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Ich reise nun wieder gen Süden dem Meere zu nach Kalkutta. Immer weiter entfernen sich im Norden die gewaltigen, schneebedeckten Bergriesen des Himalaja, bis sie endlich plötzlich wie ein Trugbild in der zitternden Atmosphäre der heißen Tiefebene von Bengalen verschwunden sind. In rasender Eile fährt der Postzug durch ein gesegnetes Tiefland, dessen Fruchtbarkeit die Nähe dieser unzähligen Flußarme und Bewässerungskanäle verrät, die das Gebirge der schmachtenden Ebene schickt, in der sie sich später mit den beiden Strömen Ganges und Brahmaputra wieder vereinigen. Längst hat eine unermeßliche und dichte Tropenvegetation die dunkle Flora des Gebirgsvorlandes verdrängt, und wir befinden uns jetzt inmitten der Wildnis, die, je weiter wir nach Süden vordringen, um so dichter zu werden scheint. Gegen Abend, noch vor Sonnenuntergang, überquere ich zum letzten Male Indiens heiligen Strom, den Ganges, der im Westen unter dem blutroten Schimmer des hinabsinkenden Sonnenballs wie ein stiller Meeresarm die Landschaft erfüllt. Eine drückend schwüle Nacht liegt über dem oberen Gangestale, dessen Stromgebiet mit vielen Nebenarmen viele Hunderte von Quadratmeilen nach Norden und Nordwesten reicht.
In der Dämmerung des Morgens erreiche ich Kalkutta, die größte Stadt Indiens, die am östlichen Ufer des Hugli, dem breiten Arme des Ganges, liegt. Kalkutta ist eine altindische Siedlung, die schon im Jahre 1700 in den Besitz der Engländer kam. Die Stadt hat heute über 1 200 000 Einwohner und war lange Zeit der Sitz des Vizekönigs von Indien, dessen Residenz man später nach Delhi verlegt hat. Kalkutta gehörte, wie die übrigen zwei Großstädte Vorderindiens Madras und Bombay, zu den ersten und wertvollsten Stützpunkten, die England als den Anfang seiner Herrschaft auf indischem Boden gewonnen hatte. Fast bietet es dasselbe Bild wie es die Rivalin im Westen, Bombay, zeigt. Ein großes, betriebsames Hafen- und Handelsviertel, eine weit ausgedehnte luxuriöse Europäerstadt mit prunkenden Gebäuden und wohlgepflegten Anlagen, und dicht daneben die übervölkerten Viertel und Basars der Eingeborenen. Vorherrschend ist in Kalkutta der Typ des Bengali, des geistig geweckten Sohnes des nordöstlichen Indiens. Doch findet man auch in dem Gewirr der Rassen und Nationen häufig genug die hinterindischen Stämme, die Birmesen und den malaiischen Inder der östlich angrenzenden Länder. Kalkutta besitzt, wie Bombay, eine durch den Weltkrieg in riesigem Maße geförderte Baumwolle- und Juteindustrie, die sich in der Hauptsache mit der Verarbeitung des in Bengalen und Assam gepflanzten Faserproduktes befaßt. Außerdem bestehen die Haupterzeugnisse und Ausfuhrartikel von Bengalen hauptsächlich in Opium, Tee, der aus den nördlichen Provinzen stammt, Leinsaat, Häute und Seide. In dem Hewrahviertel erhebt sich ein Säulenwald von qualmenden Schornsteinen, und unaufhörlich faucht dort der keuchende Atem der Großindustrie Indiens. Tausende von Webstühlen und Hunderttausende von Spindeln sausen in den gigantischen Betrieben, in denen ein großes Arbeiterheer sein Brot findet. Doch Kalkutta leidet nicht, wie Bombay, an diesem Übel der zwangsläufigen Einengung seiner stets wachsenden Bevölkerung, denn die Stadt hat die Möglichkeit, sich nach allen Seiten hin frei und unbeengt auszudehnen.
