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Von den Blauen Bergen steige ich auf den Serpentinen der Paßstraße, die wie die Etagen eines römischen Amphitheaters in die steilen Berghänge eingegraben sind, hinunter in das schimmernde Küstenland von Malabar. Es ist das Paradies Indiens, das sich in göttlicher Fruchtbarkeit wie ein Land des ewigen Frühlings an die blaue, dunsthafte Mauer des westlichen Randgebirges anschmiegt und seinen grünen Teppich in leisen Senkungen bis zum Ozean hinabschickt.
Aus einer dichten, rauhen Urwaldwildnis, die wuchernd die steile Wand der Westghats bedeckt, gelangt man ganz plötzlich und unvermittelt, als ob man in eine andere Welt trete, in die Lieblichkeit dieser friedlichen Landschaft. Es ist ein einziges Meer von herrlichen Palmen, zwischen dem blühende Haine, Gärten und üppige Felder liegen. Unter den dichten Kronen breitet sich weiches, mattes Dämmerlicht aus. Und hinter diesem Gürtel ewigen Grüns brandet der tiefblaue Ozean, der, von den Gipfeln der Berge aus gesehen, so oft wie ein smaragdener Spiegel schien. An seinen Strand führen schmale Straßen, die sich wie tief eingeschnittene Hohlwege durch diese Palmenwälder ziehen. Über ihnen schließt sich das Gewölbe der leise geneigten Wedel, durch die das Flimmern der Sonne hereinbricht. Rötliche, warme Erde, aus der überall der Segen der Fruchtbarkeit quillt, breitet sich wie ein weicher Teppich über das Land. Nach einer langen Fahrt im Ochsenwagen erreiche ich Calicut, ein zwischen herrlicher Tropenflora gelegenes Städtchen, das sein freundliches Gesicht dem Meere zuwendet. Dort finde ich deutsche Freunde, deren Bungalows mit weiten, kühlen Veranden inmitten duftender Gärten und unter hohen, schattigen Palmenhainen liegen. Jene Deutschen sind die Sendboten der deutsch-schweizerischen Mission, die in Malabar einen festen Stützpunkt gewonnen hat.
In Malabar gleicht die Landschaft in ihrer Üppigkeit und malerisch satten Farbenpracht den Bildern tropischer Schönheit, wie ich sie kurz zuvor auf Ceylon gesehen hatte. An einer langgestreckten, flachen Küste, an der die Brandung oft in lagunenartigen Seen und Binnenmeeren verebbt, wogen endlose Palmenwälder. Fischerdörfer liegen willkürlich zerstreut im Schatten dieser weiten, fruchtbaren Haine, und draußen auf den leuchtenden Schaumkämmen des Ozeans schaukeln kleine, mit mächtigen Segeln bespannte Nußschalen, in denen sich die Fischer weit auf das Meer hinauswagen. Der leuchtende Strand, auf dem sich braune Fischerkinder tummeln, ist von der ewig spülenden Brandung bewegt. Oft schäumt das Wasser tief in das unterhöhlte Wurzelwerk der Palmenwälder hinein und bringt das Leben der Bäume, deren Stämme sich wie sterbend herniederneigen, in Gefahr.
