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Nachdem ich als Oberprimaner aus den Weihnachtsferien nach Kottbus zurückgekehrt war, stürzte ich mich Hals über Kopf in die Arbeit, und setzte ich einmal die volle Kraft ein, so ging es schnell vorwärts.
Selbst in der Mathematik hatte ich es dank dem tüchtigen Unterricht des Dr. Boltze so weit gebracht, daß ich der Prüfung unbesorgt entgegensehen konnte. Enger als früher hielt ich mich auch zu den übrigen Primanern, und ihre fröhlichen Kneipereien waren meine beste Erholung.
Den Besuchen auf dem Lande legte ich Beschränkungen auf.
So verging der Januar, und ich war so fleißig, daß ich oft erst lange nach Mitternacht die Bücher zuschlug und Frau Boltze mich einmal in ihrer scherzhaften Weise von oben bis unten anschaute und dann bemerkte, sie müsse mich genau betrachten, um zu sehen, ob ihr »toller Ebers« nicht in Berlin vertauscht worden sei.
Selbst ins Theater war ich noch nicht gekommen, obgleich ich gehört hatte, die aus Frankfurt angekommene von Hoxarsche Truppe sei ausgezeichnet. Was ich früher auf der Kottbuser Bühne gesehen, war indes so erbärmlich gewesen, daß man mir diese Enthaltsamkeit nicht hoch anrechnen darf.
Jetzt wurde besonders die erste Liebhaberin als ein Wunder von Schönheit und als ein hervorragendes Talent, das sich in die kleine Stadt verirrt habe, gepriesen. Das erregte denn doch meine Neugier, und als ein Mitabiturient, der den Schauspieldirektor kennen gelernt hatte, mehrere von uns auf die Seite zog und uns mitteilte, der Leiter der Bühne würde sich freuen, wenn wir bei der nächsten Aufführung der Räuber mitwirken wollten, sagte ich natürlich mein Erscheinen zu.
Es galt, bis zur Unkenntlichkeit verkleidet, die Bande des Karl Moor zu verstärken und »Ein freies Leben führen wir« zu singen. Als wir sechs oder sieben Primaner aus der Hand der Garderobiere und des Friseurs hervorgegangen waren, durften wir sicher sein, der leiblichen Mutter und wie viel mehr noch den Lehrern, die etwa die Vorstellung besuchen würden, unkenntlich zu sein.
Wir machten unsere Sache auch gut, und niemand ahnte in dem überfüllten Hause, wer den Räuberchor so frisch und lebensvoll sang.
Das Treiben auf der Bühne interessierte mich lebhaft, und hinter der Kulisse versteckt sah ich dem großen Teile der Vorstellung zu, bei dem wir unbeschäftigt waren.
Was es da zu schauen gab, lohnte das Hinblicken reichlich; denn der Darsteller war ein ganz junger, von der Natur in jeder Hinsicht reich ausgestatteter Gast des Theaters namens Hugo Müller. Er hatte eine vortreffliche Bildung genossen und das Studium mit der Bühne vertauscht. Später sah ich ihn in Riga, Dresden und Leipzig in sehr verschiedenen Rollen großen Beifall ernten.
Das Spiel der Amalie war dem seinen nicht gewachsen, doch hörte ich von allen Seiten, daß man sie, um ihr gerecht zu werden, im Lustspiele sehen müsse; aber das Auge durfte sich auch im Trauerspiel an ihr freuen.
Eine gleich liebreizende, jugendfrische Amalie hat gewiß selten die Bretter geschmückt, wie die der damals achtzehnjährigen Klara, die als ein Schauspielerkind schon vor geraumer Zeit die Bretter betreten. Ihre großen, frohen blauen Augen eigneten sich schlecht zum Weinen und zum Ausdruck bitteren Seelenwehs, ihr roter Mund, der gern zwei Reihen perlenweißer Zähne sehen ließ, schien nur zum Lachen und zum Küssen geschaffen. Reizende Grübchen in Wange und Kinn verliehen ihrem Antlitz, wenn sie heiter erregt war, eine bezaubernd schalkhafte Anmut, und wie schön war das volle aschblonde Haar dieses von der Natur so reich bevorzugten jungen Geschöpfes, dessen seltene Gaben auch bald darauf in keinem geringeren als dem Dresdener Hoftheater zur Geltung kommen sollten.
In großer Erregung verließ ich die Bühne, obgleich ich kein Wort mit ihrer anmutigen Zierde gewechselt.
Die Folge dieses Theaterbesuches war indes dennoch, daß ich, statt Geschichtszahlen zu lernen, wie ich mir vorgenommen hatte, mein beiseite geschobenes Trauerspiel »Panthea und Abradat« wieder vornahm; denn der Auftritt, in dem die schöne gefangene Fürstin das glühende Werben ihres Hüters Araspes, der die Macht der Liebe bis dahin geleugnet, mit edler Frauenwürde zurückweist, stand mir so lebendig vor der Seele, daß ich ihn aufzeichnen mußte.
Auch in jeder folgenden Nacht fügte ich, sobald die Arbeiten für den Direktor beendet waren, neue fünffüßige Jamben zu der Tragödie, deren Stoff ich der Cyropädie des Xenophon entnommen.
So oft die von Hoxarsche Truppe spielte, ging ich ins Theater. Da sah ich denn die reizende Klara in heiteren Rollen und fand alles, was ich von ihr gehört hatte, weit übertroffen. Ihre persönliche Bekanntschaft zu suchen, ging indes nicht an. Das Examen war so nahe, und es kam dem Gymnasiasten, den es immer noch lebhaft genug zu der anmutigen Gutsbesitzerstochter hinzog, kaum in den Sinn, eine Annäherung an die Schauspielerin zu erstreben. Aber höhere Mächte hatten es übernommen, den Vermittler zu spielen und mich zum Helden einer Novelle zu machen, die so schnell und so viel weniger tragisch als unangenehm endete, daß ich, wenn ich dies Motiv aus dem eigenen Leben in einen Roman verflechten sollte, mich schämen würde, dabei den großen Apparat in Bewegung zu setzen, dessen sich das Schicksal bediente.
