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Solche Wagestücke waren natürlich verboten; die Lehrer der Anstalt versäumten aber nichts, unseren Körper geschickt zu machen, jede Anstrengung und Gefahr zu ertragen; denn Friedrich Fröbel lebte noch, und die Erziehungsideale, für deren Verwirklichung er die Anstalt in Keilhau begründet, waren in seinen Gehilfen und Nachfolgern zum frisch grünenden Lebensgute geworden. Was aber Fröbel durchzusetzen wünschte, das verlangte nicht zuletzt die Ausbildung auch der körperlichen Kraft. Seine vornehmsten Postulate waren Schonung und Förderung der Individualität der ihm anvertrauten Knaben und ihre Erziehung zu deutschem Charakter und deutscher Natur; denn die Summe der Eigenschaften der höheren, reineren Menschheit sah er in denen des echten Deutschen vereinigt. Was er in seinen Schriften »deutsch« nennt, das deckt sich mit dem Begriffe mannhaft und menschlich im höheren Sinne.
Liebe für das Gemüt, Kraft für den Charakter schienen ihm die höchsten Gaben, die er den Zöglingen ins Leben mitgeben konnte.
Im ganzen will er den Knaben erziehen zur Einigung mit sich selbst, mit Gott, mit der Natur und der Menschheit, und der Weg dahin führt für ihn über das Zutrauen zu Gott durch die Religion, das Zutrauen zu sich selbst durch Übung der Kraft des Geistes und Körpers, und das Zutrauen zu der Menschheit, das heißt zu anderen, durch die Verbindung mit dem Leben und eine liebevolle Teilnahme an den vergangenen und gegenwärtigen Schicksalen der Nebenmenschen. Dazu bedarf es eines offenen Auges und Herzens für unsere Umgebung, der Menschenfreundlichkeit und eines tieferen Eingehens in die Geschichte. Hier scheint die Natur vergessen zu sein. Sie fällt ihm jedoch mit in die Kategorie der Religion; denn Religion ist für ihn: sich einig zu wissen und zu fühlen mit sich selbst, mit Gott und den Menschen, sich treu zu finden gegen sich selbst, gegen Gott und die Natur und sich in steter tätiger und lebendiger Wechselwirkung mit Gott zu erhalten.
Wie Gott und die Natur soll der Erzieher den Menschen führen und vom Tun aus zum Erkennen und Denken leiten. Für das Tun nimmt er besondere Stufen an: Fähigkeit, Fertigkeit, Sicherheit, für das Erkennen: Bewußtsein, Einsicht, Klarheit. Erst der Könnende und zur Klarheit Gediehene wird sich als Denker bewähren und der Meister werden können, der das Neue ersinnt und dem Bestehenden gegenüber den Grund erkennt und das Gesetz, das es leitet.
Das Kind will Fröbel als Knospe an dem großen Lebensbaume betrachtet sehen, und darum soll jeder Zögling für sich beachtet, geistig und körperlich entwickelt, gepflegt und geübt werden als Auge an dem großen Baume der Menschheit. Auch als Lehre und Unterricht soll die Erziehung sich nicht an ein starres, der Wandlung unfähiges Schema, sondern an dle Individualität des Kindes, an die Zeit, in der es heranwächst, und an die Umgebung knüpfen, in der es sich befindet. Von eigener Erfahrung in der Gegenwart und seinem Keim soll das Kind zum Empfinden, Arbeiten und Handeln geführt werden, nicht durch fremde Anschauungen oder vorgeschriebene starre Lehrgesetze. Aus selbständigem, vorsichtig geleitetem Tun und Wissen, Erkennen und Denken soll das Produkt dieser Erziehung entstehen: ein Mensch oder, wie es anderwärts heißt, ein ganzer deutscher Mann. Der soll als ein vollendetes Werk, in dem es an nichts fehlt, in Keilhau fertig gestellt werden. Hat die Anstalt ihre Aufgabe an dem einzelnen erfüllt, dann wird er:
dem Vaterland ein braver Sohn sein mit hingebendem Sinn und starker Kraft in der Zeit der Gefahr;
der Familie ein treues Kind und Wohlstand wie Segen erwerbender Hausvater;
dem Staat ein biederer, rechtlicher, arbeitsamer Bürger;
dem Heere ein hellsichtiger, starker, gesunder, mutiger Soldat und Führer;
den Gewerben, Künsten und Wissenschaften ein kenntnisreicher Entwickler, tätiger Fortbildner, an gründliche Betrachtung gewöhnter und im Zusammenhang mit der Natur erwachsener Arbeiter;
Jesu Christo ein treuer Jünger und Bruder, ein Gott liebendes, gehorsames Kind;
der Menschheit ein Mensch nach dem Bilde Gottes, nicht nach dem eines Modejournals.
