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Der Weg, den Canolles in Barrabas' und eines zweiten Mannes Begleitung – die andern waren wieder umgekehrt – zurückzulegen hatte, war qualvoll. Es peinigte ihn nicht nur der Gedanke an das eigene Schicksal und den grausigen Aufenthalt in den Verließen des Felsennestes, sondern es tauchte auch anklagend die Erinnerung an ein lange Zeit vergessenes Frauenbild auf.
Nanons reizvolle Züge richteten sich vorwurfsvoll auf den Undankbaren, den sie mit Wohltaten überhäuft hatte und dessen Herz von zwiespältiger Neigung zerrissen wurde. Die ganze Nacht hindurch folterten so den Baron die Gedanken an das Kommende wie an das Vergangene.
Bald nachdem der neue Tag begonnen hatte zu grauen, machte der Wagen halt.
»Halten wir an, um zu frühstücken?« fragte Canolles.
»Wir halten hier ganz an, mein Herr, denn wir sind an Ort und Stelle. Dort ist die Insel Saint-George, und wir haben nur noch über den Fluß zu setzen.«
»Es ist wahr,« murmelte Canolles. »So nahe und so fern!« indem er daran dachte, daß nur eine Viertelstunde von hier entfernt die Besitzung der Frau von Cambes lag, deren kleines weißes Schloß ihm der Kutscher in der Ferne zeigte – war doch die Insel Saint-George seit alter Zeit Eigentum der Herren von Cambes gewesen, und erst der Gemahl der Frau von Cambes hatte sie dem König geschenkt.«
»Mein Herr, man kommt uns entgegen,« sagte Barrabas, »wollt Euch zum Aussteigen bereit halten.«
Der zweite Wächter Canolles', der auf dem Bocke neben dem Kutscher saß, stieg ab und öffnete den verschlossenen Schlag, wozu er den Schlüssel hatte.
Canolles wandte, seine Blicke nach der Festung, die sein Wohnort werden sollte. Er gewahrte zuerst jenseits eines ziemlich stark fließenden Flußarmes eine Fähre und bei der Fähre einen Posten von acht Mann.
Hinter dem Posten erhoben sich die Werke der Zitadelle.
»Gut,« sagte Canolles zu sich selbst, »man hat mich erwartet und die gewöhnlichen Maßregeln getroffen. Das sind meine neuen Wächter?« fragte er laut seinen Begleiter Barrabas.
»Gern würde ich dem Herrn Bescheid geben,« erwiderte Barrabas, »aber in der Tat, ich weiß es nicht.«
In diesem Augenblick, nachdem sie ein Signal gegeben hatten, das von der Schildwache am Tore des Forts wiederholt wurde, stiegen die acht Soldaten und der Sergeant in das Schiff, fuhren über die Garonne und landeten in der Sekunde, wo Canolles den Fußtritt des Wagens verließ.
Als der Sergeant den Offizier erblickte, näherte er sich sogleich, grüßte militärisch und fragte: »Habe ich die Ehre, mit dem Herrn Baron von Canolles, Kapitän im Regimente Navailles, zu sprechen?«
»Mit ihm selbst,« antwortete Canolles, erstaunt über die Höflichkeit dieses Menschen.
Der Sergeant wandte sich zu seinen Leuten, kommandierte: Gewehr auf Schulter, und bezeichnete sodann Canolles mit dem Ende seiner Pike das Schiff. Canolles nahm seinen Platz zwischen den Wächtern; die acht Soldaten und der Sergeant stiegen nach ihm ein, und das Fahrzeug entfernte sich vom Ufer, während Canolles einen letzten Blick auf das Schloß Cambes warf, das allmählich hinter einem Hügel verschwand.
Beinahe die ganze Insel war bedeckt mit äußeren und inneren Böschungen, mit Glacis und Basteien; ein kleines Fort in ziemlich gutem Zustande beherrschte die Gesamtheit dieser Werke. Man gelangte in das Innere durch ein gewölbtes Tor, vor dem eine Schildwache auf und ab ging.
»Wer da?« rief diese.
Die kleine Truppe machte Halt, der Sergeant entfernte sich, rückte auf die Schildwache vor und sagte ihr einige Worte.
»Ins Gewehr!« rief die Schildwache.
Sogleich kamen etwa zwanzig Mann, aus denen der Posten bestand, aus der Wachtstube hervor und stellten sich in aller Eile vor dem Tore in Reih und Glied auf.