Etwas mehr als eine Woche war seit der Aufführung der Räuber vergangen, als eines Tages die letzte Nachmittagsstunde durch Sturmläuten und Lärm auf der Straße gestört wurde. Eine Feuersbrunst war ausgebrochen, und sobald Professor Braune den Unterricht geschlossen hatte, folgte ich draußen dem Menschenstrome, der sich die Straße vor dem Spremberger Tore herunterwälzte. In der an ihr gelegenen Kubischschen Tuchfabrik war der Dampfkessel gesprungen, und dies Ereignis hatte schreckliche Folgen gehabt. Der in der Nähe der Feuerung gelegene Teil des großen Gebäudes war in Flammen geraten und ein großes Stück der eigentlichen Fabrikräume zusammengestürzt.
Als ich mit einigen Kameraden auf dem Schauplatze dieses Unglücks erschien, war man der Flammen schon Herr geworden, doch viele Hände bemühten sich, den Schutt abzutragen, um die Arbeiter zu retten, die unter ihm begraben lagen. Da trat auch ich auf die Trümmerstätte und half eifrig mit.
Es war inzwischen dunkel geworden, und wir mußten beim Schein der Laternen die Hände regen. Mehrere Arbeiter hatte man schon aus den Trümmern hervorgezogen, und sie waren, gottlob, sämtlich am Leben.
Schon hielten wir das Rettungswerk für vollendet, als es hieß, daß noch einige Mädchen fehlten, die sich in einem der unteren Räume aufgehalten hatten.
Dorthin galt es zu dringen; doch dies schien der Qualm und Staub zu verbieten, der die Luft erfüllte, und außerdem drohte neben dem freigelegten Stücke des Gebäudes ein anderes, höheres mit dem Einsturz.
Ein Baumeister, der das Abräumen mit großer Umsicht geleitet hatte, stand dicht neben mir und gab den Befehl, mit dem Einreißen der Mauer zu beginnen; denn das Hinunterdringen würde nur neue Opfer kosten.
Da hörte ich ganz deutlich einen unsagbar jammervollen, langgezogenen Klagelaut. – Ein schmalschulteriger, kränklich aussehender Mann, der trotz seiner sehr schlichten Kleidung den besseren Ständen anzugehören schien, hörte ihn mit mir und das Wort »schrecklich!« drang ihm im Tone des wärmsten Mitgefühls von den Lippen. Hierauf beugte er sich zu dem schwarzen, qualmenden Raume nieder, und ich tat das gleiche.
Da ließ der Jammerruf sich noch kläglicher und lauter vernehmen als vorher. Der Nachbar und ich schauten einander in die Augen, und leise hörte ich ihn die Frage: »Sollen wir?« an mich richten.
Im Nu hatte ich den Rock von mir geworfen, das Taschentuch in die Hand genommen und mich in den qualmenden Raum niedergelassen. Dann war ich mit dem Tuch vor dem Munde durch ein erstickendes Gemisch von Kalk und Sand vorwärts gedrungen.
Den Weg wies mir und dem anderen, der mir ungesäumt gefolgt war, das Ächzen und Jammern der Verschütteten. Mit dem Aufgebot der ganzen Kraft warf ich, ich weiß nicht mehr was, zur Seite, mein Gefährte half, und endlich tauchten zwei weibliche Gestalten aus dem Dunst und Dunkel hervor, in das die Laternen, die man, soweit es anging, zu uns niederließ, unruhige Streiflichter warfen.
Die eine Frau lag am Boden, die andere lehnte auf den Knien an einer Wand. Mein Begleiter erfaßte die Schultern der ersteren, ich die Füße, und so schleppten wir sie wankend nach der nahen Stelle hin, von wo uns das Licht entgegenleuchtete, und laute Zurufe uns begrüßten.
Unser Beispiel hatte etliche andere ermutigt, gleichfalls niederzusteigen.
Sobald sie uns von unserer Last befreit hatten, kehrten wir zurück, um das zweite Opfer zu holen. Mein Begleiter trug jetzt eine Laterne. Das Weib kniete nicht mehr, sondern lag näher dem Zugang in die nur wenige Schritte lange, von gefallenen Steinen und Balken halbverschüttete Gasse, die uns von ihr trennte, mit dem Antlitz nach unten, am Boden. Während des Versuches, uns zu folgen, hatte sie das Bewußtsein verloren.
Wiederum griff ich nach den Füßen. Ich weiß das noch genau, denn halb erstickend erfaßte mich ein leiser Ekel, als ich die blauen wollenen Strümpfe, die, wie die Laterne zeigte, zerrissen und schmutzig waren, mit der Hand berührte. So treu folgte uns auch das Geringfügigste, dem wir eine gewisse Macht über unser Empfinden einräumten, bis an die Pforten des Todes.
Wieder wankten wir vorwärts; doch bevor die Gasse noch hinter uns lag, die in den weiten Raum führte, wo wir die Wanderung begonnen hatten, hörte ich es über mir prasseln, fallen und rutschen, und im nächsten Augenblick dröhnte mir der Kopf, und meine Umgebung begann sich um mich her im Kreise zu drehen. Doch ich ließ die blauen Strümpfe nicht los und taumelte mit ihnen weiter bis in den großen offenen Raum.
Da sank ich in die Knie.
Das Bewußtsein kann ich indes nicht verloren haben, denn lautes Rufen und Schreien drang mir fort und fort ans Ohr. Dann kam ein Augenblick, dem ich wenige im Leben zur Seite zu stellen wüßte. Es war der, an dem ich auf der Spremberger Chaussee die reine Gottesluft mit vollen Atemzügen wieder einsog.
Jetzt fühlte ich auch, daß mein Haar von Blut getränkt war und daß dies einer Wunde am Kopfe entquoll. Doch ich fühlte sie kaum; denn ein dankbares Frohgefühl hob mir die Brust.
