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Die erste Lernzeit – Die Schwestern und ihre Freundinnen

Lesen, erzählte mir die Mutter, habe man mich eigentlich nie gelehrt. Der anderthalb Jahre ältere Ludo wurde in dieser Kunst unterrichtet, ich saß spielend daneben, und eines Tages nahm ich die Speckterschen Fabeln zur Hand und las den Anwesenden einige Worte vor. Nun ward mein Vermögen geprüft, und da man fand, daß ich nur noch der Übung bedürfe, um auch Schriften, die ich nicht auswendig konnte, zu lesen, tat man mich mit dem Bruder zusammen, und wir wurden hinfort gemeinsam unterrichtet.

Anfangs besorgte dies die Erzieherin, dann aber gab man uns in eine kleine Schule, die ein Herr Liebe in der nahen Schulgarten-(jetzt Königgrätzer)Straße hielt. Sie wurde fast nur von Kindern aus uns bekannten Familien besucht, und der Direktor war ein freundlicher kleiner Mann in mittleren Jahren mit einem runden, gutmütigen Gesichte, der uns mehr im Sande seines Gärtchens graben oder spielen und singen als ernstlich arbeiten ließ.

Sein einziges Kind, ein hübsches kleines Mädchen namens Klara, wurde mit uns unterrichtet, und ich glaube, daß ich Herrn Liebe die Kunst des Schreibens verdanke. Im Sommer unternahm er auch größere Spaziergänge mit uns, die mehrmals auf das Gut des von den Landwirten hochgeschätzten Herrn Körte führten.

Von solchen Wanderungen, an die sich später andere schlossen, die wir mit dem Sohn und Hauslehrer einer befreundeten Familie machten, brachten wir der Mutter immer große Sträuße nach Hause, oft aber auch schöne Geschichten; denn der Hauslehrer, von dem ich sprach, ein Kandidat Woltmann, verstand ganz wunderschön zu erzählen; mir aber war es früh ein Bedürfnis, was ich Fesselndes gehört hatte, diejenigen, die ich liebte, später mitgenießen zu lassen.

Von diesem sinnigen und kinderfreundlichen Manne vernahm ich zuerst die Namen der griechischen Heroen, und ich weiß, daß ich nach der Heimkehr von einem solchen Spaziergange die Mutter bat, uns Schwabs Sagen des klassischen Altertums zu schenken, die einer der Knaben, die mitgewandert waren, besaß. Schwab. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Stuttgart 1838–40. Jetzt in neuen Ausgaben erschienen. Wir bekamen sie denn auch zu Ludos Geburtstag im September, und wie lauschten wir, als sie uns vorgelesen wurden, wie oft versenkten wir uns selbst in den köstlichen Inhalt.

Ich meine, daß die Geschichte des trojanischen Krieges mich tiefer ergriff und erregte als selbst die Märchen der »Tausendundeine Nacht«. Die Helden des Homer erschienen mir wie Rieseneichen, die die kleinen Bäume des mir bekannten Menschenwaldes hoch überragten. Wie herrliche Schneeberge beherrschten sie die Hügel, an denen meine kindliche Vorstellung schon reich war, und wie oft haben wir »Trojanischer Krieg« gespielt und nach der Ehre gegeizt, den Hektor, Achill oder Ajax darzustellen. Sehr entschieden standen die Trojaner mir stets näher als die Achäer! Vielleicht weil ihr schweres Geschick mein junges Herz mit Mitleid erfüllte. Wie der Majorität und dem Sieger der Erfolg, so sicher pflegt ja auch der Minorität und dem Unterliegenden die menschliche Teilnahme zu gehören.

Jenem Kandidaten Woltmann, dem ich den ersten Blick in das griechische Altertum verdanke, bin ich vor wenigen Jahren als greisem evangelischen Pfarrer im Hause des Konsuls Valentiner zu Wiesbaden wieder begegnet. Er erinnerte sich unserer Spaziergänge noch sehr wohl, und wie freute ich mich, als der würdige Geistliche, dem diese Zeilen auch noch in einer früheren Ausgabe zu Gesicht kamen, der Mutter mit Rührung und in jugendlicher Begeisterung gedachte.