Noch ist die Zeit des Südwestmonsuns nicht gekommen. Wenn er vom Arabischen Meer herüberbraust, überschwemmt er diese Küste mit rauschendem Regen, der die Fruchtbarkeit des Landes in geradezu märchenhafter Weise steigert. Doch gleicht diese friedliche Küste dann einem Sturmwall, an dem die gefahrdrohenden, tosenden Fluten des aufgeregten Meeres branden. Und während das Land unter schwerem, trübem Himmel in die graue Monotonie des Regens gehüllt ist, beginnt sich unter der feuchten, braunen Decke der Erde das triebhafte Leben der Fruchtbarkeit zu regen. In schweren, dumpfen Dünsten liegt die Luft über dem Boden. Die Temperatur gleicht der ungesunden, drückenden Schwüle eines Treibhauses, und auf der Seele der Menschen liegt jene Melancholie grauer, sonnenloser Tage. Doch leidenschaftliches Wachstum sprießt über und unter der Erde, und der merkwürdig lebendige Duft schwellender Vegetation erfüllt wie ein überirdisch belebender Hauch das Land. Während der Ernten bevölkern sich die Felder mit diesen wundervollen, lichtbraunen Gestalten der Eingeborenen, die in emsiger Arbeit alles zusammenraffen, was ihnen eine fürsorgliche Natur in der Fülle des Übermaßes beschert. Auf den Gesichtern der Menschen, die diese Küste bewohnen, liegt ein friedlicher Zug, und es ist, als ob sie der göttliche Segen ihrer Heimat unendlich beglückte. Die Malabaren sind meist Ackerbauer. Die Landleute tragen einen runden, merkwürdigen Bastschirm als Kopfbedeckung, und überall, wo man diesen Menschen begegnet, sieht man zuerst den riesigen Hut, der wie ein großer Teller auf dem Kopfe sitzt und den nackten Oberkörper vor den Strahlen der Sonne schützt. Auch die Frauen auf dem Lande tragen die Brust unbedeckt in natürlicher und keuscher Anmut, so, wie auch die Reinheit der Natur ihre Reize den Menschen dieser Küste nicht verbirgt. Inmitten hoher Kokospalmenhaine liegen die mit niedrigen Erdwällen umgebenen Reisfelder versteckt, die sich oft in endloser Ausdehnung am Rande der Wälder hinziehen. Wählend der Erntezeiten herrscht dort im Innern des Landes ein reges Leben. Es ist ein wundervoller Anblick, wenn die schlanken, biegsamen Körper jugendlicher Männer, Mädchen und Frauen die Felder beleben, um dort in emsigen Bewegungen die Ernte einzuheimsen.
Ich folge diesen herrlichen, landschaftlichen Reizen der Küste bis nach Cannanore hinauf, das weiter nördlich, unmittelbar am Meere gelegen ist. Überall, wo ich hinkomme, ist dieser Strand von einer bunten Lebhaftigkeit. Das Meeresufer, das sich oft in flachen Dünen des Landes hinein erstreckt, ist von den Zünften der Fischer belebt, die besonders in den Binnenmeeren, die sich hinter den Wäldern ausdehnen, ihre Fischzüge veranstalten. Eine Fahrt mit einem der niedrigen, kanuartigen Ruderboote, die lautlos über die stille Fläche dieser Gewässer gleiten, zeigt mir die geheimnisvollen Reize dieser tief in das Land einschneidenden Lagunen und Binnenmeere, die sich wie ein Tunnel unter dem dämmerigen Gewölbe des Urwaldes verlieren. Das Innere dieser tausendjährigen Wildnis ist von einem leidenschaftlichen Wachstum bedeckt, das sich in dem undurchdringlichen Chaos einer wuchernden Tropenvegetation über weite Strecken des Landes ausbreitet. Die Wasserstraßen, die sich dort tief in diese Wildnis hineinfressen, bahnen dem Menschen den Weg in die unbekannten Regionen des Urwaldes und offenbaren die Geheimnisse einer urwüchsigen und dämonischen Natur. In unendlichen Windungen gleiten die schmalen Kanäle durch düstere Schwüle, aus der eine geisterhafte Urwaldflora emporsteigt.
Nachdem wir eines der breiten Binnenmeere passiert haben, gelangen wir an eine hohe, grüne Mauer, die sich aus gewaltigen Mangrovenbäumen vor unseren Blicken auftürmt. Und zwischen ihrem tausendjährigen Wurzel- und Rankenwerk rudern wir in einen dieser von einem ewig grünen Blätterdach überwölbten Kanäle, die sich, immer enger werdend, in die dämmerige Wildnis hineinziehen. Bald sind es enge Tümpel, bald nur einige Meter breite Rinnen, die wir auf unserem dämmerigen Wasserwege passieren. In rhythmischen Ruderschlägen treibt der Fischer das Boot durch dieses Labyrinth, aus dessen schwarzen, schlammigen Ufern die auseinanderstrebenden Wurzeln der Mangroven wie die Arme von Polypen herausragen. Der Boden des Waldes ist mit undurchdringlichem Lianen- und Rankenwerk, Farnen und Sumpfgewächsen bedeckt. Über uns aber schließt sich das Dach der ineinandergeschlungenen Laubkronen, die ein festes, grünes Gewölbe bilden. Selten dringt der Schimmer der Sonne dort oben hindurch, und um uns liegt alles im matten Lichte grüner Reflexe, die sich in dem Spiegel des Wassers brechen.