Ich behielt auch keine Zeit, an sie zu denken; denn von allen Seiten ward ich von Leuten umdrängt, die mir die Hände schüttelten, mir freundliche Dinge sagten und sich nach meinem Ergehen erkundigten. Am herzlichsten erwies sich der Baumeister, der das Abräumen so tatkräftig geleitet. Winzer war sein Name. Einer seiner Söhne gehörte zu meinen tüchtigsten Mitschülern, und das Wort des wackeren Mannes: »Solche Tollheit laß ich mir gefallen, Herr Ebers,« klang lange noch in mir nach.
Ein stürzender Balken war mir mit allerlei Geröll auf den Kopf gefallen, doch mein damals sehr volles Haar hatte den Anprall aufgehalten, und wenige Tage später begann die gut genähte Wunde schon wieder zu heilen.
Mein Gefährte stand neben mir, und da mein von Blut überschwemmtes Gesicht gefährlich genug aussehen mochte, ersuchte er mich, mit in seine Wohnung zu kommen, die sich in einem nur wenige Schritte von der Unglücksstätte entfernten Häuschen befand.
Unterwegs stellten wir uns einander vor. Er hieß Hering und war der Souffleur des Theaters.
In seinem kleinen Quartier sah es bescheiden genug aus, und als ich ihm beim Schein des brennenden Talglichtes ins Antlitz schaute, begriff ich kaum, wie dieser blasse, höchst schwächliche, engbrüstige Mann solches Wagnis hatte unternehmen und so standhaft mit durchführen können. Ungestraft war es freilich nicht geschehen; denn ein furchtbarer Husten ließ ihn kaum zu Worte kommen. Doch das hinderte ihn nicht, für mich zu sorgen und mir zu helfen, die Wunden auszuwaschen.
Als der Arzt, den man mir nachgeschickt hatte, eben mit seiner kleinen Näharbeit fertig geworden war und uns verließ, trat eine ältere Frau ein, von der es schwer gewesen wäre, zu bestimmen, welchem Stande sie angehörte. Sie trug bunte Blumen am Hut und etwas Samt und Seide am Überwurf, doch ihr gelbliches Gesicht war kaum das einer »Dame«. Sie kam, um für ihre Tochter eine Rolle von Herrn Hering zu holen; denn es gehörte auch zu der Stellung des Souffleurs, die »Partien« für die einzelnen Darsteller auszuschreiben.
Wer aber war diese Tochter?
Fräulein Klara, die schöne Amalie aus den Räubern, die anmutigste erste Liebhaberin des Theaters.
Meine Tochter besitzt ein Autograph von Andersen, das er mir einmal bei Major Serre in Maxen bei Dresden schrieb, und das die Worte enthält: »Das Leben ist das schönste Märchen.«
Ja, märchenhaft genug geht es oft zu in unserem Dasein.
Die Scheherezade »Schicksal« hatte die Brücke gefunden, die den Abiturienten der Schauspielerin zuführen konnte, und die Effekte, deren sie sich dazu bedient hatte, waren nichts Geringeres gewesen als eine Feuersbrunst, eine Lebensrettung und eine Verwundung, sowie die recht unwahrscheinliche gemeinsame Handlung eines Gymnasiasten mit einem Theatersouffleur. Einfachere Mittel hätten freilich den Abiturienten mit dem Examen im Kopfe und der Gutsbesitzerstochter im Herzen, wie gesagt, kaum veranlaßt, eine Verbindung mit der schönen Schauspielerin zu suchen.
Und das Schicksal stieß mich schnell vorwärts; denn die Mutter Klaras war eine enthusiastische Frau, die in jüngeren Jahren selbst die Bühne geschmückt hatte, und ich höre noch ihren begeisterten Ruf im reinsten Deutsch mit dem scharfen »r« des wohlgeschulten Mimen: »Mein lieber junger Herr! Diese Wunde sollte jedes deutsche Mädchen küssen.« Ich sehe sie dem Souffleur entrüstet verbieten, mir sein buntes Taschentuch um die Wunde zu legen, und wie sie in ihrem Samtpompadour nach dem unbenutzten ihren suchte, um mir damit die Stirn zu verbinden.
Am Abend wurde ich bei Boltzes, am folgenden Morgen in der Klasse sehr warm begrüßt. Direktor Tzschirner sagte mir etwas ganz Ähnliches wie der Baumeister Winzer und dazu noch andere Dinge, die mir wohltaten. Ich fühlte mich glücklich, und zu leben schien mir eine Wonne.
Und so wäre es wohl auch geblieben, und ich hätte mich wenige Wochen später nach bestandenem Examen, des Schulzwanges ledig, in die Arme der glücklichen Mutter zurückbegeben, hätte es das tückische Schicksal nicht abermals anders beschlossen.
Diesmal bediente es sich eines Stückchens Leinwand, um mich auf die mir von ihm vorgezeichneten Wege zu führen; denn als die Wunde geheilt war und ich das Taschentuch, womit Klaras Mutter mich verbunden, aus der Wäsche zurückerhalten hatte, entspann sich in mir ein Kampf, ob ich es selbst überbringen oder es ihr vielleicht nur mit einigen Worten des Dankes zurückschicken sollte.
Ich beschloß, den letzten Weg einzuschlagen; wie ich Klara jedoch am nämlichen Abend als jungen Richelieu so wunderhübsch, so keck und munter alle Herzen gewinnen sah, verwarf ich den ersten Entschluß und begab mich in der Abenddämmerung des nächsten Tages zu der Mutter der reizenden Mimin. Bei hellem Sonnenschein hätt' ich diesen Gang doch nicht gewagt; denn die Sache gewann dadurch an Schwierigkeit, daß Klara dem Superintendenten Ebeling, unserem eifernden Religionslehrer, gerade gegenüber wohnte.
Doch die Gefahr steigerte den Reiz, und bevor ich mich dessen selbst versah, stand ich in der großen, netten Wohnstube der Mutter und Tochter.
Es sah da so schmuck und freundlich aus wie bei einem Landpfarrer. Alles stand am rechten Platze, war wohl erhalten und gefällig geordnet. Am Fenster Blumen, auf dem Tisch ein Strauß; dem Lehnstuhle, in dem Klara ihre Rollen lernte, zur Seite hing der Kanarienvogel »Mätzchen«, der ihr überall hin folgte, an der Wand, und an einem Nähtischchen, für die Tochter tätig, saß die sorgsame Mutter.