In seinem Wesen entspricht die Stadt vollkommen dem Charakter der Neuzeit, der sich besonders in seinem ungeheuren Verkehr und in den repräsentablen Europäervierteln, welche zugleich den behördlichen Mittelpunkt der Stadt bilden, ausprägt. Historisch ist Kalkutta unbedeutend. Altindische Tempel gibt es in der Stadt nur zwei, von denen der eine der blutrünstigen Göttin Durga geweiht ist, während der durch eine Stiftung entstandene Jainistentempel einem neuzeitlichen profanen Palastbau ähnelt, doch manche interessante architektonische Merkmale besitzt. Beide Tempel können als die einzigen historischen Überreste aus Kalkuttas Vergangenheit bezeichnet werden. Sie finden durch die Fremden, welche die Stadt besuchen, häufig gar keine Beachtung, weil sie im Vergleich zu den übrigen Kultstätten Indiens recht unbedeutend erscheinen und im Lichte der gewaltigen Eindrücke, die man aus Indiens hervorragenden antiken Kultstätten gewonnen hat, wie matte, ferne Sterne verblassen. Wenn man in Kalkutta weilt, sind jedoch die wundervollen Tempelbauten, die man in Orissa, in Bhubaneswar, Puri und Konarak findet, nicht mehr allzu weit entfernt, und wer sie nicht auf seiner Reise nach dem Süden berührt, wird durch diesen kurzen Abstecher zu den bedeutungsvollsten Bauwerken früherer hinduistischer Kulturperioden Indiens die reiche Fülle seiner Eindrücke um ein reiches Erlebnis vermehren.
Da ich meine Reise nach Hinterindien über Kalkutta fortsetzen und vorderindischen Boden verlassen will, fahre ich vor meiner endgültigen Weiterreise zu dem etwa 400 km weiter südlich liegenden Kandaghiri und Bhubaneswar. Dort finde ich, ähnlich wie in Ellora, tief in den Felsen versenkte, gewaltige Höhlentempel althinduistischen Ursprungs, mit herrlichen Steinreliefs geschmückte, unterirdische Klosterwohnungen jainistischer und buddhistischer Mönche aus dem dritten und vierten Jahrhundert. Schon von ferne blicken mir die gewaltigen, vertikal gegliederten Türme des Lingaradjtempels von Bhubaneswar entgegen. Bar jedes figürlichen Schmuckes, erheben sich die aus wagerechten Wulstprofilen übereinander geschichteten, vasenförmigen Pagoden in das tiefe reine Blau des tropischen Himmels. Die niedrigen Sockelbauten und Steinniesen der Heiligtümer in Konorak sind wahre Wunderwerke altbrahmanistischer Tempelarchitektur, deren bis zu gespinsthafter Feinheit getriebene Steinbildhauerei ungemein reich an figürlicher und ornamentaler Plastik von erhabener Schönheit ist. Gewaltige, phantastische Tierfiguren aus Stein flankieren die Eingänge. Reliefs und Steinziselierungen füllen die Tempel aus, reich gegliederte Profile mit endlosen Tierfriesen und heiligen Symbolen schmücken die Wände dieser oft ruinenhaften, alten Bauwerke. Ihre Entstehung fällt in das Jahr 1000 bis 1200. In Puri sind dieselben Gestaltungen dieser wuchtigen Tempeltürme und ähnliche Bildwerke zu finden.
In ihrem Innern ruhen plumpe, aus Holz geschnitzte Götterfiguren, die in wahlloser Weise mit Farbe bemalt sind. Über ihnen erheben sich riesige Steinbaldachine, die in diesen merkwürdig geformten, massigen Gopurams endigen. Wie unendlich verschieden sind doch diese Kultidole des Hindu in Indien. Hier in Puri sind es grobe Darstellungen göttlicher Verkörperungen, deren Ausdrucksformen so sehr an die Primitivität niederer Völker erinnern. Im Süden Vorderindiens der späteren Zeit finden wie dagegen jene von einer phantastischen Mystik und von starkem stilistischen Formempfinden getragenen Bildwerke, deren Züge das Merkmal des Übersinnlichen tragen. Mehrere Tage konnte ich dem Besuch dieser Tempel von Orissa widmen, ehe ich wieder zu der Nüchternheit dieser »Stadt der Paläste«, wie der Engländer stolz Kalkutta nennt, zurückkehrte.