In manchem der kleinen Tümpel, die wir passieren, ist das dunkle Wasser mit blühender Lotos bedeckt. Doch sonst ist alles lichte Leben des Tages von der feuchten, grünlichen Dämmerung erstickt. Nur einige Wasservögel, die mit langen Stelzbeinen auf den tellerartigen Blättern der Wasserpflanzen umherstolzieren, haben sich unter die Decke dieses Sumpfurwaldes verirrt. In den hohen Baumwipfeln über uns trillert unsichtbar verborgen eine Schar gefiederter Sänger ein munteres Lied, dessen Echo in merkwürdigen Schwingungen über der ruhigen Wasserfläche kreist. In manchen dieser kleinen Buchten, in die wir mit raschen Ruderschlägen hineinschießen, überraschen wir durch unser leises Dahingleiten Krokodile, die im dunkeln Schlamm des Ufers die spärlichen Sonnenstrahlen suchen. Geräuschlos, eine lange Spur von Schlammwolken und wirbelnden Strudeln hinter sich herziehend, verschwinden die unheimlichen Bewohner der Tiefe unter der Wasseroberfläche. Es sind die gefährlichen Schädlinge dieser Gewässer, in denen sie dem großen Fischreichtum stark zusetzen. Da diese Tiere hier in großen Mengen vorkommen, entschließe ich mich, am nächsten Tag Jagd auf sie zu machen. Nur werde ich mit der Gewinnung eines Führers Schwierigkeiten haben, denn die Scheu vor der Heiligkeit der Krokodile ist bei dem religiösen Hindu oft größer als die Furcht, von einem dieser Tiere in die Tiefe gezogen zu werden.
Immer weiter schlängelt sich die Wasserstraße in diese Welt der wilden Einsamkeit hinein. Oft ist der Urwald über uns so niedrig, daß die herunterhängenden Ranken der Luftwurzeln unsere Köpfe berühren. Manchmal führen enge Seitenkanäle in das Dickicht hinein. Die freistehenden, hoch über das Wasser emporragenden Wurzeln der uralten Mangrovenstämme sind so weit, daß wir bequem mit dem schmalen Boot hindurchfahren können, und ich wundere mich darüber, daß diese gigantischen Bäume nicht tiefer und tiefer in diesen schlammigen Grund des Waldes versinken; doch alles, nicht nur die Wurzeln, sondern auch die Zweige dieser großen Laubgewölbe sind ineinander verflochten und scheinen sich, wie ein festes Gebäude, gegenseitig zu stützen. Allmählich wird es über uns dunkler, und eine lautlose Stille senkt sich auf das Wasser herab. Es ist inzwischen Abend geworden, und draußen wird nun bereits die Sonne hinter dem westlichen Rande des Meeres hinabgestiegen sein. Das plötzliche Hereinsinken der Nacht überrascht uns mitten in den Lagunen, und ich befürchte, daß wir aus den labyrinthartigen Gängen in der Finsternis nicht mehr herausfinden werden.
