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Das Fest der Götterhochzeit, der Vermählung Shivas mit Minakschi, der Göttin mit den Fischaugen, nimmt seinen Ursprung aus einer sagenhaften Legende, in der sich die wundersame und fesselnde Darstellungsweise des indischen Mythos mit der Geschichte des Landes verbindet. Shiva erschien einst im Glänze seines göttlichen, überirdischen Wesens dem König von Madura. Dieser erblickte in der Erscheinung eine himmlische Gnade und ließ zur Erinnerung an das Ereignis in seiner Stadt einen großen Tempel zu Ehren Shivas errichten. Der Gott fand großes Wohlgefallen daran und ehrte das Heiligtum durch seine weihevolle Gnade, indem er den Tempel mit dem Wasser, das aus dem göttlichen Berge Kailasha hervorquillt, segnete. In der irdischen Gestalt des Sandareschwara kam Shiva nach Madura und freite die Tochter des Königs, Minakschi, die er später als göttliche Braut in sein Reich einführte. Zur Erinnerung an dieses Mysterium feiert Madura jährlich die Hochzeit der Gottheiten, die in den Monat Chitrai fällt. Diese Tage bilden ein besonderes Ereignis für Madura, denn die Stadt hat während dieser Zeit einen derartig gewaltigen Zustrom von fremden Gästen aufzuweisen, wie es nur in wenig anderen Städten Indiens aus Anlaß religiöser Feste der Fall ist. Kaum vermögen es Worte, diese tumultuarischen Schauspiele eines schwindelerregenden Menschengewühls, wie ich sie in den Städten des Südens bei solchen festlichen Gelegenheiten sah, zu beschreiben.
Überall, wo der Inder Feste feiert, geschieht es mit dem riesenhaften Aufgebot ganzer Völkerheere, die unter großen Mühen und Opfern aus allen Gebieten des Reiches herbeikommen und so den Eindruck einer wahren Völkerwanderung hervorrufen. Wer Zeuge der nur alle sieben Jahre stattfindenden Mahamakam-Wasserweihe in der südindischen Stadt Kumbakonam war, hat erst das wahre Bild solcher kolossalen Menschenansammlungen gewonnen. Dort steigt die Zahl der Besucher auf viele Hunderttausende, denn nur einmal in sieben Jahren findet das sündentilgende, heilige Wasser der Ganga seinen Weg nach dem Süden, dem es im kindlichen Glauben des Volkes durch unterirdische Wasserläufe zugeführt wird. In dem Tempelteich Kumbakonams, dem größten des südlichen Indiens, sammelt sich das gläubige Volk, um in ungeheuren Massen, begleitet von zelebrierenden Priestern, seine rituellen Waschungen vorzunehmen. Der von vielen kleinen Tempelgopurams umgebene Teich faßt allein 40-50 000 Menschen, die in stetem Wechsel die Stufen zu diesem bakteriengeschwängerten Wasser hinabsteigen, um Leib und Seele darin zu reinigen und es in heiliger Inbrunst trinken. Sieche, Krüppel, Aussätzige und mit Fieberfrösten behaftete Körper schleppt man in den morastigen, von Unrat und Schlamm erfüllten Teich hinab, wo sie von dem heilenden Wasser des ehrwürdigen Ganga berührt werden sollen. Bittprozessionen durchziehen während des Festes Tag und Nacht die Straßen der Stadt, in deren Bann die Volksmassen von einem an religiösen Wahnsinn grenzenden Eifer gepackt werden.
Götterhochzeit in Madura – wie ein jauchzender Schrei durchzittert die geräuschvoll-vibrierende Feststimmung die Atmosphäre der Stadt. Ununterbrochen, wie das Brausen der Meeresbrandung, schwingt der Lärm aus Tausenden von Menschenkehlen, das Heulen der Sackpfeifen, Wirbeln der Tamtams und das donnernde Rollen gewaltiger Tempelgongs durch die flimmernde Luft der glühenden Tage und schwülen, dämmerigen Nächte. Die Feste der Inder sind wie jene aufreibenden Gebetsübungen der Derwische, die ruhelos bis zum völligen Schwinden ihrer Körper- und Sinneskraft, in fiebererregtem Taumel von lärmender und grausamer Lust ihren Leib mit ekstatischen schmerzvollen Qualen peinigen, um auf diese außergewöhnliche Weise die Abtötung des Fleisches zu erwirken.