Ich hatte mir die muntere Liebhaberin wie Philine gedacht und eine köstliche künstlerische Anordnung bei ihr zu finden erwartet; darum überraschte mich die Nettigkeit und Ordnung in dem übrigens jeder Eleganz ermangelnden Zimmer.
Die Tochter nicht zu finden war eine Enttäuschung, und doch fühlte ich mich im Grunde dadurch erleichtert. Das Schicksal wollte mich ungeschädigt aus diesem Sturme hervorgehen lassen; denn Meeresruhe herrschte mitnichten in meiner Brust, seit ich die schmale Treppe zu der Wohnung der Schauspielerin erstiegen. Meine Wünsche waren bescheiden genug, und doch mochte mir ähnlich zumute gewesen sein wie dem Tannhäuser, als er an das Tor des Hörselberges pochte. Der trug »weit höheres Verlangen«; dafür aber war er ein Ritter und ich nur ein Gymnasiast. Als ich der Mutter schon die Hand zum Abschiede reichte, erdröhnte indes das Pflaster von Hufschlag und Rädergerassel, ein geschlossenes Coupé des Fürsten Pückler hielt vor dem Hause, und die Erwartete entstieg ihm.
Übermütig lachend betrat sie das Zimmer; doch da sie mich wahrnahm, ward sie ernster und schaute mich und die Mutter befremdet an.
Eine kurze Erklärung, der Ruf: »Ach, Sie sind der mit der Wunde,« und dann der Beweis, daß sie es nicht war, der dies Zimmer die schöne Ordnung verdankte; denn hierher flog der Mantel, dahin der Hut, dorthin ein Handschuh. In eine Ecke des Zimmers wurde ein Galoschenpärchen und ein Degen auf das Sofa geschleudert.
Nach dieser Entpuppung stand sie vor mir im Kostüm des jungen Richelieu, so verführerisch reizend, so jugendfrisch und munter, daß ich mein Entzücken nicht zurückhalten konnte. Und meine Bewunderung schien sie nicht zu verdrießen; doch ließ sie mir nicht lange das Wort.
Von dem alten Fürsten Pückler kam sie, der sie, da er nie zum Theater in die Stadt fuhr, in dem Kostüm hatte sehen wollen, wovon er so Schönes gehört.
Und der rüstige, frische Greis hatte es ihr angetan. Sie konnte nicht aufhören, von ihm, seiner Klugheit und Liebenswürdigkeit zu erzählen, ja sie versicherte, daß er ihr besser gefalle als die anderen jungen Herren zusammengenommen.
Von seinem Vorleben und seinen Werken wußte sie wenig. Da konnte ich denn nachhelfen und erzählte ihr bald munter, bald ernster von seinen törichten Streichen und ritterlichen Taten.
Es war, als steigere ihre Gegenwart mein Darstellungsvermögen, und als ich mich endlich empfahl, rief sie mir zu: »Nicht wahr, Sie besuchen uns wieder. Wenn man fertig mit der Rolle ist, plaudert sich's am besten.«
Ob ich mir das zweimal sagen ließ? O nein! Auch wenn ich nicht der »tolle Ebers« gewesen wäre, hätte ich ihrer Einladung folgen müssen. Schon am nächsten Abend war ich wieder in dem behaglichen Zimmer, und so oft es anging, mich nach dem Abendessen fortzustehlen, ging es zu dem immer heißer geliebten Mädchen. Da naschte ich noch mit an ihrem bescheidenen Mahle, zu dem ich manchmal eine Flasche Champagner steuerte. Wenn der in den Gläsern perlte und die Mutter und ich auf die künstlerische Zukunft des Klärchen angestoßen und sie uns Bescheid getan hatte, wuchsen meinem Geiste und Gemüte Flügel, und ich riß auch die lebhafte Künstlerin mit fort. Dann sagte ich ihr eigene Dichtungen her, sie ließ mich die Lieblingsstellen aus ihren besten Rollen sehen und hören, und ich sekundierte ihr dabei mit dem Buche in der Hand oder, fehlte dies, in Keilhauer Manier aus dem Stegreif. Dabei gab es des Lachens und Neckens kein Ende.
Doch wir konnten auch ernst sein. Als Fürst Pückler sie als Julie zu sehen gewünscht hatte, ging ich mit ihr diese Rolle durch und danach noch anderes von Shakespeare. Ich las ihr die Königsdramen und große Stellen aus den Tragödien von Sophokles und Äschylos vor, die sie noch nicht kannte; sie aber mußte mir vorführen, was der Fürst von ihr zu sehen verlangt hatte, und ich wurde von aufrichtiger Bewunderung erfaßt, wenn sie mit einem Mantel, einem Schal und wenigen Requisiten sich Stellungen gab, die keinen Zweifel ließen, ob sie die Ophelia, die Luise aus »Kabale und Liebe«, die Jungfrau von Orleans, die Iphigenia, die Emilia Galotti oder die Orsina darzustellen wünschte.
Meine Besuche erschienen mir wie ebenso viele köstliche Feste, und die Mutter Klaras sorgte dafür, daß sie nicht zu lange ausgedehnt wurden und ihr Kleinod ermüdeten. Manchmal schlief sie wohl ein, während wir lasen und plauderten; doch gewöhnlich trieb sie mich mit einem: »Morgen ist auch noch ein Tag,« gegen Mitternacht von dannen.
Die Möglichkeit, zu jeder Zeit in das Haus zu gelangen, hatte ich mir längst vor dem ersten Besuche bei meiner jungen Freundin vom Theater verschafft, und Dr. Boltze ahnte um so weniger von meinen Ausflügen, je eifriger ich nach der Heimkehr bestrebt war, meine Pflicht für die Schule zu erfüllen.