Für den Salon wird keiner erzogen, aber wo es einen Salon gibt, in dem man geistige Güter pflegt und auch die Wahrheit eine Stätte findet, da wird ihm der rechte Keilhauer zur Zierde gereichen. »Bücklinge machen und eine Krawatte binden,« sagt Fröbel, »dazu bedarf es keines Unterrichts; man lernt es nur zu schnell.«
Rechte Erziehung kann nur eine allseitige und harmonische sein, und sie muß mit den notwendigen Erscheinungen und Forderungen des menschlichen Lebens in völliger Übereinstimmung stehen.
So soll denn die Keilhauer Erziehung auch den ganzen Menschen, sein Inneres wie sein Äußeres, in Anspruch nehmen. Sie stellt es sich zur Aufgabe, das Wesen des einzelnen Knaben, jede seiner Besonderheiten, Anlagen, Talente, vor allem aber seinen Charakter zu beobachten und allen Zöglingen die nötige Entwicklung und Ausbildung angedeihen zu lassen. Sie folgt stufenweise der Entwicklung des Menschen von dem fast instinktmäßigen Triebe an bis zum Gefühl, Bewußtsein und Willen. Auf jeder dieser Stufen darf jedem nur angedeihen, was er ertragen, verstehen, verarbeiten kann, was ihm aber zu gleicher Zeit eine Leiter zur nächsthöheren Stufe der Entwicklung und Ausbildung wird.
So glaubt Fröbel, dessen eigenen Aufzeichnungen an sehr verschiedenen Stellen wir hier zusammenfassend folgen, vor Halb- und vor Mißbildung zu bewahren; denn was der Zögling kann und weiß, ist aus seinem Innern gleichsam hervorgewachsen. Es ist nichts Angelerntes, sondern aus ihm heraus Entwickeltes. Darum wird der in die Welt entlassene Knabe es zweckmäßig anwenden und die Mittel zu weiterer eigener Ausbildung und Vervollkommnung von Stufe zu Stufe besitzen.
In jedem Menschen ruht für irgendeine Wirksamkeit oder einen Beruf eine vorwaltende Anlage und eine für ihre Ausbildung in gleichem Verhältnis stehende Kraft. Es ist nun die Aufgabe der Anstalt, die Kräfte zu entfalten, welche für die spätere Erfüllung dieses von der Natur selbst vorgezeichneten Berufes besonders erforderlich sind.
Auch hier ist es geboten, von Stufe zu Stufe zu schreiten. Wohin aber auch Begabung oder Neigung führe, jeder wird zunächst ein zur Aufnahme auch des Schwierigsten fertig gestellter Mensch sein und die Fähigkeit besitzen müssen, das Erkannte und Gedachte außer sich darzustellen, das heißt klar und richtig zu reden und zu schreiben; denn erst dadurch wird das geistige Vermögen des einzelnen zur Wirksamkeit erhoben und, auch für andere erkennbar, nach außen gekehrt.
Man sieht, daß Fröbel sich mit alle dem dem römischen Postulat, die Kenntnisse streng nach einer durch die Erfahrung bewährten Methode und Reihenfolge dem Knaben so mitzuteilen, wie sie dem gereiften menschlichen Geiste zusammenzuhängen und ihm für das spätere Leben nutzbar zu sein scheinen, schroff entgegenstellt.