Noch ehe die heraufsteigende Sonne den Tag des großen Festes grüßt, setzen sich die Heere der Menschen, die wie aufrührerische Horden die Mauern der Stadt und des Tempels belagern, in brausende Bewegung. Gleich einem reißenden Bergstrom fluten die dunkeln Wogen der Menschenmasse der Umwallung des Tempels entgegen. Drohend blicken die rötlichschimmernden Tempeltürme, die schützenden Bollwerken ähneln, der anstürmenden Menge entgegen. Heute sind Höfe und Hallen dem Volk verschlossen und liegen in Ruhe und öder Verlassenheit hinter den hohen Mauern. Schon früh im dämmernden Morgenlicht hat man die Götter, unter feierlicher, aber stiller Huldigung, in ihren schwerfälligen Wagen geborgen. Sie stehen zur Abfahrt bereit draußen vor den Mauern des Tempels, die sie mit ihren turmhohen Aufbauten überragen. Die merkwürdigen Göttergefährte bestehen in der Hauptsache aus turmartigen, prunkvoll geschmückten Aufsätzen von ungewöhnlichen Dimensionen, und primitiv erscheint der baufällig-schwankende, schwerfällige Koloß, an dessen Basis unter reich geschnitztem Holzsockel das plumpe Fahrgestell aus hölzernen Radscheiben befestigt ist. Doch der prunkvolle Kiosk, der sich über der schweren Plattform erhebt, ist nur ein mit golddurchwirkten und dekorativ bemalten Stoffen, buntem Flitterwerk, Fahnen und vielerlei anderem festlichem Beiwerk verkleidetes hohles Holzgerippe, in dessen etagenförmig aufgebauten Schreinen die Gottheiten verborgen sind. Einer dieser Götterwagen trägt eine Reihe schreckhafter Fabeltiere, die mit aufgesperrtem Rachen und ausholenden Pranken weit über die Rampe der Plattform herausragen und wie ein seltsam-groteskes Gespann durch die Luft reiten. Tragsänften der Priester, vielerlei fahrbare Tempelidole, Stoffpalankine, die auf hohen Holzgestellen schaukeln, grellfarbig bemalte heilige Symbole, groteske Attrappen, welche Tier- und Fabelwesen darstellen, hat man für die Prozession bereitgestellt und wartet nur noch auf das Zeichen, welches die Priester zum Beginn des feierlichen Umzuges geben werden.
Die Begeisterung des ungeduldigen Volkes kennt keine Grenzen und erreicht ihren Höhepunkt, als man sich anschickt, die Wagen der Götter in Bewegung zu setzen. Unter unheimlichem Getöse, dem Lärm der Menschen und Hunderter von Musikanten, die mit dekorativen Instrumenten, Fanfaren und Trommeln ausgerüstet sind, beginnt der Umzug. Alles drängt schreiend und gestikulierend zu den Zugtauen der Götterwagen. Um sie entspinnt sich ein förmlicher Kampf, denn jeder fühlt sich zum Vorspann des prunkvollen Hochzeitswagens berufen. Und plötzlich straffen sich Tausende von muskulösen Armen beim Signal der Abfahrt und ziehen mit der von heiligem Eifer gesteigerten Kraft ihrer Körper an den Trossen der Göttergefährte, die sich schwankend und unter dem ohrenbetäubenden Ächzen der hölzernen Radachsen in Bewegung setzen. Heilige Tempelelefanten mit pompösen, lang herabhängenden Schabracken, goldberingten Stoßzähnen und klingendem Zaumzeug eröffnen die Prozession. Ehrfürchtig weicht die Menge zur Seite, und es bildet sich eine hohle Gasse von Menschen, durch die sich die endlosen Reihen der bunt durcheinander gewürfelten Prozessionsgruppen, Tiere und Gefährte hindurchwinden. An manchen Stellen bemühen sich eingeborene Polizisten, mit ihren Knüppeln die Ordnung zu erhalten und Platz zu schaffen. Wo es ihnen nicht gelingt, greifen die Elefanten ein, die mit vorsichtig schwenkenden Bewegungen ihrer Rüssel die Neugierigen zur Seite drängen.