Von Herrn Liebe, unserem Direktor, weiß ich nur noch dreierlei zu berichten. Am Geburtstage seiner Tochter traktierte er uns mit Kuchen und Wein, und dabei mußten wir ein von ihm selbst gedichtetes Festlied singen, dessen Refrain, in dem jedes Jahr die Zahl geändert wurde, ich im Gedächtnis behielt. Er lautete also:

»Klärchen mit den blauen Augen,
Klärchen mit dem blonden Haar
Heißt nun nicht mehr Kikel-Kikel-Kakel,
Denn es wird ja heut schon sieben Jahr!«

Wie wir uns, als sie acht Jahre alt wurde, mit dem Versmaß auseinandersetzten, weiß ich auch noch. Es wurde gesungen:

»Denn es wird ja heute schon acht Jahr.«

Karl von Holtei hatte es schwerer, als ihm aufgetragen wurde, nach dem Tode des Kaisers Franz das schöne »Gott erhalte Franz den Kaiser« dem Namen seines Nachfolgers Ferdinand anzupassen. Er zog sich indes witzig genug aus der Affäre, indem er singen ließ: »Gott erhalte Ferdinandum.«

Zweitens halfen wir Herrn Liebe, der mit zum Kirchenvorstand gehörte und das Ehrenamt des Klingelbeutelumhertragens übernommen hatte, das eingekommene Geld sortieren, und es ergötzte uns weidlich, ihn – wie recht hatte der Mann! – aufbrausen zu sehen, wenn sich unter den Silber- und Kupfermünzen, was leider beinahe regelmäßig geschah, Zahlpfennige und – ich habe sie selbst in der Sand gehalten – Knöpfe von verschiedenen Kleidungsstücken befanden.

Drittens habe ich Herrn Liebe zu beschuldigen, auf unser Betragen nach der Schule zu wenig geachtet zu haben. Hätte er das Auge besser offen gehalten, wäre uns jedenfalls mancher blaue Fleck und unseren Kleidern manche Wunde erspart geblieben; denn so oft es anging, begaben wir uns aus der Schulgartenstraße nicht direkt nach Hause, sondern durch das Potsdamer Tor auf den Platz hinter ihm. Dort lauerte der Feind, und wir suchten ihn auf. Er bestand aus Mitgliedern einer Schule von bescheidenerem Schlage, die uns »Geheimratsjören«, was wir ja meistenteils waren, und die wir dafür »Knoten« riefen. Dies Wort ist übrigens von ursprünglich nichts weniger als beleidigender Bedeutung, da es infolge eines leicht verständlichen sprachlichen Vorgangs aus dem älteren »Genote«, das ist Genosse, entstand.

Wer uns deswegen des Hochmutes zeihen wollte, würde uns unrecht tun. Kinder raufen sich nicht regelmäßig mit denen, die sie verachten. Das »Knote« sollte nur ihr »Geheimratsjören« übertrumpfen. Hätten sie uns »dumme Jungen« genannt, wären sie dafür wahrscheinlich »Wasserköpfe« oder so ähnlich gerufen worden.

Die Führer dieser schon vor Beginn des Kampfes keineswegs sorglich gekleideten Schar entstammten einem sogenannten Blumenkeller, das heißt einer unterirdischen Verkaufsstelle von Pflanzen, Kränzen und so weiter am Anfang der Leipziger Straße, zu dem vom Bürgersteige aus eine Treppe hinabführte. Oft kamen sie uns von selbst entgegen; im entgegengesetzten Falle aber lockten wir sie mit bestimmten Rufen aus ihrem Keller hervor. Sobald sie erschienen waren, schlüpften wir in einen Haushof, und wie oft kam es dort zu einer Schlacht, bei der die Schulmappe als Schutz- und Trutzwaffe diente. Auch der »Feind« führte solche, und oft genug haben wir sie einander an die Köpfe geschlagen. Wenn der Zorn mich ergriff, war ich wild wie ein Kampfhahn, und auch der gelassene Ludo schlug derb genug zu, sobald ihm die Ruhe getrübt worden war. Das gleiche darf ich den meisten »Geheimratsjören« und auch den »Knoten« nachsagen. Zu einem entscheidenden Erfolge gelangte der Kampf nur selten; denn der Portier oder ein Hausbewohner machte ihm fast immer ein vorzeitiges Ende. Ich erinnere mich noch einer dicken Frau, wahrscheinlich einer Köchin, die mich am Kragen festhielt, mich auf die Straße stieß und dabei ausrief: »Pfui doch; solche junge Herren sollten sich was schämen!«