Das klingt wenig glaubhaft, und doch verhielt es sich so; denn von Kindheit an bis auf den heutigen Tag gelingt es mir, wenn ich es mir ernstlich vorsetze, mich über Störungen jeder Art zugunsten der Tätigkeit, der ich mich hinzugeben wünsche, hinwegzusetzen. Bei recht lebendiger Bewegung im Nebenzimmer oder auch bei ziemlich starken Körperschmerzen kann ich mit aller Aufmerksamkeit arbeiten, sobald der Gegenstand, der mich beschäftigt, mich derartig beherrscht, daß er die Außenwelt und mein körperliches Teil in den Schatten und endlich in Vergessenheit drängt. Nur wenn der Schmerz einen sehr hohen Grad erreicht, muß natürlich der ganze Mensch sich ihm beugen.
In den Nachtstunden, die jenen Abendbesuchen folgten, gelang es mir, oft noch zwei bis drei Stunden allen Ernstes für das Examen zu arbeiten, das immer näher rückte. In der Klasse machte sich jedoch die Ermüdung fühlbar und stärker noch die neue Empfindung, die mein ganzes Wesen beherrschte. Hier wurde ich der schönen Erinnerungen an das in den Abendstunden Erlebte nicht Herr, weil ich überhaupt nicht gegen sie anzukämpfen suchte. Die Lampenstündchen, bei denen ich als kleiner Knabe, während die Mutter vorlas, gezeichnet hatte, trugen vielleicht schuld, daß ich während des Unterrichtes, auch bei sehr reger Aufmerksamkeit gern ein Blatt Papier mit Kritzeleien bedeckte. In jener Zeit nun gewann diese Tätigkeit ein neues Gepräge.
Ich bin nicht unbegabt für das Zeichnen und hätte es darin bei gutem Unterricht und einiger Übung zu etwas Rechtem gebracht. Schon damals war es mir ein Leichtes, was das Auge mir je gezeigt hatte, nicht nur kenntlich, sondern bisweilen auch ansprechend und bis zu einem gewissen Grade naturgetreu wiederzugeben. So wurde das Diarium (Kladde) mit Figuren gefüllt, die mich, als ich sie später vor Augen bekam, mit Erstaunen erfüllten; denn die berauschte Phantasie hatte Blatt auf Blatt mit einem wahren Hexensabbat von Kompositionen gefüllt, in denen das wunderlichste Geranke und Geniengewimmel sich mit Blumen, Vögeln und allen Sinnbildern der Liebe vermischte, um die Anfangsbuchstaben oder das Bildnis des Wesens zu umschlingen, das mir die Seele zu so höchst unpassender Zeit gefangen hielt.
Und ähnlich wie auf diesen Blättern sah es in meiner jungen Seele aus. Vom hellsten Lichte der Freude und Glückseligkeit war sie gesättigt, und in den Strahlen der in ihr erwachten Sonnen und Sterne wiegten sich bunte Träume, süße Erinnerungen, hochfliegende Entwürfe, und ließen es sich wohl sein, bis ein Fledermausschwarm von syntaktischen Regeln, mathematischen Formeln, Geschichtszahlen und andern Prüfungsobjekten sich in sie mischte, sie überflog und das glänzende Licht verfinsterte.
Einigen Versen, die damals entstanden waren, danke ich die Erinnerung an ein Traumgesicht, das mir in jenen Tagen erschien. Ich sah mich mitten unter den Rippoldsauer Vögeln, und zwar auf dem Rücken eines Schwanes, der mich wie einen Reiter durch die Lüfte trug. Auf einem anderen Schwane, der sich an der Seite des meinen hielt, saß Klara in hellen Sommergewändern. Unsere Hände ruhten ineinander. Es war ein köstliches Schweben, bis ich mich zu ihr hinneigte, um sie zu küssen. Da verwandelten sich die Vögel um uns her in Wolken, der Schwan unter mir zerrann in Nebel, und ich stürzte in die grundlose Tiefe und stürzte und stürzte, bis ich erwachte.
Diesen Traum hatte ich am Freitag vor Beginn der Woche geträumt, in der die ersten Examenarbeiten geschrieben werden sollten, und er ist doch wohl wert der Erwähnung, denn er ging in Erfüllung.
Daß die schöne Zeit der Glückseligkeit sich dem Ende näherte, brauchte mir freilich kein prophetisches Gesicht zu verkünden; denn ich wußte schon lange, daß die von Hoxarsche Truppe, und Klara und ihre Mutter mit ihr, von Kottbus nach Guben übersiedeln sollten; doch durfte ich hoffen, es werde der Trennung ein baldiges Wiedersehen folgen.
Gewiß war es ein Glück, daß sie ging, und doch trug ich es schwer; denn die Abendstunden, die ich mit ihr in harmloser Heiterkeit und beim Austausch des Besten, das uns beiden Herz und Sinn erfüllte, verlebt hatte, waren gar zu köstlich gewesen. Junge Liebespaare, die auf eine Vereinigung hoffen, reden gern mitten im höchsten Glücke der Gegenwart von ihrer gemeinsamen Zukunft. Wir dachten nicht an eine spätere Verbindung. Das Heute genügte uns völlig. Die Kunst, die ja ewig ist und für die ihr Herz so begeistert schlug wie das meine, gab uns überreichen Stoff zu nie endenden Gesprächen. Daß mir das Beisammensein mit ihr nur als etwas Verbotenes zuteil wurde, verdoppelte dazu den Zauber.
Jeder meiner Besuche war in der Tat mit einer Gefahr verbunden gewesen. Wie vorsichtig hatte ich mich durch den Schatten der Häuser schleichen müssen, um nicht gesehen und erkannt zu werden, bevor und wenn ich ihre Schwelle übertrat. Wie besorgt hatte ich auch nach dem Superintendentenhause hinübergespäht, wenn ich mich nach Hause begab und noch Licht im Studierzimmer des Geistlichen zu sehen war.
Dem Gefürchteten wäre übrigens nichts Unrechtes oder Unziemliches zu Gesicht gekommen, außer dem Kuß, den Klara mir in letzter Zeit gestattete, wenn sie mir die Treppe hinunter leuchtete, oder wenn die Mutter auf einen Augenblick während unseres Lesens und Plauderns entschlafen war; aber das schon hätte genügt, mich ins Verderben zu stürzen und mir den Eintritt ins Examen zu verschließen. Ja, es war gut, daß Klärchen ging!
