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Der neue Direktor und das Aktusgedicht

Bevor ich mitteile, wie ich meine Aufgabe löste, liegt es mir ob, der Neugestaltung und dem Erneuerer des Gymnasiums einige Worte zu widmen.

Am Schlusse meines ersten Semesters in der Prima erfuhren wir, daß wir einen neuen Direktor bekämen, und zwar einen, der mit eisernem Zepter zu regieren verheiße. Man erzählte sich schaurige Dinge von seiner drakonischen Strenge, und es ward uns bange vor der Zukunft.

Die Antrittsrede gab uns auch Grund, an das Schlimmste zu glauben; denn der große Mann da auf dem Katheder – ein hoher Vierziger – sah zwar stattlich genug aus und hatte mit der rasierten Oberlippe und dem braunen Backenbart, mit der geraden Haltung und dem energischen Wesen etwas mannhaft Vornehmes an sich, das an einen englischen Parlamentsführer erinnerte; was er sagte, klang aber beinahe bedrohlich. Er verschwieg nicht, daß hier vieles gewesen sei, wie es nicht sein sollte, und erklärte dann, es gelte ein ganz neues Haus zu errichten. Die Lehrer und wir sollten ihm dabei helfen. Dem Willigen werde er ein guter Freund sein, dem Widerstrebenden aber, gleichviel in welcher Stellung, würde er ... Und was nun kam, veranlaßte viele, sich unter dem Tische mit den Füßen zu stoßen, und die jungen Leute, die nur des Examens willen hierhergekommen waren, hatten doch schon sämtlich der Schule den Rücken gekehrt. Auch manchem Lehrer wich das Rot aus den Wangen.

Der Reorganisator, Professor Tzschirner, war früher Direktor des Magdalenengymnasiums zu Breslau gewesen. Dort war Lassalle sein Schüler gewesen, und er ist derselbe strenge Lehrer, den dieser in seinem Tagebuche aus der Knabenzeit (veröffentlicht in »Nord und Süd«) in so drastischer Weise verwünscht. An Energie und autorativem Wesen glich er unserem Barop, dazu aber war er ein hervorragender Gelehrter und in der Gesellschaft heimischer Weltmann. Man hatte in Berlin vortrefflich gewählt, und auch wir Primaner sahen bald ein, daß er, unser Ordinarius, es nicht nur gut mit uns meinte, sondern daß wir in ihm einen Lehrer gewonnen hatten, wie wir noch keinen besessen. Wohl verlangte er viel, wer aber seine Schuldigkeit tat, dem war er ein väterlich wohlwollender Freund. Seine gütige Gesinnung, sein förderlicher Einfluß machte sich dabei auch im Leben geltend; denn er zog die Primaner, auf die er zu wirken wünschte, in sein Haus, und seine höchst liebenswürdige, hochgebildete Gattin half ihm, so daß wir einen bei ihm zuzubringenden Abend den meisten anderen Vergnügungen vorzogen.

Auch der Unterricht fing an, uns zu fesseln, und ich kann nur wiederholen, daß er mir an den Langethalschen anzuknüpfen schien und vieles neu belebte, was dieser mir gegeben hatte und was in der Zwischenzeit gleichsam in Schlaf gesunken war.

Er erweckte die Liebe zu den Alten von neuem in meiner Seele, und seine Horaz- oder Sophoklesinterpretationen sind mir auch später zugute gekommen.

Langethals Iliaserklärungen hatten ein tiefes Verständnis und seine Liebe zu den Alten geadelt und erwärmt. Ich würde sagen, sie seien zu schön für uns gewesen, wenn nicht für den Schüler das Beste gerade gut genug wäre. Die des neuen Direktors waren weit kühler, doch auch er gehörte zu den Begnadigten, denen das Wesen und die Schönheit des griechischen Altertums sich erschloß. Wohl fehlte ihm der den Schüler mit fortreißende Enthusiasmus des alten Lützower Jägers; dafür aber ging er tiefer ein, und feiner Witz und schneidender Sarkasmus würzten seine mit leiser Stimme vorgetragenen Interpretationen. Wie oft schlug ich ärgerlich über das schnelle Ende der Stunde das Buch zu.

Auch die Grammatik vergaß er mitnichten, doch bei der Erklärung der Klassiker legte er stets das schwerste Gewicht auf den Inhalt, und jede seiner Stunden war ein geistreiches archäologisches, ästhetisches und kulturhistorisches Kolleg. Mir sind auf der Universität keine instruktiveren begegnet. Das Eingehen in philologische und linguistische Minutien, die nicht für die Prima taugen, in der auch andere Elemente als Philologen für den künftigen Beruf vorbereitet werden, unterließ er. Wenn einer, so hielt er indes auf grammatische Korrektheit, und sein Wort, »die Schule soll, was man macht, richtig zu machen lehren«, ließ er nie aus den Augen.