Der systematische Weg, der bis Pestalozzi auch in Deutschland der gültige war und es im ganzen bei unserem Gymnasialunterrichte wieder geworden ist, erscheint ihm verwerflich. Der Schweizer Reformator auf dem Gebiete der Erziehungslehre hatte gezeigt, daß das Mutterherz instinktiv die einzig richtige Methode der Erziehung gefunden habe Pestalozzis Roman »Lienhard und Gertrud« habe ich erst jüngst mit wahrer Freude wieder gelesen. Es ist ein köstliches Volksbuch, voll von naturwüchsiger Kraft und echter Herzenswärme. Das schlichte Weib Gertrud, die Mutter und Erzieherin wie sie sein soll, ist eine für alle Kreise der Gesellschaft, auch die höchsten, vorbildliche Gestalt, wenn Pestalozzi sie auch nur das Weib eines Maurers sein läßt. Das Dorfgesindel, das er so anschaulich zeichnet, kannte er aufs genaueste. und stellte den Pädagogen die Aufgabe, die Kräfte und Gaben des Kindes mit mütterlicher Liebe und Sorgfalt zu beobachten und auszubilden. Dabei sollten sie stets im Auge behalten, daß das Kind in anderer Weise lernt als der sich zielbewußt unterrichtende Erwachsene. Der alten Systematik wandte auch er sich ab, und Fröbel stellte sich ihm als Mitkämpfer an die Seite, ging aber noch weiter. Pestalozzi schien ihm sich zu sehr zu übereilen, das Kind für das praktische Leben tauglich zu machen. Erst sollte sein Inneres vor dem Erzieher daliegen wie ein weit geöffnetes Buch, dann sollte sich der Unterricht auf das beziehen, was das Kind am wärmsten interessiert. Beherrschte das Kind dies, dann erst sollte stufenweise fortgeschritten werden. Alles, was sich auf künftige Lebensaufgaben bezog, durfte nur an das auf diesem organisch aufsteigenden Stufenbau Vorhandene geknüpft werden, und zwar so, als wachse es aus dem übrigen in natürlicher Weise heraus.
Dazu gehörte in der Zeit der Gründung Keilhaus, in der der Einfluß Hegels diesen Fragen gegenüber in den leitenden Kreisen allmächtig war, ein hoher Mut; denn Hegel stellte der Schule die Aufgabe, Bildung zu geben, und vergaß dabei, daß ihr dazu die wesentlichsten Bedingungen fehlen; denn die Schule kann nur mit Wissenschaft operieren, echte Bildung verlangt aber auch ein nahes Verhältnis des zu Bildenden mit der Welt, von der die Schule, wie sie Hegel fand und im Sinne trug, eine tiefe Kluft sondert.
Fröbel erkannte, daß es auf den Umfang des dem Schüler mitzugebenden Wissensgutes weniger ankomme, daß die Schule gar nicht in der Lage sei, dem einzelnen vollendete Bildung zu erteilen, wohl aber einen so zubereiteten Geist, daß er, wenn die Zeit für ihn kam, mit der Welt und höheren Lehrkräften in Verbindung zu treten, über die Mittel verfügte, aus beiden jenen Teil der Bildung sich anzueignen, den die Schule zu verleihen außerstande ist. Er wendet darum der alten Systematik schroff den Rücken, verneint, daß beim Unterricht die Zwecke des späteren Lebens die Hauptsache sind, und wehrt sich dagegen, daß die Interessen des Kindes denen des Mannes geopfert werden; denn das Kind ist ihm ein Heiligtum, ein selbständiges, ihm von Gott anvertrautes Gut, dem gegenüber er nur die eine Pflicht hat, es denen, die es ihm zuführten, in erhöhter Vollkommenheit, mit eröffnetem Geist und Gemüt und einem für jede Gefahr gestählten Körper und Charakter wiederzugeben.
»Ein Kind,« sagt er, »das innerhalb des kindlichen Kreises sich richtig zu verhalten weiß, wächst von selbst in ein richtiges Mannestum hinein.«
Mit Bezug auf den Unterricht würde seine Meinung in knapper Zusammenfassung lauten: Der Knabe, dessen Sonderanlagen wir sorgfältig entwickelten und den wir mit dem Vermögen ausstatteten, alles aufzunehmen und wiederzugeben, was seiner Begabung zusagt, wird sich durch eigene Arbeit in der Welt und einer höheren Lehranstalt alles anzueignen wissen, was ihn zum ganzen und vollgebildeten Manne macht. Mit dem halben Quantum des Vorwissens auf dem Gebiet der erwählten Spezialität wird der von uns entlassene Knabe oder Jüngling als harmonisch ausgebildeter Mensch, dem wir die zur Erwerbung alles Wissenswerten erforderliche Methode mitgaben, es weiter bringen, als sein im Sinne der Römer (und – fügen wir hinzu – Hegels) systematisch gebildeter Geisteszwilling.
