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Die Lennéstraße ist der Schauplatz der mit der Heimkehr von Holland beginnenden Lebensjahre.
Sie ist eine hübsche kurze Häuserreihe, die damals wie heute noch einem der schönsten Teile des Tiergartens gegenüberliegt. Gegenwärtig hat sie elf Nummern, während sie, da wir sie bezogen, nur deren neun besaß; denn ihr ganzes, nach dem Tiergarten zu gelegenes Ende, wo sich jetzt besonders stattliche Häuser erheben, wurde von der Georgeschen Gartenrestauration eingenommen.
Wenn man vom Brandenburger Tor her kommt, dem Tiergarten folgt und die herrliche Schapersche Goethestatue passiert hat, gelangt man an einen Winkel, den zwei Häuserreihen bilden. Die eine, linke, der die Stadtmauer gegenüberlag, heißt heute die Königgrätzer, wurde damals aber die Schulgartenstraße genannt. Die andere, rechte, deren Fenster in den Tiergarten schauen, hieß schon während meiner Kindheit die Lennéstraße.
Sie dankt diesen Namen dem Gartendirektor Lenné, einem höchst genialen Manne, der mir aber nur als besonders heiterer älterer Herr in der Vorstellung lebt. Er bewohnte die Nr. 1 und gehörte zu den Freunden des mütterlichen Hauses. Neben dem Fürsten Pückler darf er sicher als der ideenreichste und geschmackvollste Landschaftsgärtner seiner Zeit genannt werden. Er war es, der die Gärten von Sanssouci und auf der Pfaueninsel zu Potsdam umgestaltete und daselbst den herrlichen Park auf dem Babelsberge für Kaiser Wilhelm I., als er noch »Prinz von Preußen« war, anlegte. Auch der prächtige Zoologische Garten in Berlin ist sein Werk; doch am stolzesten war er selbst auf die Tat, den Tiergarten zu einer »Lunge« für das Volk gemacht und ihn trotz mannigfaltiger Schwierigkeiten beträchtlich vergrößert zu haben. Ich weiß nicht, für wie viele Städte und Schlösser er außerdem öffentliche Anlagen und Parks neu herstellte oder umgestaltete. Jeder Augenblick des rastlos tätigen Mannes war in Anspruch genommen, und dazu hatte König Friedrich Wilhelm IV., dem selbst mancher nicht üble Witz gelang, Wohlgefallen an dem persönlichen Verkehr mit dem klugen und heiteren Rheinländer. Darum berief er ihn auch im Sommer recht oft nach Potsdam und an seine Tafel. Gewiß hat Lenné dies als eine Ehre empfunden, doch erinnere ich mich noch wohl des klagenden Rufes, womit er die Mutter bisweilen begrüßte: »Wieder zu Hofe!«
Wie jeder, der ein offenes Herz hat für die Natur und ihre Lieblinge, die Blumen, war er ein Kinderfreund. Wir nannten ihn »Onkel Lenné«, und wie oft sind wir Sand in Sand mit ihm durch unsere Straße gegangen.
Als wir eines Tages beim Schneckenberge die Blumen musterten, die wir aus dem Rasen, nicht – was natürlich streng untersagt war – von den Beeten gepflückt hatten, und ein Tiergartenwächter mir die Botanisiertrommel abpfänden wollte, trat ihm meine Schwester Paula, deren Gerechtigkeitssinn sich empörte, entgegen und rief ihm zu: »Gleich geben Sie meinem Bruder die Trommel zurück, sonst sag' ich's dem Onkel Lenné.« Der Mann tat dem kühnen Lockenkopfe den Willen, und Onkel Lenné, dem dies Abenteuer mitgeteilt ward, lachte.
Auch andere Mitbewohner unserer Straße verkehrten freundschaftlich in unserem Hause, und wie die Eltern der Mutter, so kamen die Kinder uns nahe.
