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Der Siebzehnte verlief, wie auch meine eigenen Erinnerungen bestätigen, so ruhig, daß man auf eine friedliche Lösung des verhängnisvollen Konfliktes zu hoffen begann.
Mit solcher Bestimmtheit glaubte man an eine Beilegung des Zwistes, daß die Mutter am Vormittag des achtzehnten meine älteste Schwester Martha in die Zeichenstunde schickte, die in der Wohnung des General Baeyer in der Friedrichstraße gegeben wurde; war ihr doch von verschiedenen, »die es wissen mußten«, versichert worden, es sei nichts zu befürchten.
Ludo und ich gingen in die Schule, und nach dem Schluß des Unterrichts bestätigten auf der Straße tausend frohe Gesichter, was wir schon in der Klasse vernommen.
Der König hatte die »Konstitution« und »Preßfreiheit« bewilligt.
Vor dem Plakat, das dies verkündigte, standen dichte Menschenhaufen, und die Neugier trieb uns die Leipziger Straße hinauf.
Es ging dort gar fröhlich her, und wir brauchten uns nicht zu den Anschlagzetteln durchzudrängen, denn was sie enthielten, das wurde an jeder Ecke und jedem Brunnen, von mehr als einem, den das Herz dazu drängte, vorgelesen. Es erzählten es einander gleichsam die Ziegel auf dem Dache.
Ein Vorübergehender kündete es dem andern, ja über den Straßendamm hin klang der Ruf des Freundes, der es dem Freunde wiederholte.
»Wissen Sie schon?« war die Frage, die jede dritte Anrede einleitete, und wenigstens ein »gottlob« mischte sich in jedes Gespräch.
Berlin glich einem Manne, dem ein stärkerer auf der Brust gekniet hatte, und der nun, von dem Bedrücker befreit, tief Atem holt, aufjauchzt und die Arme zum Himmel emporstreckt.
Lange dauerte indes unsere Abschweifung vom Heimweg diesmal nicht, denn die zu Hause mußten auch wissen, was alle Welt bewegte und jedem das Herz erhob.
Zwei oder drei ältere Bekannte, die uns gewahrten, trugen uns auch eilend auf, es der Mutter zu berichten. Aber sie hatte es schon längst gehört, und ihre Freude war so groß, daß sie uns wegen des langen Ausbleibens zu schelten vergaß.
Fräulein Lampen, das bei uns speiste, weinte dagegen. Sie war überzeugt, daß man dem unglücklichen König etwas abgezwungen habe, das ihm und seinen Untertanen zum Verderben gereichen werde.
»Arme Majestät,« schluchzte sie in unsere Freude hinein.
Auch die Mutter liebte den König, doch war sie eine Tochter der freien Niederlande, zwei ihrer Geschwister lebten in England, und die Freunde, die sie am höchsten schätzte und von denen sie wußte, daß auch sie dem Hause der Hohenzollern treu und warm ergeben waren, fanden es gleichfalls an der Zeit, daß dem Preußischen Volke die Mündigkeit zugesprochen werde, zu der dieser Tag es erhob. Zudem rastete ihr lebhafter Geist nicht, bis er einen klaren Einblick in die Fragen gewonnen hatte, die ihre Zeit und sie selbst bewegten. So war sie zu der Überzeugung gelangt, daß kein Frieden zwischen dem König und dem Volke denkbar sei ohne die Bewilligung der Verfassung. Im Parlament hätte auch sie auf der rechten Seite gesessen, doch daß ihr Adoptivvaterland nunmehr ein solches haben sollte, erfüllte sie mit freudigem Stolz.
Dazu glaubte sie mit aller Welt, daß es nun mit den besorgniserregenden Unruhen in Stadt und Land vorbei sei, und so war sie mit uns froh und versicherte das bekümmerte Fräulein, es stehe ihr und uns besser an, dankbar zu sein, als zu klagen.