Fröbel ist, denk' ich, im Rechte. Würden seine Erziehungsgrundsätze Gemeingut der Menschheit, so ließe sich auf eine Verwirklichung der Jean Paulschen Weissagung hoffen, diese Welt werde mit einem kindlichen Paradiese schließen. Wir haben einen Vorgeschmack dieses Paradieses in Keilhau genossen. Sehe ich aber in unsere heutigen Gymnasien, und müßte ich denken, daß es ihnen gelänge, ihre Schüler mit noch größeren Gebrauchsmassen für das künftige Leben auszustatten, so würde das Glück des Kindes vollends den Interessen des Mannes geopfert worden sein, und das Leben der Menschheit mit der Geburt von superklugen Greisen den Abschluß finden.
Es könnte mich reizen, den erzieherischen Grundsätzen des Mannes noch weiter nachzugehen, der aus vollem, warmem Herzen den Ruf: »Kommt, laßt uns unseren Kindern leben,« an die Eltern richtete; doch würde uns das über die Grenzen, die wir uns steckten, hinausführen.
Mancher der hier mitgeteilten pädagogischen Grundsätze Fröbels bietet auf den ersten Blick sicherlich das Ansehen eines blassen, teils mit Selbstverständlichem aufgeputzten, teils undurchführbaren Theorems. Solange wir in Keilhau waren, hörten wir indes kein Wort von diesen Forderungen, für die wir Zöglinge die Versuchsobjekte werden sollten. Noch weniger empfanden wir je, daß wir nach einer bestimmten Methode erzogen wurden. Wir merkten überhaupt sehr wenig von einem uns leitenden Regiment. Das Verhältnis zwischen uns und den Erziehern war so natürlich und liebevoll, daß es uns vorkam, als könnte es gar nicht anders sein.
Dennoch fand ich, als ich unser Keilhauer Leben mit den oben mitgeteilten Grundsätzen verglich, daß Barop, Middendorf und der alte Langethal, von dem ich noch zu reden habe, sowie die bedeutenderen Nebenlehrer Bagge, Budstedt und Schaffner ihnen allerdings bei unserer Erziehung gefolgt waren und es möglich gemacht hatten, manche der scheinbar am schwersten durchführbaren zur Anwendung zu bringen. Das erfüllte mich mit aufrichtiger Bewunderung, doch erkannte ich bald, daß dies nur Männern hatte gelingen können, in die Fröbel selbst seine Ideale verpflanzt hatte, Männern, die nicht weniger enthusiastisch für ihren Beruf glühten als er, und deren Persönlichkeit und Lebensführung sie geradezu prädestinierten, die für andere kaum zu bewältigende schwierige Aufgabe mit nie erlahmender Freudigkeit glücklich zu lösen.
Jeder Knabe sollte angemessen seiner Eigenart erzogen, und es sollte dabei auf sein Wesen, seine Anlagen, seine Talente und seinen Charakter Rücksicht genommen werden. Obgleich wir nun unser einige sechzig waren, ist dies in der Tat bei jedem einzelnen geschehen.
So hatten die Erzieher wahrgenommen, daß die Beanlagung meines Bruders, mit dem ich bis dahin alles geteilt hatte, es erfordere, ihn in anderer Weise zu unterrichten als mich. Während ich zum Griechischen überging, wurde er davon dispensiert und dafür mehr mit neueren Sprachen und Realien beschäftigt. Mich hatte man als tauglicher für das Studium, ihn als geeigneter für einen praktischen Lebensberuf oder die militärische Laufbahn erkannt.