Doch Hegel, dessen Einfluß damals in den gelehrten Kreisen Berlins noch so groß war, hatte Scham »Zorn gegen die Natürlichkeit« genannt, und das Natürliche gefiel uns. So wurden denn die Kämpfe gegen die »Knoten« fortgesetzt, bis die Berliner Revolution ernstere Kämpfe hervorrief und die Mutter uns fort nach Keilhau schickte.

Mich wundert, daß sie nie von diesen ersten Kriegstaten ihres Ludo, der später Offizier wurde, und den meinen erfuhr; denn sie kräftigten uns den Mut und die Arme, und was sie den Kleidern zuleide taten, wurde schnell von der guten Auguste, dem Stubenmädchen, unsichtbar gemacht.

Doch es kam keineswegs täglich zu solchen Kämpfen. Es mußten vielmehr viele günstige Gelegenheiten zusammentreffen, um uns den Kriegspfad zu ebnen.

Auch die Schwestern besuchten die Schule, und zwar die des Fräulein Sollmann in der Dorotheenstraße, die für die Geheimratstochter das war, was die Liebesche für uns. Dennoch wurde uns, ich weiß eigentlich nicht recht wozu, ein Hauslehrer gehalten. Hatte die Mutter doch von unseren Raufereien gehört, sah sie die Unmöglichkeit ein, uns überallhin zu folgen, sollte uns der Kandidat in die Anfangsgründe des Lateins einführen und uns bei der Anfertigung der Arbeiten überwachen, nachdem wir am Anfang meines zehnten Jahres in die Schmidtsche Schule auf den Leipziger Platz gekommen waren – ich versäumte es, sie danach zu fragen. Es sind ihrer mehrere gewesen, doch hat keiner auch nur den geringsten Einfluß auf meine geistige oder gemütliche Entwicklung gewonnen. Von dem ersten weiß ich, daß er das Haus verlassen mußte, weil er spät in der Nacht betrunken heimgekehrt war. Der arme Schelm hatte, wie ich später erfuhr, nur bei dem Stiftungsfeste seiner Verbindung zu viel des Guten getan; doch konnte die Mutter als alleinstehende Frau solche Ungehörigkeit allerdings nicht durchgehen lassen.

Die Osterferien führten Bruder Martin regelmäßig nach Hause. Dann erzählte er uns von Keilhau, und wir brannten darauf, ihm folgen zu dürfen; und doch hatten wir daheim so viele gute Schulkameraden und Freunde, so weite Tummelplätze und schöne Spielsachen. Besonders gern gedenke ich der Zinnsoldatenarmee, die wir Schlachten ausfechten ließen, und der Messingkanonen, womit wir ihre Reihen zusammenschossen. Mit den Baukästen konnten wir Schlösser und Dome errichten, und auch das Kochen machte uns noch Freude, wenn die Schwestern uns gestatteten, mit weißen Schürzen und Mützen die Küchenjungen und Aufwärter zu spielen.

Martha, die älteste von uns, war schon ein großes Mädchen, aber so sanft und freundlich, daß wir nie zu fürchten brauchten, von ihr zurückgewiesen zu werden. Auch ihre Freundinnen mochten uns Kleine gern.