Es ist bekannt, daß der jenseits des Potsdamer Tores gelegene Stadtteil das »Geheimratsviertel« genannt ward. Unsere Straße lag zwar dem Brandenburger Tore näher, doch gehörte sie recht eigentlich mit dazu; denn es gab kein Haus, in dem damals nicht wenigstens ein Geheimrat zu finden gewesen wäre. Im Lennéschen Hause wohnte außer dem Besitzer ein Geheimer Oberjustizrat Göschel und der Kammergerichtsrat und Zensor Bardua. Nr. 2 beherbergte den Geheimen Oberfinanzrat Bitter und den Geheimen Finanzrat Kühne. In Nr. 3 zeigt mir der Adreßkalender gar drei Räte und eine Ratswitwe. Man erinnert sich wohl des Erstaunens des Barons Beisele und Dr. Eisele in den Fliegenden Blättern (Bd. V. 5, 23), als ihnen in Berlin aus jedem Fenster des Geheimratsviertels ein Geheimrat entgegenschaut. In unserer Nr. 8 wohnte außer uns nur ein Dr. jur. Freiherr von Richthofen und zwei Treppen hoch das herrliche Brüderpaar Wilhelm und Jakob Grimm. Nr. 9 gehörte dem Geheimrat Credé, dem Vater meines Leipziger Kollegen, des berühmten, nun verstorbenen Frauenarztes, und beherbergte den Geheimen Oberregierungsrat Seiffart, dessen Gattin, unsere unvergeßliche Tante Ida, die liebste und nächste Freundin der Mutter war, und im obersten niedrigen Stockwerke den Rechnungsrat Wellmer, einen höchst eigenartigen, wohlhabenden Junggesellen, von dem ich noch zu reden habe.
Doch diese Überfülle von Männern in »geheimer« Stellung gab unserer munteren, von Waldesgrün beschatteten Straße nichts geheimnisvoll Leises. Offenere, fröhlichere und bisweilen lautere Kinder als die ihren konnte man in Berlin suchen. Ich war nur ein kleiner Mann, während wir hier wohnten, und wurde bei den wilden Spielen der »Großen« nur geduldet und zu allerlei Handlangerdiensten verwendet; wenn aber mein ältester Bruder Martin statt meiner hier von jener Zeit zu erzählen hätte, so könnte er von gar verwegenen Taten berichten, zu deren Schauplatz die Geheimrats- und Professorensöhne, die sich in ihrer Gesamtheit »Lennésträßler« nannten, den nahen Tiergarten machten.
Ich sehe ihn noch vor mir, den hübschen Blondkopf Paul Seiffart, den starken Willy Bardua mit dem offenen, frohen Gesichte, der später, wie ich hörte, als Schiffskapitän die Meere befuhr, den freundlichen Ottobald von Henning, den Ludolff und Klenze! Das war ein Fest, wenn ich entwischen und mit Ludo für sie auf den Feind lauern, ihnen den Proviant nachtragen oder gar beim Herstellen von Feuerwerk helfen durfte!
Der alte Rechnungsrat im Credéschen Hause war ihr Lehrer in dieser Kunst, und sie sollte meinem ältesten Bruder und dem wackeren Paul Seiffart verhängnisvoll werden; denn – mögen sie mir den Verrat verzeihen – sie hatten einen der unter Leitung des fleißigen, stillen Beamten, der zu gleicher Zeit ein großer Käfersammler war, hergestellten Feuerwerkskörper mit in die Schule genommen, und dort war er – ich hoffe, durch einen Zufall – angezündet worden. Es hatte erst großen Jubel, dann aber ein strenges Gericht gegeben.
Da war in der Mutter der Entschluß gereift, ihren Ältesten aus dem Hause und in eine Erziehungsanstalt zu geben.
Der bekannte Pädagog Diesterweg, den sie in einem befreundeten Hause kennen gelernt hatte, leitete die Wahl auf Keilhau, und so wurde unserer kleinen einigen Schar der Anführer genommen, zu dem Ludo und ich wegen seiner überlegenen Kraft, seiner kühnen Unternehmungslust und freundlichen Herablassung zu uns Jüngeren mit einer gewissen Ehrerbietung aufgeschaut hatten.
Ich weiß noch, wie mir beim Abschied das kleine Herz weh tat und mir Tränen die Augen füllten. Wir sind bis heute gute Brüder geblieben, doch hat uns das Leben wohl oft, aber leider nie wieder dauernd zusammengeführt.