Auch bei den Aufgaben, die jedem zugeteilt, und den Beurteilungen, die unseren körperlichen und geistigen Leistungen zuteil wurden, verfuhr man nie nach der Schablone. Immer behielten diese Erzieher den ganzen Menschen und vor allem seine Gesinnung im Auge. Die Eltern eines Keilhauer Zöglings waren dadurch um vieles besser gestellt als die unserer Gymnasiasten, die so oft der sich ihnen fortwährend aufdrängenden Versuchung unterliegen, die Wertschätzung ihrer Söhne nach der größeren oder geringeren Zahl der Fehler in der lateinischen Skription (dem preußischen Extemporale) zu richten. Es hat mir wahres Vergnügen bereitet, die Keilhauer Zeugnisse wieder durchzusehen. Ein jedes enthält ein Charakterbild mit einer Kritik der Leistungen, teils mit Berücksichtigung der Begabung des Schülers, teils mit Hinblick auf die Anforderungen der Schule. Etliche sind kleine Meisterwerke psychologischen Scharfblickes.
Von denen, die diesen Darlegungen folgten, wird mancher sich gefragt haben, wie man es macht, deutsche Natur und deutsches Wesen in den Knaben zu entfalten.
In Keilhau ist es im ganzen gelungen.
Es bedurfte aber auch für die Lösung dieser Aufgabe Männer wie Langethal und Middendorf, die, schon dem Äußern nach Vorbilder deutscher Kraft und Würde, für das Vaterland gestritten hatten und denen es kein Deutscher an Tiefe und Wärme des Gemütes zuvortat.
Ich wiederhole, daß, was Fröbel deutsch nannte, eigentlich das höhere Menschliche war, doch wurde uns nichts tiefer in die Seele geprägt als die Liebe zum Vaterlande. Hier feierte man mit den jungen Stimmen nicht nur die Kriegstaten der tapferen Preußen, nein, man gewährte sämtlichen Liedern, die echter Patriotismus deutschen Poeten eingegeben hatte, das gleiche Recht. Die hohen Tannen hörten es ebenso gern, wenn aus den frischen Knabenkehlen Arndts »Was ist des Deutschen Vaterland?« oder »Stimmt an mit hellem, hohem Klang« hell und freudig hervorgeschmettert wurde, wie wenn die Burschenlieder erschollen, die in Barops Studentenzeit, als auch ihn die Demagogenriecher verfolgt hatten, gesungen worden waren. »Freiheit, die ich meine« oder »Wo Mut und Kraft in deutschen Seelen flammen« war hier mitnichten verpönt.
Vielleicht ging es sogar mit der Freude am Deutschtum in mancher Hinsicht zu weit; denn sie nährte den Haß und die Verachtung gegen alles »Welsche«, und ihm dankten die langen Haare und die Barette, die Pikeschen und breiten Hemdkragen mancher Zöglinge den Ursprung. Es waren ihrer nicht gar viele, und Ludo, unsere nächsten Freunde und ich haben nie dazu gehört.
Barop selbst belächelte ihr »Teutschtum«, ließ sie aber gewähren. Sie lehnten sich an einige Lehrer und besonders an den prächtigen, von frischer Kraft und Daseinslust strotzenden Zeller. Ich sehe ihn heute noch, den riesengroßen jungen Schweizer, wie er mit seinem »Wodan, Wodan, Römern Tod!« die Tannen erzittern ließ.
Ein Zögling, Graf zur Lippe, der Hermann hieß, wurde »Arminius« genannt, um an den Besieger des Varus zu erinnern.
Aber das waren Äußerlichkeiten!
Wie hat uns dagegen in der Geschichtsstunde Langethal, der alte Krieger von 1813, den Verlauf der Freiheitskriege vorgeführt!
Als echt und ursprünglich deutsch hatte Friedrich Fröbel auch die Wertschätzung der körperlichen Arbeit erklärt, und darum wurde jedem ein Platz angewiesen, wo wir den Spaten und die Hacke führen, Steine wälzen, säen und ernten konnten. Ich werde noch darauf zurückzukommen haben.
Von der Kräftigung des Körpers, die Fröbels Grundsätze vorschrieben, gingen diese Betrachtungen aus, und sie nahm den Löwenpart der Stunden, die der Unterricht nicht erforderte, in Anspruch.