Ludo und ich gehörten wohl zu den Frohesten. Es war ein Samstag, und gegen Abend sollten wir auf einen Kinderball, den Geheimrat Romberg – der Nervenpatholog – für seine Tochter Marie gab, und zu dem uns neue blaue Jacken angemessen worden waren. Wir erwarteten sie mit Sehnsucht, und es mochte drei Uhr sein, als der Schneider sie brachte.
Die Mutter kam dazu, wie er sie uns anprobierte. – Als sie dabei äußerte, nun sei ja alles gut, schüttelte der Meister ablehnend den Kopf und versicherte, die Bewilligungen von heute vormittag hätten keinen anderen Zweck, als das Volk zu foppen; es würde sich ja zeigen.
Mir ist, während ich dies schreibe, als sähe ich den kleinen, hageren, ersten Unglücksboten vor mir, und als vernähme ich zum anderen Male die ersten Schüsse, die, als wollten sie seine Weissagung bestätigen, sie beredt genug unterbrachen.
Die Mutter erbleichte.
Der Schneider faltete hastig das Tuch zusammen und eilte hinaus.
Was bedeutete die Rede des Handwerkers, was das Gewehrfeuer draußen?
Gespannten Ohres lauschten wir hinaus. Das Schießen wurde stärker und schien näher zu kommen, und als die Mutter eben ausgerufen hatte: »Um Gottes willen, die Martha!« eilte die Köchin ins Zimmer und rief:
»Das Militär schießt mang die Leute. Auf dem Schloßplatz jing der Täpz los!«
Fräulein Lamperi schrie laut auf und griff hastig nach Hut und Mantel und dem sie stets begleitenden »Pompadour«, um beizeiten nach Hause zu kommen.
Die Mutter hatte nur noch ihre Martha im Sinne. Sie war zum Mittagessen bei Baeyers geblieben und befand sich jetzt vielleicht auf dem Heimweg. Es mußte ihr jemand entgegengeschickt werden. Aber was hätte ihr die Begleitung eines Dienstmädchens genützt, und Kürschner war nicht mehr da, der Portier nicht zu finden.
Die Köchin wurde hierhin, das Stubenmädchen dorthin geschickt, um einen männlichen Begleiter für Martha zu suchen.
Daneben erscholl die Frage, die jetzt auch von unserer Hausgenossin, der Frau Leutnant Beyer, deren Gatte auf dem Generalstabe war, gestellt wurde: »Wie ist das nur möglich geworden? Es war ja alles bewilligt! Was ist nur geschehen?«
Die Antwort erteilte das Knattern der Musketen.
Weit vorgebeugt schauten wir zum Fenster hinaus, das bis auf die Potsdamer Straße zu blicken gestattete.
Als wir Jungen uns ins Freie hatten stehlen wollen, waren wir festgehalten worden, und man hatte uns streng verboten, die Wohnung zu verlassen.
Wie das nach dem Tore hinwogte!
Und nun wurde es auch in unserer stillen Straße laut – ihre Hintere Hälfte war damals noch nicht vorhanden – und drei oder vier Leute eilten im Sturmschritt auf dem Damme an uns vorüber.
Den bärtigen Großen an ihrer Spitze kannten wir wohl. Es war der Tapezierermeister Specht, der bei uns das Gardinenaufstecken und ähnliche Arbeiten besorgte, ein ordentlicher, tüchtiger Handwerker.
Doch wie hatte er sich verwandelt!
Statt des zierlichen Kammers schwang er ein Beil, und er wie seine Genossen schauten so ingrimmig drein, als hätten sie eine schwere Schmach zu rächen.
Er war unser ansichtig geworden, und ich erinnere mich noch deutlich des Weißen in seinen rollenden Augen, wie er das Beil höher hob und uns, als gälte auch uns die Drohung, mit heiserer Stimme zurief:
»Sie sollen es kriejen!«
Auch die Mutter und Frau Beyer hatten ihn gesehen und gehört, und das Gewehrfeuer, dem der Tapezierer und seine Gefährten entgegenstürmten, war schon recht nahe.
Der Kampf mußte bereits in der Leipziger Straße wüten.