Aber vor allem hielt er uns an, selbst zu denken und das Gedachte klar und ansprechend nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich wiederzugeben. Darum ließ er uns auch frei vortragen und wöchentlich einmal abwechselnd deutsch und lateinisch über ein Thema disputieren, das er gewöhnlich vorschrieb, das wir aber auch manchmal selbst wählen durften. Mit feurigem Eifer beteiligten sich die meisten an dieser Schlacht der Geister.

Es war, als hätte die Frühlingsluft den Schnee von dem Lande geschmolzen, ein so frisches Grünen und Treiben und Blühen zeigte sich überall in der Schule. Auch mich erfaßte der neue Geist, und wenn ich auch immer noch der Allotria genug trieb, verwandte ich doch auf jede Arbeit für Tzschirner die beste Kraft.

Es ging ruckweise mit dem Schaffen. Ergriff mich der Dämon, so tollte ich eine Zeitlang umher wie früher; aber auch dann tat ich für den Direktor meine Pflicht; denn ich verehrte ihn nicht nur, sondern hatte ihn auch liebgewonnen, und von ihm getadelt zu werden, wäre mir unerträglich gewesen.

Das Aktusgedicht, das ich zu Königs Geburtstag hersagte, blieb erhalten, und da ich eben darauf hinschaute, mußte ich lächeln.

Es sollte das Leben Heinrichs des Vogelstellers schildern und sich auf den damaligen König Friedrich Wilhelm IV. beziehen.

Mich für die Person des großen Sachsenkönigs zu erwärmen, war mir leicht genug geworden, und mit wahrer Lust vollendete ich die ihm gewidmeten Verse. Als ich dann nach Komptendorf fuhr, verhieß mir dort eine junge Dame, mit der ich mich gern neckte, ein Fräulein von Gärtner, auf dem Aktus, den auch die den Schülern verwandten Frauen und Mädchen besuchten, zu erscheinen und mich beim Deklamieren durch ich weiß nicht welche Späße aus der Fassung zu bringen.

Ich versicherte, daß ihr das nicht gelingen würde, und um den Spieß umzudrehen, fügte ich daheim einige Bilder in das Gedicht, in denen der Name »Gärtner« nicht weniger als fünfmal vorkam. So oft ich diesen bei der Deklamation aussprach, schaute ich ihr bedeutungsvoll ins Antlitz.

Dennoch hat außer uns beiden kaum jemand anderes etwas von diesem frevlen Spiele gemerkt; klangen doch die mit dem Namen meiner anmutigen Widersacherin geschmückten Bilder harmlos und natürlich genug.

Da hieß es:

»Und wie der Gärtner mit der grünen Rebe
Der Herrin Lieblingsstätte überzieht,
Damit sie Schutz vor Ungewitter gebe
Und Schatten spende, wenn die Sonne glüht;«

oder:

»Und wie der Gärtner in die schwarze Erde
Der starken Eiche Frucht bedächtig senkt,
Damit die Ernte einst den Enkeln werde,
Wenn Efeu längst des Sämanns Grab umfängt,
Also hat König Heinrich seinen Taten« usw.

Diese mit loser Hand in den Ruhmeskranz meines Helden eingeschwärzten Blätter beeinträchtigten die glänzende Fülle durchaus nicht, die ich ihm von vornherein zu geben versucht hatte, und seltsamerweise sollte die Stadt des großen Herrschers, den ich in der ersten Dichtung feierte, mit der ich vor die Öffentlichkeit trat, sollte Quedlinburg mir bald lieb und auf einige Zeit meine Heimat werden.

Das Lob meines Helden war mir aus dem Herzen geflossen. Das Gedicht fand darum Beifall, und zwar in so weiten Kreisen, daß der in jeder Hinsicht bedeutendste Mann der Gegend, Fürst Pückler-Muskau, dem ich schon vorgestellt worden war, mich um meine Verse ersuchen ließ.

Ich wußte recht wohl, daß sie nicht das Beste darstellten, was ich ihm hätte vorlegen können, doch welchem Vater gefiele nicht wenigstens einiges an seinem Kinde, und so schrieb ich es sauber ab und übergab es dem Zwerge Billy, der des Fürsten rechte Hand war.

Ein zierlicheres Männchen hat es selten gegeben. Er reichte mir trotz seiner gewiß dreißig Jahre nur bis an die Hüften und war so wohl proportioniert und an Gestalt und Gesicht so gar nicht zwergen- oder gar gnomenhaft, daß man ihn gern ansehen mußte.