Nach seiner Entfernung ward es stiller im Hause, doch vergaßen wir ihn nicht; denn seine Briefe aus Keilhau wurden uns vorgelesen, und was er von dem fröhlichen Jugendleben, von den Spielen auf den Bergen und in den Wäldern, von den Fußreisen und Schlittenfahrten daselbst berichtete, erschien uns höchst begehrenswert, und bald wurde in Ludo und mir die Sehnsucht lebendig, ihm nachzufolgen.
Und es war doch so schön bei der Mutter, der Sonne, um die unser kleines Leben sich drehte. Ich tat und dachte nichts, ohne sie mir gegenwärtig zu denken, ohne daß sich mir die Frage aufgedrängt hätte, wie sie darüber urteilen würde, und dies nahe Verhältnis blieb, wenn auch in veränderter Form, bis an ihr spätes Ende bestehen. Schaue ich rückwärts, so darf ich es für meine ganze Entwicklung als ein Gesetz hinstellen, daß sich mein Wandel nach der engeren oder weniger engen inneren und äußeren Verbindung richtete, in der ich mit ihr stand. Die Sturm- und Drangzeit, während deren mich der überschäumende Jugendmut zu mancher Torheit fortriß, ist der einzige Abschnitt meines Lebens, in dem sich der innere Zusammenhang mit ihr zu lockern drohte. Doch das Schicksal trug Sorge, daß er bald stärker denn je gefestigt wurde. Als sie starb, stand mir ein geliebtes Weib zur Seite, das aber war eins mit mir, und in der Mutter schien mir das Schicksal die oberste Instanz genommen zu haben, den hohen Gerichtshof, dem es allein zustand, über mein Tun und Lassen ein Urteil zu fällen.
In der Lennéstraße war sie es noch, die mich weckte, die uns zum Gang in die Schule richtete, die bei Tisch, wenn es noch etwas Gutes gab, uns riet, noch ein Plätzchen dafür aufzuheben, die uns spazieren führte und – wie könnte ich das je vergessen – beim »Lampenstündchen« um sich her vereinte, um uns etwas Schönes vorzulesen oder zu erzählen. Dabei durfte keines ganz müßig sein. Während die Schwestern Handarbeiten machten, zeichnete ich, und da Ludo keinen Spaß daran fand, ließ sie ihn bald etwas ausschneiden, bald – ein wunderlicher Gedanke – ein Meisterwerk der Häkelarbeit herstellen, das gewöhnlich dem Schicksal des Penelopegewebes verfiel.
Da haben wir dem Robinson und den Märchen der »Tausendundeine Nacht« mit glühenden Wangen gelauscht, da wurden Gulliwers Reisen und der Don Quichotte, beide für Kinder bearbeitet, Nieritzsche und andre hübsche Geschichten, Natur- und Reisebeschreibungen und mehr als einmal die Grimmschen Märchen vorgelesen.
An anderen Winterabenden führte die Mutter uns – es wird manchen von der verständigen Frau überraschen – auch ins Theater. Es hatte damit indes eine eigene Bewandtnis; denn zwei freundliche Verwandte, die alte Frau Amalie Beer und unser lieber Moritz von Oppenfeld, waren auf je eine Loge im Opernhaus abonniert, und wenn sie selbst keine Verwendung für sie hatten, schickten sie uns, was ziemlich häufig geschah, den Schlüssel.
Eigentlich enthielt die Oppenfeldsche nur vier Plätze; wir wurden aber alle darin untergebracht und oft auch noch die Erzieherin oder eine Freundin der Schwestern.
So kam es, daß ich schon als Knabe die meisten Opern, die damals aufgeführt wurden, zu hören und außerdem auch die großen Ballette, die Friedrich Wilhelm IV. besonders liebte und die Taglioni so vortrefflich anzuordnen verstand, zu sehen bekam.
Natürlich erschien unserem Kindergeschmacke das komische Tanzstück »Robert und Bertram« von Ludwig Schneider und dergleichen weit ergötzlicher als ernste Opern; wie tief mich aber als Neun- oder Zehnjährigen der Verkehr des Don Juan mit dem steinernen Gaste und die Verschwörungsszene in den Hugenotten ergriff, und wie lange mir, obgleich ich kaum mittelmäßig musikalisch begabt war, der Sehnsuchtsruf des Orpheus »Eurydice!« in der Seele nachklang, will mir jetzt noch merkwürdig erscheinen.
