesje die seinen.«