Ein Besuch in dem stark an die westlichen Einflüsse des Abendlandes anklingenden Eingeborenenviertel Kalkuttas brachte mir zwei immerhin nicht alltägliche Erlebnisse, die sich durch ihre Eigenheiten meiner Erinnerung stark eingeprägt haben. Ein Opferfest, welches man zu Ehren der Göttin Kali in dem Tempel Kalighat Kalkuttas feierte, fand mich als ungebetenen Gast mitten unter der Menge, die der grausamen Durga zuliebe an Stelle dieser notdürftigen Tieropfer, die ihnen die Gesetze der Fremden aufdrängten, am liebsten wieder zu den traditionellen Menschenopfern zurückkehren würden. Viele Pilger, die aus der Provinz herbeiströmten, füllten den Hof des Tempels, in dem die Priester die Opfernden erwarteten. Die Gnadeheischenden brachten Schafe, Lämmer und Zicklein, die während der religiösen Handlung geschlachtet werden sollten. Im Hintergrund vor einem Altare, der die fürchterliche Gottheit auf der Brust Shivas tanzend darstellt, hocken die zelebrierenden Priester, und ein wahrer Blutrausch hat das Volk im Tempel erfaßt. Man schleppt blökende und jammernde Tiere, welche die Pilger zum Opfern gebracht haben, aus einem düstern Verlies hervor, trennt ihnen mit einem Streich den Kopf vom Rumpf und bespritzt mit dem warmen Blut die Altäre und Götterbilder, die von Blut triefen. Ein widerlicher, dumpfer Geruch erfüllt die Hallen und Gewölbe des Tempels.
Nach dem Schauspiel dieses wilden hinduistischen Schlachtfestes im Durgatempel des Kalighats besuchte ich am Abend ein großes Hindutheater im Eingeborenenviertel, in dem ich mein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen hoffte. Man sandte Einladungen und Repertoireverzeichnisse in die Hotels und Quartiere der Fremden und hielt, in Erwartung von Gästen der westlichen Welt, stets einige Logen »for European ladies and gentlemen« bereit. Als ich das Theater betrat, welches sich an die Giebelseite eines Lichtspielhauses anlehnte, befand ich mich in einem von spärlichem Ampellicht erleuchteten Milieu, einer ehemaligen Lagerhalle, deren Wände und Fußböden von weißen Ameisen unterwühlt waren. Als Bühne hatte man einen kastenartigen Verschlag errichtet, zu dessen beiden Seiten im Halbdunkel die Musikanten eines merkwürdigen Orchesters unaufhörlich in indischen Dissonanzen wimmerten. Das Theater war erdrückend voll, und sogar die mit schäbigem Plüsch gepolsterten Bänke der kleinen Seitenlogen waren mit vornehmen Babus und einer Anzahl geheimnisvoll verschleierter Damen besetzt. Der zur Aufführung gelangende Zehnakter war dem mit vielerlei schauerlichen Beigaben verbrämten, klassischen Gedicht der indischen Ramayana entnommen, einer altindischen Heldenlegende, deren mystischer Inhalt, wie mir schien, von einem spekulativen Eingeborenenregisseur zu einem rührseligen Stoff bearbeitet wurde.