Daß diese sich recht häufig wiederholenden Kunstgenüsse schade für uns Kinder waren, bekenne ich willig. Und doch! Wenn man mir später zugestand, daß mir die Darstellung großer Massen und ihrer Ergriffenheit von einer bedeutenden Erregung wohl gelinge und es meinen Romanen nicht an dramatischer Bewegung, der Szenerie nicht an Anschaulichkeit und, wo es erforderlich ist, an Glanz fehlt, so danke ich dies vielleicht mit den prächtigen, von herzergreifenden Tonmassen umwobenen Bildern, die sich mir als Kind in die Seele prägten.
Zum Glück sollte das Leben in und mit der Natur in Keilhau den Gefahren entgegentreten, die für mich aus dem frühen und häusigen Theaterbesuche hätten erwachsen können. Was ich dort in Wald und Feld offenen Auges erschaute und erlebte, hat dafür gesorgt, daß ich in späteren Jahren, als es meinen Erzählungen einen Schauplatz zu geben galt, keine Kulissen nachzumalen brauchte, sondern mir die Natur selbst zum Vorbild zu nehmen vermochte und zum Vorbilde nahm.
Ich habe übrigens noch von einem andern Einfluß auf mein Schaffen zu berichten, der nicht in Thüringen, sondern allein in der Berliner Kinderzeit wurzelt: ich meine den frühen Verkehr mit Künstlern und die Gelegenheit, Zeuge ihres Schaffens zu sein.
Oft genug ist ja schon ausgesprochen worden, doch möchte ich hier aus eigenster Erfahrung wiederholen, daß die meisten und besten Motive, die sich dem Dichter zur künstlerischen Ausgestaltung aufdrängen, aus seiner Kinderzeit stammen. Dies Gesetz, das sich aus der Betrachtung des Lebens und Schaffens des Größten (Goethe) ergibt, hat sich auch bei mir Kleinem entschieden als gültig erwiesen.
An mannigfaltiger Anregung fehlte es wahrlich nicht in dieser frühen Zeit meines Lebens. Blicke ich aber auf sie zurück, so wird mir recht lebhaft bewußt, wie schweren Gefahren nicht bloß die äußere, sondern auch die innere Entwicklung der Kinder ausgesetzt ist, die in großen Städten aufwachsen.
Vor Ausschreitungen, zu denen mancherlei lockt, kann gute Bewachung sie bewahren, nicht aber vor den starken, schnell wechselnden Eindrücken, die das Leben ihnen unabweisbar aufdrängt. Aus dem Paradiese der Kindheit werden sie zu früh mitten in den Jahrmarkt des Lebens gestoßen. Da gibt es vielerlei zu schauen, was die Vorstellung bereichert, doch wo fände das junge Herz die Sammlung, nach der es sich sehnt und deren es bedarf? – Das Säuseln des Windes, der über das Kornfeld streicht und die Wipfel der Bäume des Forstes bewegt, den Vogelsang in den Zweigen, das Zirpen des Heimchens, den zur Ruhe lockenden Klang der Abendglocken, all jene Stimmen, die auf dem Lande zur Sammlung laden, zum Horchen und Ausschauen und endlich zum Aufbau und zur Ausgestaltung einer eigenen Welt, bringt der Lärm der Großstadt zum Schweigen. So kommt es, daß in einer solchen wohl regsame, praktische Männer und unter günstigen Umständen auch große Gelehrte, doch wenig Künstler und Dichter erwachsen. Wenn die Großstädte dennoch die Zentren sind, auf deren Gebiet sich die Poeten, Maler, Bildhauer und Architekten des Landes vereinen, so hat das seinen guten Grund. Doch es ist mir hier ein weiteres Eingehen versagt. Das junge Bäumlein bedarf eben eines anderen Bodens und anderer Pflege als der ausgewachsene Baum, den wir dahin pflanzen, wo seine Früchte die rechte Würdigung finden. Für seine Wurzeln ist Nahrung, was dem jungen Pflänzchen zum Schaden gereicht.
Ich danke es der Mutter, daß sie uns zeitig aus der Unruhe des Berliner Lebens entfernte.