In mittlerer Höhe des Dissauberges lag der große Turnplatz mit dem Schießstande, und auf dem Anstaltshofe die Turnhalle für jede freie Minute und den Winter. Dort wurde auch das Fechten mit Fleuretten (Stoßrapieren), nicht mit Schlägern, denen Barop mit Recht eine weniger kräftige Wirkung auf die Gewandtheit junger Körper zuschrieb, fleißig geübt. Schon als zwölfjähriger Knabe besaßen Ludo und ich, wie die meisten Zöglinge, unsere eigene vortreffliche Kugelbüchse, die uns die Mutter zu Weihnachten geschenkt hatte, und wie schnell lernten wir mit den scharfen jungen Augen ins Schwarze treffen! Im Teiche der Anstalt schwamm es sich gut, und auf ihm und der beeisten Nachbarwiese wurde Schlittschuh gelaufen. Und unsere Schlittenfahrten bei dem »Oberhause« und den langen Abhang des Dissau herunter, und das Klettern und Klimmen und Wandern, das Ringen und Stangenfechten, das Springen über den ledernen Bock, den Rücken der Kameraden, die Gräben, Hecken und Zäune, das Kriegsspiel bei den herrlichen Bergwachten, die kein Keilhauer je vergißt, das Ballspiel und die verschiedenen Laufspiele, zu denen es immer Zeit gab, obgleich auch wir am Jahresschluß ein bestimmtes Wissensquantum aufgenommen haben mußten. Der steifste Bock, der nach Keilhau kam, wurde gelenkig, dem elendesten Schwächling schwoll dort der Bizeps, der traurigste Banghase kam in die Lage, den Mut zu bewähren. Wenn irgendwo, so gehörte hier Mut dazu, feige zu sein.
Hatten Fröbel und Langethal in dem Genossenschaftsprinzip die beste Förderung der Disziplin gesehen, hier kam es zur Geltung; denn wir bildeten eine große Familie, und wurde etwas ernstlich Strafwürdiges, kein bloßer Streich des jugendlichen Übermutes, von einem der Zöglinge begangen, so rief Barop uns zusammen, konstituierte aus uns einen Gerichtshof, und wir hatten die Angelegenheit zu prüfen und das Strafmaß selbst zu bestimmen. Er bedrohte nach ehrenrührigen Handlungen den Angeklagten mit Verweisung aus der Anstalt, bei schweren Vergehen mit Stubenbann, das heißt Haft in einem Zimmer, eine Strafe, die auch uns, die sie auferlegt hatten, verpflichtete, eine Zeitlang den Verkehr mit dem Verurteilten zu meiden. Bei leichteren Untaten wurde Haus- oder Hofbann über den Schuldigen verhängt. Waren kleine Gesetzwidrigkeiten zu rügen, rief man diesen Areopag nicht zusammen.
Und wir, die Richter, waren strenge Vollzieher der Strafen. Barop teilte mir später mit, er habe uns oft zu größerer Milde anhalten müssen. Dem alten Fröbel galten diese Sitzungen als Mittel für die Einigung mit dem Leben. Zu dieser Einigung sollte auch noch die Form unseres Verkehrs untereinander, sollten die Fußreisen und das Viele dienen, das uns aus dem Leben unserer Erzieher von ihnen selbst erzählt wurde, vor allen Dingen aber der geschichtliche Unterricht, der dort schon damals auf Kulturgeschichte beruhte und so eingerichtet war, daß er uns nicht nur mit den Händeln der Völker und blutigen Schlachten, sondern mit dem Leben der Menschheit vertraut zu machen suchte. Middendorf, Langethal und Barop gaben ihn nie aus der Hand; nur der treffliche Bagge durfte ihn vorübergehend erteilen.
Von Denunziantenwesen konnte unter uns trotz oder wegen der Gerichte, deren ich soeben gedachte, keine Rede sein; denn Barop hörte den Ankläger immer nur halb an und wies ihn dann mit unverhohlenem Widerwillen und ohne den Beschuldigten zur Rechenschaft zu ziehen, oft recht derb aus dem Zimmer. Übrigens wußten wir selbst den Sykophanten so zu züchtigen, daß er sich wohl hütete, zum zweiten Male den Hinterträger zu spielen.