Besonders Marthas Altersgenossinnen bildeten einen Mädchenkranz von seltener Anmut. Da war die schöne Emma Baeyer, die Tochter des Generals Baeyer, der später die mitteleuropäische Gradmessung leitete, da die hübsche, muntere Anna Kisting, da Gretchen Kugler, ein wunderschönes, heiteres Mädchen von seltenem weiblichen Liebreiz, das später Paul Heyse die Hand reichte und ihm in jungen Jahren entrissen wurde, da Klara und Agnes Mitscherlich, die Töchter des berühmten Chemikers, zwei hochbegabte Mädchen mit vornehmer Anmut, von denen die jüngere meinem Kinderherzen besonders lieb war. Ein freundliches Ungefähr fügte es, daß ich mit drei von diesen Mädchen, die mich als Kind gekannt hatten, in Leipzig wieder zusammentraf. Klara Mitscherlich wurde die Gattin des berühmten Physikers Professor G. Wiedemann, Emma Baeyer die des gelehrten fein- und scharfsinnigen Verfassers der Geschichte der römischen Dichtung, des Philologen Professor Otto Ribbeck, und Agnes Mitscherlich heiratete den unvergeßlichen Bonner Chirurgen Busch. Auch die gute, immer gleich freundliche Gustel Grimm, die Tochter Wilhelm Grimms, kam öfter zu uns; meine Herzenskönigin aber war die Schwester unseres Spielkameraden Max Geppert, die reizende Tochter des Justizrats Geppert, die leider aus einer glücklichen Ehe von Mann und Kind jung abgerufen wurde, damals aber wohl die beste Freundin meiner jüngeren Schwester Paula war.

Diese beiden hatten auch Tanzstunde zusammen, und kein schöneres Fest, als wenn sie bei uns abgehalten wurde; denn bisweilen erwiesen die jungen Damen auch uns die Gnade, uns zu beachten und mit uns zum Klange der winzigen Geige des Herrn Guichard zu tanzen.

So heiß meine Liebe zu dem schönen Annchen aber auch war, hätte sie der Angebeteten doch beinah eine Erkältung zugezogen; denn ich Bösewicht versteckte während einer Tanzstunde an einem regnerischen Sonnabendabend ihre Überschuhe, um sie ihr am nächsten Morgen wiederbringen zu dürfen.

Für sie hat mein Herz zuerst schneller geschlagen, und da man sich einen Spaß daraus machte, mich mit meiner Neigung zu necken, glaubte ich jahrelang an sie, und wenn es von Keilhau aus in die Ferien ging, freute ich mich vor allem auf das Wiedersehen mit Annchen Geppert. Ich glaube auch heute noch, daß sie rot wurde, als ich ihr, zwölf oder dreizehn Jahre alt, bekannte, sehr oft an sie gedacht zu haben – und dies Erröten machte mich glücklich.

Sie sah damals der Frau ähnlich, mit der ich vor sechs Jahren die silberne Kochzeit feierte, und gehörte sicherlich zu dem nämlichen weiblichen »Genre«. Das halte ich wert und stelle es so hoch über alle anderen wie Simonides von Amorgos die Frau, die der Biene gleicht, den übrigen Frauen vorzog. Ich meine das Genre, bei dem uns das echt Weibliche und die sanfte Anmut das Herz berührt, bevor wir noch nach Geist und Schönheit fragen.

Die Mutter lächelte über dergleichen, und ihre Töchter machten es ihr, so lange sie als Mädchen bei ihr weilten, leicht, ihr – so mußte es uns wenigstens scheinen –- schwer zu gewinnendes Herz zu behüten.

Nur einen Knaben zog Paula den anderen vor, und das war der hübsche blonde Paul, der Freund, Spießgeselle und Altersgenosse unseres Martin, der Sohn unseres Nachbars, des Geheimrats Seiffart. Und das Leben führte uns oft genug zusammen; denn seine Mutter und die unsere waren Herzensfreundinnen, und ihm stand unser Haus ebenso offen wie uns das seine.