Am Sonnabend nachmittag sollte die Post Mutter und Tochter nach Guben befördern.
Es war März geworden, und die Sonne schien so hell, die Luft war so warm wie im Mai, und ich hatte der Tochter und Mutter schon selbstgepflückte Veilchen gebracht.
Da kam mir in den Sinn, wie herrlich es sein müßte, bei dem köstlichen Wetter mit dem Klärchen im offenen Wagen durch den erwachenden Frühling zu fahren, und der Lohnkutscher Krüger hatte ein gutes Fuhrwerk. Der nächste Tag war ein Sonntag. Wenn ich sie heute begleitete und in Guben übernachtete, konnte ich morgen zu rechter Zeit wieder daheim sein. Wie oft war ich am Sonnabend aufs Land gegangen und am Sonntag abend wieder zurückgekehrt; ich brauchte Dr. Boltze nur zu sagen, es ginge nach Komptendorf, und den Wagen zu bestellen, um den Abschied von dem lieben Mädchen zu einem Feste zu gestalten.
Und wieder mischte sich das Schicksal in den Verlauf dieser Geschichte; denn als ich am sonnigen Samstagmorgen mit dem knospenden Frühling vor Augen und im eigenen Herzen in die Schule ging, begegnete mir die Mutter Klärchens mit dem Einkaufkörbchen am Arme. Bei ihrem Anblick wandelte der Wunsch sich zum Entschluß. In dem Bäckerladen, dessen Schwelle ich hinter ihr betreten hatte, eröffnete ich ihr meinen Plan. Sie fand ihn wundervoll; denn eine Fahrt in einer offenen Kutsche über Land sei ihr »Ideal«, und sie verhieß mir, in dem Fuhrwerk, das am Nachmittag bei ihr vorfahren werde, an einer bezeichneten Stelle vor der Stadt meiner zu warten. Die Verabredung wurde aufs beste gehalten. Ich fand die Erwarteten auf dem Rendezvousplatze und die Herzliebste frisch wie eine Rose. Im Nu saß ich den beiden gegenüber, und fort ging es durch den Lenz. Wenn Liebe und Wonne ein materielles Gewicht besäßen, hätten die Pferde es schwer gehabt, unseren Wagen in raschem Trabe vorwärts zu ziehen.
Doch sie griffen gut aus bis zum nächsten Chausseehause. Da aber bekam ich selbst den Neid der Götter zu fühlen, mit dem mich bis dahin nur Schillers Ballade bekannt gemacht hatte.
Während nämlich der Chausseeinnehmer mir ein Silberstück wechselte, kam ein Spaziergänger an uns vorüber und schaute aufmerksam in den Wagen und mir gerade ins Gesicht. Es war der Lehrer, dessen freundliche Gesinnung ich mir durch allerlei knabenhafte Schwänke während seines französischen Unterrichtes verscherzt hatte.
Kein anderer war mir übel gesinnt.
Er redete mich auch an; ich aber zog nur den Hut, gab mir das Ansehen, ihn nicht zu verstehen, entnahm dem Säckchen des Einnehmers schnell den Inhalt und rief dem Kutscher ein hastiges »Vorwärts!« zu.
Dem tugendstolzen Herrn war die durchaus wohlbeleumdete junge Schauspielerin nichts als die Histrionin, und daß er es verabsäumt hatte, um der Damen willen, die mich begleiteten, meinen Gruß zu erwidern, entflammte in der lebhaften Klara einen komischen Zorn, der den Gedanken, auszusteigen und mich zu Fuß nach Komptendorf zu begeben, wohin mich mein Pensionsvater auf dem Wege glaubte, im Keime erstickte.
So ging es denn vorwärts.
Klara belohnte mein mutiges Ausharren durch besonders liebenswürdige Heiterkeit, ihr Frohsinn riß auch mich mit fort, und als wir in Guben mit anderen Mimen zu Abend aßen und die muntere Laune dabei bis zum Übermut aufschäumte, war die Gefahr und alles Üble, das die Zukunft bringen konnte, vergessen.
Am folgenden Morgen wohnte ich auf der Bühne noch der Probe bei. Beim Frühstück ließ ich mich von einigen Mitgliedern der Truppe versichern, daß ich es in ihrem Beruf zu etwas Glänzendem bringen könnte und daß mir ihre Freundschaft für das Leben gewiß sei. Dann nahm ich mit Klärchen und der Mutter ein bescheidenes Mahl ein, und als es zum Abschied kam, sagte ich: »Auf Wiedersehen«; denn der Weg nach Berlin führte jetzt über Guben, wo die Eisenbahn begann.
Das Fuhrwerk, das uns dorthin befördert hatte, brachte mich nach Kottbus zurück. Mehrere Mitglieder der Bühne stiegen mit in den Wagen, bis er überfüllt war, und begleiteten mich ein Stück Weges, um dann zu Fuß zurückzukehren. Unterwegs gab es des Lachens und Scherzens genug. Als sie mich verließen, begann es zu dunkeln, doch die Glückseligkeit der letzten Tage leuchtete noch hell in mir nach. Klärchens Bild stellte sich mir samt all dem Köstlichen, das ich mit ihr und durch sie genossen, vor das innere Auge. Ich hörte sie plaudern, scherzen, deklamieren, sah sie mir zum Vergnügen – es stand ihr so reizend – das Näschen zusammenziehen, »wie die Hasen schnuppern«, oder mit dem Kanarienvogel Mätzchen kosen und ihm ein Stückchen Zucker mit den frischen Lippen darbieten. Auch ihr echt künstlerischer Vortrag mir lieber Stellen aus den schönsten Dramen, ihre Stellungen und das Mienenspiel, das mich dabei in Entzücken versetzt hatte, traten mir ins Gedächtnis zurück. Gleichsam zum zweiten Male genoß ich all das vergangene Schöne.
Je näher ich aber der Stadt kam, desto häufiger warf sich mir die bange Frage auf, ob der Französischlehrer unsere Begegnung nicht zum Gegenstand einer Anklage machen würde. Er hatte mich schon um höchst geringfügiger Unregelmäßigkeiten willen beim Direktor denunziert und würde es diesmal sicher nicht unterlassen.