Um einiges später ließ mich der Fürst, als ich mit einer befreundeten Familie in seinem Branitzer Park lustwandelte, ins Schloß rufen und empfing mich mit dem Rufe: »Sie sind ein Dichter.«

Das trieb mir das Blut in die Wangen, teils vor Freude, teils vor Verlegenheit, denn es waren mehrere Herren in seiner Gesellschaft.

Jene vier Worte aber sind mir lange nachgegangen, ja sie klingen mir heute noch bisweilen vor dem inneren Ohre.

Erst mehrere Jahre später wurde es mir zuteil, den gewandten, reichen und anmutigen Geist des Fürsten in eingehenden Gesprächen mit ihm kennen zu lernen.

Als der »Semilasso« mich in Branitz angeredet hatte, kannte ich noch keines seiner Werke, war der Orient, von dem er so interessant zu reden wußte, mir noch nichts als ein unbestimmtes Sehnsuchtsziel gewesen.

Ich hatte damals nur hundert Anekdoten von ihm erzählen hören, die einen jungen Mann von meiner Art ansprechen mußten. Mein Freund Löbenstein, der mit Muskau bekannt war, wußte höchst Merkwürdiges von ihm zu berichten. Ebenso Frau von Berndt, die dem Fürsten schon als Mädchen oft begegnet war, weil er zu Berlin im Hause ihres Vaters am Pariser Platz sein Winterquartier hatte. Die ungewöhnliche Freundlichkeit, die er mir als Schüler und auch später erwies, hatte ich vielleicht auch mehr seinen nahen Beziehungen zu ihr als meinem Gedichte zu danken.

Anderes über den Fürsten hatte ich in seiner von Leopold Schefer verfaßten Biographie gefunden. Ludmilla Assings Veröffentlichungen sollten erst später erscheinen.

Schon als junger Gardedukorpsoffizier in Dresden hatte er, nachdem es geflissentlich und als eine Art von Strafe unterlassen worden war, ihn zu einem Hofballe zu laden, sämtliche Lohnkutschen und Portechaisen der Stadt gemietet und dadurch die meisten zum Tanz befohlenen Herren und Damen gezwungen, durch den Schnee zu Hofe zu waten oder dem Tanze ganz fernzubleiben.

Als der Krieg 1813 begann, war er in den Dienst »der Befreier«, wie die Russen damals hießen, getreten, und an der Spitze seines Regiments soll er den Oberst eines französischen, der ihm entgegenkam, zum Zweikampf herausgefordert und ihn schwer verwundet haben.

Als junger Ehemann überraschte er die Fürstin, die Tochter des Kanzlers Hardenberg, die in erster Ehe an einen Reichsgrafen von Pappenheim vermählt gewesen war, zu Weihnachten mit der Aufputzung einer Tanne vor dem Schlosse. Ich sah diesen Riesen unter den Koniferen in Muskau, und ein gleicher Christbaum hat schwerlich je vor oder nachher am Weihnachtsabend das Dunkel erhellt. Tausende von Lichtern strahlten von ihm der überraschten jungen Frau entgegen, und die gesamte Muskauer Schuljugend konnte sich am nächsten Tage die Taschen mit den Nüssen und Äpfeln füllen, die an allen Zweigen und Ästen des Riesenbaumes aufgehängt worden waren.

Wie mag die »Schnucke« ihrem »Lu« – so nannte sich das fürstliche Ehepaar in vertrauten Briefen – für diese Aufmerksamkeit gedankt haben, die dem Wesen des geliebten Mannes so wohl entsprach.

Das Bild, das die von Ludmilla Assing veröffentlichten Briefe von dem Eheleben dieser hochbegabten, seltsamen Beiden gewähren, ist hier anmutig und fesselnd, dort barock und abstoßend im höchsten Grade; doch eigenartig in jedem seiner Züge.

Aber ich will nicht vorgreifen!

Hier nur so viel, daß es dem Fürsten Pückler scheinbar natürlich war, unbekümmert um das Urteil der Menschen nach seinem Gefallen zu leben, daß dies Gefallen ihn aber antrieb, auf fast jedem Gebiete des Daseins es anders zu machen als sie. Ich sagte nur »scheinbar«; denn wenn er sich auch über den Tadel und das Mißfallen der Menge, die er übersah, hinwegsetzte, so behielt er sie doch bei allem, was er tat, im Auge. Eine an Leidenschaftlichkeit grenzende Eitelkeit erfüllte ihn von Kind an, und sie war ihm so ureigen, daß, was er in ihrem Dienste vollbrachte, seiner Natur in der Tat angemessen zu sein schien.