Ich bedeute daher meinem Führer, so rasch wie möglich zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren und ermuntere ihn, das Boot schneller anzutreiben; doch er scheint die Welt dieses Wirrsals zu kennen und biegt ohne Scheu gemächlich in einen Seitenkanal ein, der uns nun in entgegengesetzter Richtung weiterführen wird. Schon verschwimmen die Umrisse der Ufer in dem immer dichter werdenden Schleier einer geheimnisvollen Dunkelheit. Wenn wir wieder durch einen solchen niedrigen Tunnel ziehen, wird die Dunkelheit zur Finsternis werden. Ein unheimliches Gefühl einsamer Verlassenheit beginnt mich zu beunruhigen. Da plötzlich wird das Wunder eines märchenhaften Zaubers geboren, der uns leise über dem Wasser schwebend begleitet. Während jetzt draußen unter dem freien Himmel die Nacht sich herniedersenkt, ist es, als ob die Finsternis in den Tiefen des Urwalds zu weichen begänne. Ein dämmerhaftes, magisches Leuchten, das dem blassen Widerschein des Mondes gleicht, erfüllt nun den Laubtunnel, in dem wir geräuschlos weitergleiten. Dieser Wandel zwischen Finsternis und leuchtender Dämmerung hat sich so plötzlich vollzogen, daß ich mich fast im Zweifel über die Wirklichkeit dieser geheimnisvollen Erscheinung befinde. Doch es ist weder eine Täuschung der Augen noch das Hirngespinst einer erregten Phantasie. Dieses zauberhafte Licht ist keine Täuschung, und ich sehe, daß es sich auch in der Ferne und weithin unter den Gängen verbreitet. Ja, selbst im Spiegel des dunkeln Wassers löst es einen matten Reflex aus, und es hat den Anschein, als ob das Leuchten auch auf dem Grunde der Tiefe herrsche. Auch die Seitenkanäle, in die wir im Vorbeifahren hineinblicken können, sind von diesem geheimnisvollen Schimmer erfüllt, und man wähnt sich in einem von magischem Licht erleuchteten, unterirdischen Gewölbe, das sich in der Tiefe der Erde befindet. Zwischen den Stämmen des Waldes blinkt das Glitzern phosphoreszierender Insekten und der gespenstisch fahle Schein faulender Baumstämme. Man glaubt sich in eine Welt überirdischen und spukhaften Zaubers versetzt, dessen plötzliches Weichen uns in Nacht und Finsternis gehüllt hätte. Von dem Blattwerk rieselt Feuchtigkeit herab. Es ist der durch den Temperaturwechsel verursachte Niederschlag, der, in Tautropfen verwandelt, auf das stille Wasser herniederklatscht. Auch in der morastigen Tiefe der Lagune beginnt es sich geheimnisvoll zu regen. Glucksende und quirlende Luftblasen, die aus dem warmen Schlammboden aufsteigen, beleben die Oberfläche des Wassers.
Diese leisen, fremdartigen Töne sind die einzigen lebendigen Geräusche, die uns umgeben. Denn auch in dem grünen Dach der Zweige herrscht die Ruhe des Grabes. Wir hören nichts von dem nächtlichen Leben dieser Zikaden und schwirrenden Insekten, die draußen in den Palmenhainen die Ruhe der Nacht in ein ewiges Flimmern von Tönen verwandeln. Nur die Moskitos, jene Quälgeister der schwülen indischen Tropennächte, begleiten uns in dichten Schwärmen, die wie wallende Nebel über dem Wasser auf und nieder steigen. Die unterhöhlten, feuchtwarmen Schlammufer bilden ein wahres Paradies für diese Brut der Hölle, die dort in Myriaden geboren wird.
Langsam kommen wir in das Binnenmeer, das hinter der Küste liegt, zurück. Über uns leuchtet nun wieder der durchsichtiggrünliche Himmel der indischen Nacht, und die von einem leichten Nebelschleier umflorte Mondsichel verbreitet ein dämmerhaftes Licht. Friedliche Stille liegt über dem dunkeln Wasser. Wie eine Erlösung wirkt die Freiheit dieses unendlichen Weltenraums, der sich über uns ausdehnt, auf mein Gemüt, das die qualvoll schwüle Enge dieser Gewölbe nur mit Widerstreben getragen hat. Und doch lockt mich der Zauber dieses Geheimnisses der Nacht in den Lagunen mit unwiderstehlicher Gewalt, so daß ich mich entschließe, am nächsten Tage wieder dorthin zurückzukehren. Doch der Zweck meiner Wiederkehr in diese Wasserwildnis gilt nunmehr diesen lauernden Ungetümen, die jene dunkeln, schlammigen Gewässer bewohnen und sich am Tage an den morastigen, sonnigen Ufern der Tümpel in der Sonne baden. Noch in derselben Nacht werde ich von zwei Eingeborenen aufgesucht, die sich bereit erklären, mich morgen zu den Schilfbänken, den Ruheplätzen der Krokodile, hinüberzurudern.