Aber mochte er doch!
War es denn ein Verbrechen, mit einer jungen Dame, deren Ruf tadellos und deren Talent allgemein anerkannt wurde, unter dem Schutz ihrer Mutter eine Spazierfahrt unternommen zu haben?
Ich war doch kein Kind mehr!
Wieviele Kameraden, und unter ihnen mein eigener Bruder, mit dem ich alles geteilt hatte, trugen schon im Dienste des Königs die Epauletten und durften sich straflos ganz andere Dinge erlauben.
Ich stand schon im zwanzigsten Jahr, denn ich hatte den neunzehnten Geburtstag gefeiert.
Nein, ich hatte kein Unrecht begangen!
Nur die Angabe, daß ich nach Komptendorf zu gehen beabsichtige, war strafbar; doch das ging allein den Pensionsvater an, den ich falsch unterrichtet.
Zuletzt entschlummerte ich, und wiederum erschienen mir im Schlaf die Rippoldsauer Vögel.
Als die Räder über das städtische Pflaster rasselten, ward ich aus dem Traume gerissen. Ob der mit den Schwänen von neulich sich jetzt schon der Erfüllung nahte?
Zu guter Zeit betrat ich das Haus.
Boltzes warteten meiner.
Der Frau Doktor bekümmertes Ansehen verriet deutlicher als die zusammengezogenen Brauen ihres Gatten, was geschehen war.
Der Französischlehrer hatte meinem Tutor ungesäumt berichtet, wo und mit wem er mir begegnet sei. Er war in ihn gedrungen, sich in Komptendorf zu erkundigen, ob ich in der Tat dort verweile. Dann hatte er sich in Klaras Wohnung begeben, um die Wirtin und ihre Magd zu verhören. Endlich war der Lohnkutscher und ich weiß nicht wer sonst noch ausgefragt worden.
Das gesammelte Beweismaterial ergab, daß ich allerdings mehrmals der Schauspielerin Besuche abgestattet hatte und zwar stets gegen Abend. Darauf fußte die Anklage, die bereits gegen mich eingereicht worden war.
Mein Traum schien mir so gut wie erfüllt. Nachdem ich aber dem Boltzeschen Paare alles der Wahrheit gemäß bekannt hatte, ließ es sich mit mir in eine ruhige Besprechung ein. Der Doktor gab noch nicht alles verloren, doch ließ er es natürlich nicht an Vorwürfen fehlen. Der Groll besonders der Frau Doktor richtete sich übrigens weit entschiedener gegen den Angeber als gegen das Vergehen ihres Schutzbefohlenen.
Nach einer unruhigen Nacht begab ich mich zum Direktor Tzschirner und erzählte ihm alles, ohne auch nur das geringste zu verschönern oder zu verbergen. Wohl rügte der wackere Mann meinen Leichtsinn und die mir mangelnde Rücksicht auf die Lebensstellung, in der ich mich doch noch befinde; aus jedem seiner Worte und jeder Miene seines ausdrucksvollen Gesichtes ließ sich aber erkennen, daß ihm das Vorgefallene nahe ging, daß er es gern ungeschehen gemacht und milde bestraft hätte. In späteren Jahren bestätigte er es mir selbst.
Mit dem Versprechen, in der Konferenz, die er nach dem Schlusse des Nachmittagsunterrichts einberufen werde, alles aufzubieten, um mich vor der Ausschließung vom Examen zu bewahren, verließ er mich – und er hielt Wort.
Ich weiß es, da es mir gelang, dem Verlauf der Verhandlung mit dem Ohre zu folgen. Der »Kalfakter« oder Hausmann des Gymnasiums war nämlich der Vater des Jungen, den Löbenstein und ich zum Putzen der Stiefel und so weiter hielten. Er war ein tüchtiger, höchst anhänglicher Bursche, den wir Fridolin oder den »frommen Knecht« nannten, und der sich in seinem Jäckchen mit metallenen Knöpfen allerliebst ausnahm. Ihm ging der Gedanke, sich von mir zu trennen, besonders nahe. Unter den Gratulationen, die ich dreißig Jahre später an meinem fünfzigsten Geburtstage empfing, befand sich auch die seine. Zu meiner Freude erfuhr ich durch sie, daß es ihm gut ging. Auch sein Vater war mir gewogen und ermöglichte mir den Eintritt in ein dem Konferenzraum benachbartes Zimmer. Er war ein gewissenhafter, unbestechlicher Mann; um der Besonderheit dieses Vorfalles willen gab er indes meinen Bitten nach, und ich bin ihm heute noch dafür erkenntlich; denn seiner Gefälligkeit schulde ich es, daß ich derer ohne Groll zu gedenken vermag, deren Strenge mir ein halbes Lebensjahr raubte. Heute noch kann ich ihr Urteil nicht billigen; denn ich wurde für nichts anderes bestraft als für den Besuch einer wohlbeleumdeten Schauspielerin und eine Spazierfahrt mit ihr in Gesellschaft ihrer Mutter. Die falsche Angabe des Zieles meines Ausfluges kam mit keinem Worte zur Sprache.
Diese Konferenz lehrte mich vor allem, einen wie warmen Freund ich mir an dem Direktor Tzschirner gewonnen, sie zeigte mir, daß der Professor Braune mir innig wohlgesinnt war, und ich erinnere mich deutlich, wie mein Herz von warmer Dankbarkeit überfloß, als der Direktor den anderen Herren ein Bild meiner Persönlichkeit entwarf, meine rettende Tat in der Kubischschen Fabrik lebhaft hervorhob, sie beschwor, sich in die eigene Jugend zurückzuversetzen, und ihnen in beredten Worten ans Herz legte, sich das Geschehene unbefangen zu vergegenwärtigen. Wie ich nun einmal sei, hätte ich meine Natur verleugnen müssen, um anders zu handeln. Ich wäre einfach nicht mehr ich selbst gewesen, wenn ich die Verkettung von Umständen, die mich mit der Schauspielerin zusammengeführt, nicht benützt hätte, um mit einem so anmutigen Wesen bekannt zu werden.