Dichte Staubwolken aufwirbelnd, wälzt sich der theatralische Umzug im Schneckentempo vorwärts. Im Gewimmel der endlosen Menschenkette sieht man heilige Kühe, Dromedare, die Paukenschläger und Fanfarenbläser tragen, Schimmel mit kostbaren Behängen und glitzernden Zaumzeugen. Dann folgen Gruppen von Brahmanen und hochkastigen Hindus mit den Abzeichen ihrer Kasten und Sekten, Fakire und Derwische mit schmerzverzerrten Zügen, die Peinigungswerkzeuge ihres Selbstmartyriums mit sich schleppend, Sänften, in denen starr wie Götterbilder, mit selbstbewußter Miene und Geste die obersten Priester der Tempel, die lebendigen Idole des Volkes sitzen. Eine große Zahl Schirmträger, Gongschläger und atemlos lärmende Musikanten mit Sackpfeifen, Zimbeln und harmonisch abgestimmten Tamtams, religiöse Tänzer mit fratzenhaften Larven, Tempelmädchen und gefeierte Bajaderen, die man unter Baldachinen trägt, begleiten den Zug.
Von den enthusiastischen Zuschauern, welche die Straßen säumen, die Fenster und flachen Dächer der Häuser füllen, wird der Umzug mit stürmischen Ovationen begrüßt. Ein Regen von Blumen, duftenden Blüten und Kupfermünzen wirbelt unaufhörlich auf die vorüberziehenden Menschen hernieder. Doch die Begeisterung wird zum brausenden Jubel, wenn jene Götterwagen, die beweglichen Tempeltürmen gleichen, heranschwanken, und wo sie stehenbleiben, überschüttet man die rollenden Gemächer des unsichtbaren, göttlichen Brautpaares mit einem Hagel von Blumenopfern, unter deren duftender Last sich die Palankine und luftigen Bedachungen des Tabernakels niedersenken. Der Hochzeitswagen Shivas ist ein Prunkstück von ganz besonderer Art. Sein Aufbau, der aus den kostbarsten Stoffen, vielerlei ergötzlichen Drapierungen und Malereien besteht, ist haushoch. Um ihn ungehindert passieren zu lassen, sind die Oberleitungen der Telegraphenkabel über den Straßen entfernt, und längst hat man tausendjährige Bäume, deren Kronen die Durchfahrt der schwankenden Türme behindern, mit der Axt aus dem Wege geräumt. In dem geheimnisvoll verhüllten Innern des Gefährtes thronen die winzig kleinen Gottheiten, und an den Außenseiten über der holzgeschnitzten, schweren Basis stehen Priester und Tempelwächter, die das Heiligtum bewachen und es vor den Blicken Uneingeweihter schützen. An der Vorderseite der Galerie schwebt eine überlebensgroße Quadriga. Es sind geflügelte Schimmelrosse, welche durch die Luft galoppieren und das phantastische Gespann des Wagens bilden.
Ein wirrer Volkshaufe zieht jubelnd in trunkener Ekstase hinter den schwankenden Wagenungetümen her, und so währt die Prozession, die wie eine traumhafte Erscheinung an meinen Augen vorüberzieht, viele Stunden, ehe sie zu den Tempeln zurückkehrt und sich dort in einem Wirbel regellos durcheinander flutender Massen aufzulösen beginnt. Noch lange nach Sonnenuntergang wogt das Treiben in den Straßen und vor den Tempeln. Während der schwülen, türkisblauen Nacht schwingt im leuchtenden Raum eines sternenfunkelnden Himmelsgewölbes der jauchzende Lärm des wonnetrunkenen Volkes. Über dem illuminierten Häusermeer der heiligen Stadt braust der orgiastische Jubel des weltlichen Festes bis zum frühen Morgen, und es vergehen viele Tage, bis Madura und sein Volk die Freuden und Wehen der Götterhochzeit Shivas überwunden hat.