Auch aus seinen Worten schaut uns diese Eigenschaft des Verfassers oft genug, wenn auch dichter oder weniger dicht verschleiert entgegen; leider aber hinderte das stete Umsichschauen, das Bedürfnis, gesehen zu werden, seinen feinen, zu weit Höherem befähigten Geist, sich recht zu vertiefen. Dies empfand er selbst; doch seine natürliche Begabung war eine so überaus reiche, daß ihm eine gewisse Größe, deren er sich gleichfalls bewußt war, nicht abgesprochen werden darf.

Vor allem haftete nichts Kleines an seiner Gesinnung.

Was ihm aber am höchsten angerechnet werden muß, ist die Energie, mit der er sich in den schwierigen Verhältnissen, in die ihn das Leben gestellt hatte, nach jeder Richtung hin unabhängig zu erhalten verstand. Das verdient besonderes Lob, weil das Gegenteil der in ihm so mächtigen Eitelkeit oft in großartigster Weise Vorschub zu leisten verhieß. Der rechte Ernst, den er sonst selten zu finden verstand – wo es sich um seine Unabhängigkeit handelte, wußte er ihn aufs strengste zu behaupten. Auch auf einem andern Gebiete setzte er energisch die ganze Kraft ein.

Das war das gärtnerische.

Seine Parkanlagen können sich den schönsten und edelsten aller Länder zur Seite stellen. Bei einer späteren Begegnung in Hirsau bei Wildbad zeigte er mir, was sie ihm waren und boten.

Nicht nur die von ihm geschaffenen Parks, sondern auch seine ihnen gewidmeten Werke zeugen in der Tat von treuer Liebe zur Sache, selbständigem Denken, rastlosem Fleiß und einem vornehmen, durch Erfahrung und weite Reisen gebildeten Geschmack.

Den von Branitz habe ich vollenden sehen. Mir stehen noch die riesigen Wagen mit den niedrigen Vorder- und wenigstens zwei Mann hohen Hinderrädern vor Augen, auf denen sechzig- bis siebzigjährige Bäume mit enormen Wurzelknollen, an denen ein Stück Land hing, zur Pflanzung in den werdenden Park befördert wurden. Eine lange Kette Ochsen zog sie, und durch die Sorgfalt der Behandlung soll kaum ein einziger auf dem neuen Boden, in den er so spät verpflanzt wurde, verkommen sein.

Der Fürst hatte seine Stammherrschaft Muskau mit dem von der Natur und Kunst so reich ausgestatteten Parke, in dem es wohl die größten und ältesten Bäume Deutschlands gab, verkauft. Der Branitzer sollte ihm den der Väter ersetzen, und ihm gelang das Wunder, in zehn Jahren eine kahle Bodenfläche zu einem Park zu verwandeln, in dem hohe, alte Bäume mit breiten Kronen, hier einzeln, dort zu Gruppen und Alleen vereint, Schatten spendeten. Dichtes Strauchwerk bot den Vögeln, die von selbst gekommen waren, sobald man diese neue Wohnstätte für sie hergerichtet hatte, ein köstliches Heim.

Als ich dem Fürsten zum ersten Male persönlich begegnete, zählte er neunundsechzig Jahre, sah aber, wenn er mit schwarzem Haar erschien, um vieles jünger aus. Zog er es vor, was bisweilen geschah, den schönen Greis zu spielen, war sein gepuderter Hauptschmuck silberweiß. Seine Gestalt war noch hoch und von edlem Wuchse. Aus seinen schönen, doch nicht groß geformten, leicht wechselnden Zügen erkannte man die Lebhaftigkeit seines Geistes und die Liebenswürdigkeit seines Wesens. Man hätte ihn für einen hochgebildeten hohen Militär halten können, wenn dem nicht eine gewisse leichte Bequemlichkeit der Formen entgegengetreten wäre. Den feinen Mund umspielte oft ein sarkastisches Lächeln, doch die übrigen Züge waren von wohlwollender Freundlichkeit. Ganz eigentümlich war der Blick seiner Augen, die mir als blau vorschweben. Wenn er sich liebenswürdig erzeigen wollte, besonders im Gespräch mit Damen, gewannen sie, die im Verkehr mit Männern, die ihm nichts galten, etwas Steinernes, Abweisendes annehmen konnten, einen warmen, ich möchte sagen zärtlich feuchten Glanz, der manches junge Frauenherz zu schnellerem Schlag gezwungen haben muß. Er ist auch viel und heiß geliebt worden, und wer ihn kannte, fand das natürlich. Er liebte aber, glaub' ich, die eigene Person zu sehr, um das ganze Herz einer anderen zu schenken.


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