Das Stück, in dem mehrere grotesk geschminkte und mit malerisch-dekorativen Masken und Gewändern geschmückte Schauspieler und Schauspielerinnen auftraten, war ein Singspiel, dessen wechselvolle Handlung in der Urdusprache eine ungemein reiche und von starkem Rhythmus betonte Geste und Mimik ausdrückte. Von dem impulsiven Temperament, das die Künstler, von einer synkopischen Musik des Orchesters wirksam unterstützt, zum Ausdruck brachten, ließen sich die Zuschauer in solchem Maße hinreißen, daß während des Spiels häufig Zwischenrufe und laute, spontane Ovationen, die mehr der Handlung als den Leistungen der Schauspieler galten, aus dem Zuschauerraum hörbar wurden. Geräuschvoll verwünschte man die Bösewichter und Dämonen, die sich mit sonderlich grotesken, fratzenhaften Masken und phantastischen Tierkörpern im farbigen Rampenlicht zeigten. Man lobte und pries laut die Heroen, welche zum Kampf gegen die Unholde auszogen, und tröstete die sentimentalen Prinzen und unglücklichen Königstöchter, deren Jammer und Freude durch die merkwürdig klagenden und jauchzenden Akkorde des Hinduorchesters hervorgehoben wurde. Wohl mögen nach den Begriffen der eingeborenen Zuschauer manche Reize in dem merkwürdigen Spiel enthalten gewesen sein. Mir persönlich war diese eigenartige, von einer packenden Sprache und dem bewegten Rhythmus erfüllte Darstellungsweise sehr interessant, doch auf die Dauer verlor das Spiel für den fremden Beschauer seine Reize und wirkte durch die stereotype Art des für mich wesenlosen und unverständlichen, sich ewig wiederholenden Stoffes langweilig und ermüdend, so daß ich nach anderthalbstündigem zweifelhaften Kunstgenuß aus dem von üblen Dünsten erfüllten Musentempel den Rückzug antrat.
Ich hatte früher in einer südlichen Provinz, in einem kleinen, bescheidenen Hindutheater ein historisches Tanzspiel gesehen, welches bei weitem höhere, künstlerische Reize und Werte aufzuweisen hatte, wie diese, auf den fragwürdigen Geschmack des eingeborenen Großstadtpublikums eingestellten Bühnenkräfte sie zu bieten wußten, deren Früchte des Erfolges offenbar von den wahllosen Zugeständnissen an die breite Masse abhängig waren. Die nächsten Tage verbrachte ich mit dem Besuch des großen indischen und asiatischen Museums in Chowringhee, welches eine der größten kulturhistorischen und völkerkundlichen Sammlungen Indiens enthält. Fuhr hinaus nach Sipur, einer wundervollen botanischen Anlage mit dem berühmten Banianenbaum, dessen Luftwurzelstock einer riesigen Säulenhalle gleicht, und versäumte nichts, was Kalkutta an reizvollen Eigentümlichkeiten dem Auge des Fremden zeigen kann. Doch was konnte mir die Profanie einer solchen von modernen Einflüssen beherrschten Weltstadt bieten, nachdem alle die großen und wundersamen Stätten aus Vorderindiens Vergangenheit bereits hinter mir lagen und mit ihren Wundern in mir die Schätze köstlicher Erinnerungen schufen.
Ein kühler, taufrischer Herbstmorgen fand mich auf einem kleinen Küstendampfer der British India Steam Navigation Co., und mit einer steifen Nordwestbrise dampften wir aus dem Herzen Kalkuttas auf dem breiten, versandeten Hugli dem Bengalischen Meere zu, welches wir am Spätnachmittag in der Glut der sinkenden Abendsonne erreichen. In unserm Rücken lösen sich die sanften, dunsthaften Umrisse der vorderindischen Küste und des von dichtem Urwald bedeckten Gangesdelta, der Sunderbunds, in dem Dämmerlicht des Abends. Noch ein letzter Blick und stiller Gruß hinüber nach dem märchenhaften Land im Westen, auf dessen Boden sich meine reichen Erlebnisse zu gewaltigen und unvergeßlichen Eindrücken und Erinnerungen gestalteten. Und weiter geht die Fahrt in die Nacht mit südöstlichem Kurs nach Rangoon an Südbirmas Küste, einem glücklichen, sonnentrunkenen Lande entgegen.