Endlich kam der Portier zurück und berichtete, an der Mauer- und Friedrichstraßenecke habe man Barrikaden errichtet, und ein heißer Kampf zwischen Soldaten und Bürgern sei dort und an vielen anderen Stellen entbrannt. Und in der Friedrichstraße weilte unsere Martha und kam und kam nicht.
In gleicher Angst hatte ich die Mutter noch nie gesehen. All ihre Bemühungen, einen männlichen Boten zu finden, waren vergeblich gewesen, und während sie noch mit dem Portier verhandelte, der das Haus nicht verlassen zu dürfen versicherte, klingelte es heftig.
Die Frauen schraken zusammen, doch es wurde nur ein junger Westfale gemeldet, ein Verwandter des Direktors unseres Martin in Keilhau, ein schöner Mann in der Mitte der zwanziger Jahre, der eben aus England zurückgekommen war, wo er seine Ausbildung als Ingenieur abgeschlossen hatte.
Wir Jungen eilten ihm entgegen und sahen ihn im Vorsaal die Büchse ablegen.
Hastig verlangte er dabei die Mutter zu sprechen, und als sie ihn empfing, übergab er ihr ein Paketchen für die Seinen. Er wisse nicht, ob er morgen noch am Leben sei; denn er müsse hinaus in den Kampf.
Dabei strahlten ihm die blauen Augen in heller Begeisterung, und obgleich das Gespräch, das nun folgte, im Wohnzimmer geführt ward, erhob er doch die Stimme so laut und heftig, daß wir verstanden, was er den Warnungen und Beschwörungen der Mutter entgegenstellte.
Er glaubte, wie so viele mit ihm, das Volk sei schmählich betrogen und verraten worden, und es verlangte ihn, das Leben einzusetzen, um diese Unbill zu rächen und das Seine zu tun, dem Vaterlande die Freiheit zu erkämpfen.
Alle Bitten der Mutter, alle Versicherungen, daß hier ein beklagenswertes Mißverständnis obwalte und daß der König einer so ruchlosen Handlungsweise nicht fähig sei, blieben fruchtlos, und mit glühenden Wangen und ohne uns zu beachten, stürmte er hinaus.
Bald darauf sahen wir ihn mit der Büchse im Arm, mit Patrontasche und Pulverhorn an der Seite, die Straße hinabeilen.
Wir wohnten vor dem Tore, und es war nicht zu erwarten, daß der Kampf auch in unserer Gegend entbrennen werde, doch von der Rückseite unseres Gartens, von der Gegend des Potsdamer Bahnhofes her, ließ sich schon Trommelwirbel vernehmen. Aber das Schießen, das immer heftiger wurde, übertönte jedes andere Geräusch, und wie wir die Mutter vor Angst vergehen sahen, begann auch uns um unsere liebe, sanfte Martha zu bangen.
Schon wurde es dunkel, und noch immer warteten wir vergebens.
Endlich klingelte es wieder. Die Mutter eilte selbst hinaus, um zu öffnen. Sie tat das sonst nie. Es war, als hätte sie geahnt, wer da kam.
Als auch wir in den Vorsaal eilten, hielt sie das gefährdete Kind in den Armen, und wir Kleinen küßten sie gleichfalls, und Martha sah besonders hübsch aus vor glücklichem Erstaunen über solch einen Empfang. Sie hatte so reizende Grübchen in den Wangen, wenn die ihr eigene Verschämtheit sie überkam und wenn sie sich freute.
Auch sie war schwer geängstigt worden, während der wackere Heinrich, der Diener des Generals Baeyer, der 1813 bis 1815 sein treuer Kriegskamerad gewesen war, sie durch allerlei Nebenstraßen nach Hause begleitete. Aber sie hatten es doch nicht vermeiden können, sich an mancher Stelle dem Kampfe zu nähern, und da war dem siebzehnjährigen weichherzigen Kinde so Schreckliches zu Gesicht gekommen, daß es in Tränen ausbrach, wie es davon erzählte.