»Kommt, mein Herr!« sagte der Sergeant zu Canolles.
Der Trommler schlug den Marsch.
»Was soll das bedeuten?« fragte sich der junge Mann.
Und er marschierte vorwärts, ohne zu begreifen, was hier vorging, denn alle diese Vorbereitungen glichen mehr Ehrenerweisungen einem hohen Offizier gegenüber, als Vorsichtsmaßregeln gegen einen Gefangenen.
Das war noch nicht alles, Canolles hatte nicht wahrgenommen, daß sich in dem Augenblick, wo er aus dem Wagen stieg, ein Fenster in der Wohnung des Gouverneurs öffnete, und daß ein Offizier aufmerksam die Bewegungen des Schiffes und die Aufnahme beobachtete, die dem Gefangenen und seinen zwei Wächtern bereitet wurde.
Als dieser Offizier sah, daß Canolles den Fuß auf die Insel setzte, stieg er rasch herab und kam ihm entgegen.
»Ah! ah!« sagte Canolles zu sich selbst, »das ist der Kommandant des Platzes, der seinen Gefangenen in Augenschein nehmen will.«
Als der Offizier nahe bei dem Baron war, zog er den Hut und fragte: »Habe ich die Ehre, mit dem Herrn Baron von Canolles zu sprechen?«
»Mein Herr,« antwortete Canolles, »Eure Artigkeit macht mich in der Tat verwirrt. Ja, ich bin der Baron von Canolles; ich bitte Euch, behandelt mich mit der Höflichkeit, die ein Offizier dem andern schuldet, und weist mir ein Quartier so wenig schlecht als möglich an.«
»Mein Herr,« sagte der Offizier, »der Aufenthalt hier ist eigener Art: um jedoch Euren Wünschen zuvorzukommen, hat man alle möglichen Verbesserungen vorgenommen.«
»Und wem habe ich diese ungewöhnlichen Maßregeln zu verdanken?« fragte Canolles lächelnd.
»Dem König, der alles, was er tut, gut tut.«
»Ganz gewiß, ganz gewiß, mein Herr. Gott soll mich behüten, daß ich den König verleumde, besonders bei dieser Gelegenheit; es wäre mir jedoch nicht unangenehm, einige Auskunft zu erhalten.«
»Befehlt, mein Herr, ich stehe zu Eurer Verfügung; aber ich nehme mir die Freiheit, Euch zu bemerken, daß die Garnison Euch erwartet, um Euch zu empfangen.«
»Pest!« murmelte Canolles, »eine ganze Garnison, um einen Gefangenen zu empfangen, den man einsperrt; mir scheint, das sind gar zu viele Umstände.« Dann fügte er laut hinzu: »Ich stehe zu Euren Befehlen, mein Herr, und bin bereit, Euch zu folgen, wohin Ihr mich führen wollt.«
»Erlaubt mir also, Euch voranzugehen, um Euch die Honneurs zu machen.«
Canolles folgte ihm, sich im stillen Glück wünschend, daß er in die Hände eines so höflichen Mannes gefallen war.
Als er in den Hof der Zitadelle kam, fand er einen Teil der Garnison unter Waffen. Der Offizier, der ihn führte, zog nun den Degen und verbeugte sich vor ihm.
»Mein Gott, was für Umstände!« murmelte Canolles.
In demselben Augenblick ertönte die Trommel unter dem Gewölbe; Canolles wandte sich um, und eine zweite Reihe von Soldaten, die aus dem Gewölbe hervormarschierte, stellte sich hinter der ersten auf.
Zugleich überreichte der Offizier Canolles zwei Schlüssel.
»Was ist das?« fragte der Baron, »was macht Ihr denn?«
»Wir erfüllen das gewöhnliche Zeremoniell nach den strengsten Regeln der Etikette.«
»Für wen haltet Ihr mich denn?« fragte der Baron im höchsten Maße erstaunt.
»Für den, der Ihr seid, wie mir scheint, für den Herrn Baron von Canolles, den neuen Gouverneur der Insel Saint-George.«
Canolles war so geblendet, daß er beinahe zu Boden sank.