Zu meiner frohen Überraschung gab der Superintendent Ebeling ihm darin recht und widmete mir und Klara, nach deren Lebensführung er sich erkundigt, so freundliche Worte, daß ich schon hoffte, auch ihn auf meiner Seite zu haben. Leider aber hob das Ende seiner Rede alles wieder auf, was der Anfang mir in Aussicht gestellt hatte.
Es würde zu weit führen, den Verlauf dieser Verhandlung eingehend weiter zu schildern. Ich vermöchte es auch nicht, ohne der eigenen Einbildungskraft großen Spielraum zu gewähren. Kurz, die Mehrheit beschloß, trotz der stürmischen Gegnerschaft des Angebers, mich nicht zu relegieren, mich aber für diesmal vom Examen auszuschließen und mir den Rat zu erteilen, die Schule zu verlassen. Wenn ich dennoch vorziehen sollte, sie weiter zu besuchen, sei mir dies zu gestatten.
Beim Schluß der Sitzung stand ich schon auf dem Platze vor dem Gymnasium, näherte mich dem Direktor, dessen glühende Wangen, die sich zu meinen Gunsten gerötet, ich gern in kindlicher Dankbarkeit geküßt hätte, und bat ihn, mir zu erlauben, heute noch aus der Schule zu treten.
Da flog ein Lächeln der Befriedigung über seine mannhaften, durchgeistigten Züge, und ungesäumt erfüllte er meinen Wunsch.
So hatte denn meine Kottbuser Gymnasialzeit ein Ende genommen und leider in anderer Weise, als ich gehofft.
Beim Abschied fühlte ich doch, wie eng vier Jahre des heiteren und bisweilen auch ernsten Beisammenseins die Menschen verbinden.
Als ich dem Direktor und seiner Gattin zum Lebewohl die Hand drückte, konnte ich den Tränen nicht gebieten. Auch ihm wurden die Augen feucht, und was ich schon auf der Konferenz von ihm vernommen, das wiederholte er mir nun selbst und bald darauf auch meiner Mutter in dem Briefe, den er an sie schrieb, um ihr meinen Austritt aus der Schule zu erklären.
In dem wohlwollenden Abgangszeugnis, das er mitsandte, stand kein Wort, das auf einen unfreiwilligen Austritt aus der Schule oder den Rat, sie zu verlassen, gedeutet hätte.
Auch die Trennung von Boltzes und besonders von der allzeit frischen und tätigen Frau Doktor, von Löbenstein, Schlieben, Panck, Albin und anderen Freunden wurde mir nicht leicht; auf das Land aber kam ich nicht wieder; denn es war mir peinlich, ohne mein Ziel erreicht zu haben vor diejenigen zu treten, die sich mir dort freundlich erwiesen. Die anmutige Gutsbesitzerstochter, deren Bild durch das Klärchen so tief in den Schatten gedrängt worden war, sah ich erst wieder, nachdem wir beide längst in den Hafen der Ehe eingelaufen waren.
Als ich auf der Heimreise Guben noch einmal berührt und Klärchen Lebewohl gesagt hatte, war mein Traum, so gut man es von einem so luftigen Propheten verlangen kann, tatsächlich in Erfüllung gegangen. Unser köstliches Beisammensein hatte mit einem jähen Sturze geendet. Glücklicherweise traf er mich allein; denn zu meiner Freude erfuhr ich wenige Monate später, daß Klara an der Dresdener Hofbühne mit Erfolg aufgetreten und als muntere Liebhaberin engagiert worden war.
An sie gedacht habe ich oft genug, und so üble Folgen unsere Begegnung auch nach sich ziehen sollte, möchte ich die Erinnerung an sie doch nicht missen. Sie zu der Meinen zu machen, war mir nie in den Sinn gekommen, und doch hatte mich eine echte, rechte erste Liebe mit ihr verbunden. Wie ein Herz und Sinn bestrickendes Lied, dessen Zauber auch der Mißklang, mit dem es endet, nicht beeinträchtigen kann, war diese junge Minne mir durch die Seele gezogen.
In Berlin wurde ich natürlich weniger froh als sonst empfangen, doch die Briefe des Direktors Tzschirner und der Frau Voltze lehrten die Mutter das Vorgefallene im rechten Lichte betrachten; ja, als sie sah, wie nahe mir die Trennung von dem Mädchen ging, dessen frohe Anmut mir immer noch Herz und Sinn erfüllte und dessen Bild sie lange und mit stillem Wohlgefallen angeschaut hatte, verwandelte sich die Unzufriedenheit über den Leichtsinn des Sohnes in Mitleid. Sie nahm auch wahr, wie schwer es mir fiel, mich den Freunden und dem Vormunde, die mich als Studenten wiederzusehen erwartet hatten, zu zeigen, und fester denn je zog sie den fröhlichen Liebling, den sie nun zum erstenmal ihren »armen Jungen« nannte, ans Herz.
Dann faßten wir die Zukunft ins Auge, und es wurde beschlossen, daß ich am Gymnasium des schön und gesund gelegenen Quedlinburg das Abiturium machen sollte. Das Haus des dortigen Professors Schmidt war uns dringend empfohlen worden, und so wurde es denn auch für mich erwählt.
Diesmal sollte sich der Rat der Kundigen bewähren. Voll der besten Vorsätze fuhr ich auf der Eisenbahn der neuen Heimat entgegen. In Magdeburg sah ich indes an einem Schaufenster einen ganz besonders geschmackvollen Damenhut mit Maiglöckchen und Moosrosenknospen, ein Ding wie ein Hauch. Sein Anblick stellte mir das Klärchen, damit geschmückt, vor das innere Auge, und es zog mich gewaltsam in den Laden. Das Hütchen war ein Pariser Modell, das mir recht teuer vorkam; ich opferte aber dennoch den größten Teil meines Taschengeldes und ließ es derjenigen schicken, deren Bild mir noch immer die ganze Seele erfüllte. Bis dahin hatte ich ihr nichts geschenkt als ein kleines Medaillon und recht viele Blumen.