Und Martha war ernstlich gefährdet gewesen.
In unserer lieben Freundin Marie Sydow Biographie ihres trefflichen Vaters, des Predigers Sydow, kann man lesen, wie ihm, während er am Nachmittage des 18. März in seiner Wohnung Kaffee trank, die Tasse in der Hand zerschmettert wurde. Das Geschoß war durch das Fenster gedrungen und hart an seiner Hünengestalt vorbeigesaust.
Harmlose Leute hatte, während sie sich von einem Haus in das andere begaben, eine Kugel niedergestreckt.
Auch in anderer Weise waren Unschuldige ums Leben gekommen.
Eine Verwandte von uns, die Schwester des Kriminalisten Karl Ebers und Gattin des späteren Generalstaatsanwalts von Luck, ein besonders anmutiges junges Wesen, genas in dieser Nacht des ersten Kindes, und die Schrecken derselben raubten ihr das blühende Leben.
Für uns war die schlimmste Sorge, die um Martha, vorbei, und die Mutter gewann die Besonnenheit wieder.
Vielleicht war es für sie, die schutzlose Witwe, doch geraten, die Stadt zu verlassen, die morgen der Willkür des empörten Volkes oder der siegestrunkenen Soldaten ausgesetzt sein konnte. So beschloß sie denn, alles vorzubereiten, um mit uns zur Großmutter nach Dresden zu gehen.
Indes schien sich der Straßenkampf an einzelnen Stellen zur Schlacht gesteigert zu haben; denn jetzt mischte sich das Krachen des Kartätschenfeuers der Artillerie fortwährend in das Knattern der Infanteriesalven, und dazwischen scholl klagend, mahnend, das Innerste erregend, das Sturmgeläute der Glocken.
Es war ein furchtbares Getöse, Knattern, Donnern und Klingen, und der Himmel wollte es der blutgetränkten Erde gleichtun und glühte in feurigem Rot; es hieß, die königliche Eisengießerei stehe in Flammen.
Wieder und wieder schauten wir zum Fenster in die laue Frühlingsnacht hinaus. Wie ausgestorben war unsere Straße. Wer kämpfen wollte, der stand auf der Barrikade, und die anderen scheuten sich, das Haus zu verlassen.
Endlich kam die Stunde, in der wir zur Ruhe geschickt wurden, und ich weiß noch, wie die Mutter uns aufforderte, für den König und die armen Menschen zu beten, die sich, um etwas zu erreichen, das wir nicht verständen, in solche Gefahren begaben.
Eine gute Weile schütteten Ludo und ich einander das übervolle Herz aus, bald aber schloß der große Kinderfreund Schlaf uns Lippen und Augen.
Doch es dauerte nicht lange mit der Ruhe; denn gegen Mitternacht wurde so heftig geklingelt, daß es selbst unseren festen Kinderschlaf störte.
Im Nu waren wir aus den Betten.
Das Bild des Tapezierers Specht trat mir vor die Seele. Ob die Aufständischen zu uns eindringen wollten?
Furcht hatte ich nicht, doch das Gefühl, als stehe etwas Ungeheures bevor. Was auch kommen mochte – von der Mutter wollte ich mich nicht trennen.
Aber wir wurden bald beruhigt.
Frau Leutnant Beyer hatte sich zu der Mutter begeben, um mit ihr wenigstens einen Teil der schrecklichen Nacht zu verbringen, und ihr Gemahl einen Burschen ausgeschickt, um den erwärmenden Mantel für ihn auf die Wache zu bringen.
Bald schliefen wir wieder; in Paulas Tagebuch aber steht zu lesen:
Als Martha zu Bett ging, weckte sie mich und sagte: »Mutter packt ein; wir sollen alle nach Dresden.«
»Glückliche Reise!« erwiderte ich, und schlief dann weiter.
Es folgen aber ernste Betrachtungen, und aus ihnen geht hervor, wie bitter sie dem Volke zürnte, das dem guten Könige so große Schmerzen bereite.