Paul war am nämlichen Novembertage, wenn auch mehrere Jahre früher geboren als meine Schwester, und ihr gemeinsames Wiegenfest wurde, solange wir klein waren, bei den Nachbarn durch eine Puppenkomödie gefeiert, die in dem großen Seiffartschen Saale irgendein Meister seines Faches auf einer hübschen kleinen Bühne aufführte. Diese Vorstellungen sind mir unvergeßlich geblieben, und ich lache noch, wenn ich des Ritters gedenke, der seinem Diener Kasperle zuruft: »Fürchte meinen Zwirn!«, was »fürchte meinen Zorn« bedeuten sollte, oder desselben Kasperle, wie er sein Weib mit einem Pfahle kurz und klein schlägt und es dann fragt: »Noch ein Lot ungebrannte Holzasche, mein Puttchen?«

Zu diesen Komödien ging Paula gern; sie war aber von Kind an ein höchst eigenartiges junges Geschöpf, dem keineswegs alle Vergnügungen ihres Alters zur Freude gereichten. Als Erwachsene konnte die Mutter sie oft nur schwer bewegen, einen Vall zu besuchen, während Martha die froheste Jugendlust aus den hellen Augen strahlte, wenn es zum Tanze ging; und doch nahm sich die hoch und schlank gewachsene Paula in der Balltoilette hübsch genug aus.

Frohgemut, lebhaft, ja oft so knabenhaft kühn, daß sie uns Jungen voran den nicht ungefährlichen Sprung von dem großen Balkon unseres hohen Parterre in den Garten wagte, offenen Kopfes und voller drolligen Einfälle führte sie ein für ihr Alter ungewöhnliches Innenleben. Es nimmt sich komisch genug aus, wenn man die Dreizehnjährige in ihrem Tagebuch, von dem mir mehrere Hefte aus dem Nachlaß der Mutter zukamen, bekennen hört, daß sie keine »weltlichen Vergnügungen« liebe, und damit gab das streng wahrhaftige Kind doch nur einer in ihm höchst lebendigen Empfindung Ausdruck.

Es hatte für mich etwas Rührendes, als ich in den nämlichen Bekenntnissen las: »Ich träumte so vor mich hin, und sie sagten, ich müsse mich wohl nach etwas sehnen, gewiß nach dem Paul. Ich widersprach auch nicht; denn ich sehnte mich wirklich, aber nicht nach einem Jungen, sondern nach unserem verstorbenen Vater,« und Paula war drei Jahre alt gewesen, als dieser dahinging!

Wer sie jubeln sah, wenn im Seiffartschen Garten ein Feuerwerk abgebrannt wurde, oder wenn sie in dem unsern mit fliegenden Locken und Kleidern, mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen, ganz bei der Sache, »Anschlag« oder »Räuber und Prinzeß« spielte, wer ihr folgte, wenn sie, ganz Leben und Teilnahme, auf unserem eigenen kleinen Puppentheater eine Aufführung leitete, der hätte nimmer gedacht, daß gerade sie sich zeitweilig scheu vor jedem lauten Vergnügen zurückzuziehen, daß sie sich mit schwärmerischer Frömmigkeit nach dem allsonntäglichen Kirchengang sehnen und in Betrachtungen über Dinge verlieren könne, die sonst dem kindlichen Denken und Empfinden fern liegen.

Wer sollte dem Mädchen keinen leichten Sinn zutrauen, das in sein Tagebuch schrieb: »Pfui, Paula! Du hast dir keine Mühe gegeben. Mutter durfte eine viel bessere Zensur erwarten. Doch nur glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.«

In Wirklichkeit ist sie indes keineswegs ein »Leichtfuß« gewesen. Das bewies ihr Leben, und das geht wohl auch aus den Worten hervor, die ich auf einer anderen Seite des Tagebuchs der Dreizehnjährigen fand: »Mutter und Martha sind bei Drakes. Ich lerne mein Gesangbuchlied. Dann lese ich in der Bibel von den Leiden Jesu. Oh, wie das weh getan haben muß! Und ich? Was tue ich denn Gutes, um andere zu erfreuen oder ihre Schmerzen zu lindern? Aber das muß anders werden, Paula! Ich will ein neues Leben beginnen. Mutter sagt immer, man würde schon von selbst glücklich, wenn man sich selbst etwas versagt, um anderen Gutes zu tun. Ja, wer das immer möchte. Aber versuchen will ich es! Denn Er ist ja, obgleich Er es gar nicht gebraucht hätte, um unserer Sünden willen und um uns glücklich zu machen, gestorben.«


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