Der Offizier fuhr fort: »Ich werde sogleich die Ehre haben, dem Herrn Gouverneur die Ernennung zu übergeben, die mir diesen Morgen in Begleitung eines Briefes zugekommen ist, welcher mir seine Ankunft auf heute ankündigte.«
Ganz verblüfft über ein Ereignis, das so himmelweit von dem verschieden war, das er erwartet hatte, setzte sich Canolles in Marsch und folgte, ohne ein Wort zu sagen, dem Offizier, der ihm den Weg zeigte, mitten durch die Trommeln, die man nun wieder rührte, durch die Soldaten, die ihre Gewehre präsentierten, und durch alle Bewohner der Festung, die ihn mit freudigem Zuruf empfingen.
Als er in einem hübschen Zimmer angelangt war, von dessen Fenstern man, wie er sogleich wahrnahm, das Schloß Cambes erschaute, las er sein Patent, das in gehöriger Form abgefaßt, von der Königin unterzeichnet und von dem Herzog von Epernon gegengezeichnet war.
Bei diesem Anblick brach Canolles überwältigt zusammen und sank in einen Lehnstuhl.
Wie sollte er sich nur diese wunderbare Wendung der Dinge erklären? Da niemand weiter zugegen war, befragte er seinen Begleiter und Exwächter Barrabas, der aber, ebenso erstaunt wie der Baron selbst, das Rätsel nicht zu lösen wußte.
»Mein Herr Gouverneur,« sagte er, »ich kann nichts weiter als Euch meine untertänige Reverenz machen. Ihr könnt auf der Insel Saint-George glücklich sein wie ein König. Vortrefflicher Wein, Wildbret, das die Ebene liefert, Fische, die bei jeder Flut die Barken von Bordeaux und die Weiber von Saint-George bringen; gnädiger Herr, oh! das ist wundervoll.«
»Sehr gut, ich werde Euren Rat zu befolgen suchen; nehmt diese Anweisung und geht zu dem Zahlmeister, der Euch zehn Pistolen dagegen einhändigen wird. Ich würde sie Euch selbst geben, da Ihr mir aber aus Klugheit wie Ihr sagt, damit ich Euch nicht bestechen könne, mein Geld genommen habt . . .«
»Und daran habe ich wohl getan,« rief Barrabas; »denn hättet Ihr mich bestochen, so wärt Ihr geflohen, und wärt Ihr geflohen, so hättet Ihr ganz natürlich die hohe Stellung verloren, zu der Ihr nun gelangt seid, was mich für immer untröstlich gemacht haben würde. Gnädiger Herr, dürfte ich es übrigens wagen, Euch zu bemerken, daß ich es für unnötig halte, zu dem Zahlmeister zu gehen . . .«
»Wie, Ihr schlagt es aus?« rief Canolles erstaunt.
»Nein, Gott soll mich bewahren! Dem Himmel sei gedankt, ich habe keinen falschen Stolz. Aber ich bemerkte, daß aus einem Kistchen auf Eurem Kamin gewisse Schnüre hervorsehen, die ganz den Eindruck von Börsenschnüren auf mich machen.«
»Ihr versteht Euch auf Schnüre, Meister Barrabas,« sagte Canolles ganz erstaunt; denn es stand wirklich auf dem Kamin ein kostbares Schmuckkästchen. »Wir wollen sehen, ob Eure Ahnungen richtig sind.«
Canolles hob den Deckel des Kistchens auf und fand in der Tat eine Börse und in der Börse tausend Pistolen mit folgendem Billett:
»Für die Privatkasse des Herrn Gouverneurs der Insel Saint-George.«
»Bei Gott,« sagte Canolles errötend, »die Königin macht ihre Sachen gut.«
Und unwillkürlich kam ihm die Erinnerung an Buckingham, dem die Königin ihre Liebe geschenkt hatte, in den Kopf; vielleicht hatte die Königin hinter irgend einem Vorhange das glorreiche Antlitz des schönen Kapitäns erschaut, vielleicht begünstigte sie ihn mit einer zärtlichen Teilnahme; vielleicht . . . man erinnert sich, daß Canolles ein Gascogner war.
Leider zählte die Königin damals zwanzig Jahre mehr, als zur Zeit Buckinghams.
Wie dem auch sein mochte und von welcher Seite ihm das Geschenk auch zukam, Canolles tauchte seine Hand in die Börse, nahm zehn Pistolen heraus und übergab sie Barrabas, der sich hierauf unter wiederholten ehrfurchtsvollen Bücklingen entfernte.