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Vierunddreißigstes Kapitel.

Ehe der alte John noch volle zwanzig Minuten mit dem Kessel kommunizirt hatte, war es ihm gelungen, seine Ideen in einen Brennpunkt zu vereinigen und damit Solomon Daisy's Geschichte zu beleuchten. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr überzeugte er sich von seiner eigenen Weisheit und desto lebhafter drängte ihn der Wunsch, Herrn Haredale gleichfalls davon zu überzeugen. Um daher in der ganzen Angelegenheit eine Hauptrolle zu spielen und Solomon nebst seinen zwei Freunden den Vorsprung abzugewinnen, durch die, wie er wohl wußte, das Abenteuer mit vielen Uebertreibungen wenigstens an ein paar Dutzend Menschen verträtscht wurde und vielleicht schon morgen Früh an Herrn Haredale gelangte, entschloß er sich, noch ehe er zu Bett ging, sich nach dem Kaninchenhag zu begeben.

»Es ist mein Grundherr,« dachte John, indem er eine Kerze nahm, sie in einem dem Winde unzugänglichen Winkel niedersetzte, ein hinten hinausgehendes Fenster öffnete und nach den Ställen sah. »Wir sind zwar in den letzten Jahren nicht mehr so oft zusammengekommen, als sonst – es wird anders mit der Familie – aber doch ist es wünschenswerth, daß man schon Anstands halber so gut als möglich mit ihnen steht. Er wird sich ärgern, wenn diese Geschichte auskömmt – und es ist gut, einen vertraulichen Verkehr mit einem Herrn von seinem Charakter unterhalten zu können, abgesehen davon, daß man auch erfährt, wo man daran ist. He da! Hugh – Hugh! Holla!«

Nachdem er diesen Ruf ein dutzendmal wiederholt und alle Tauben aus ihrem Schlummer geweckt hatte, ging an einem der gebrechlichen alten Hintergebäude die Thüre auf und eine rauhe Stimme fragte, was es denn gebe, daß man nicht einmal seine Nachtruhe haben könne.

»Wie? läßt man dich nicht genug schlafen, du Bärenhäuter, und darf man dich nicht ein einzigesmal herausklopfen?« entgegnete John.

»Nein,« erwiederte die Stimme, während der Sprecher selbst gähnte und sich schüttelte. »Nicht halb genug.«

»Ich weiß nicht, wie es dir möglich wird, zu schlafen, wenn der Wind um dich herum braust und saust und die Ziegel wie ein Spiel Karten umherjagt,« erwiederte John. »Doch gleichviel. Kleide dich ein Bischen an und komm herein, denn du mußt noch mit mir nach dem Kaninchenhag. Aber tummle dich.«

Hugh ging murrend und brummend nach seinem Lager zurück und erschien bald wieder mit einer Laterne und einem Knüttel, vom Kopf bis zu den Füßen in eine alte, müßige, plumpe Pferdedecke gehüllt. Herr Willet ließ den Burschen durch die Hinterthüre ein und führte ihn in das Schenkstübchen, wo er sich selbst in etwelche Ueberröcke steckte und sein Gesicht also mit Tüchern einknüpfte, daß es recht eigentlich ein Geheimniß war, wie er nur zu athmen vermochte. »Ihr werdet doch nicht bei einem solchen Wetter und fast um Mitternacht einen Menschen aus dem Hause nehmen wollen, ohne ihm eine kleine Herzstärkung zu reichen, Meister?« fragte Hugh.

»Ja, das will ich, Musje,« antwortete Herr Willet. »Die Herzstärkung, wie du es nennst, sollst du haben, wenn du mich wohlbehalten wieder nach Hause gebracht hast, wo es dann nicht sonderlich mehr von Belang ist, ob du fest auf deinen Beinen stehst oder nicht. Halte das Licht in die Höhe, wenn's beliebt, und geh' um etliche Schritte voraus, um mir den Weg zu zeigen.«

Hugh gehorchte mit zweideutigem Gesichte, indem er noch zuvor einen sehnsüchtigen Blick nach den Flaschen warf. Der alte John dagegen ertheilte der Köchin noch den gemessensten Befehl, in seiner Abwesenheit die Thüren verschlossen zu halten und bei Strafe der Entlassung Niemand als ihm selber zu öffnen, worauf er seinem Begleiter in das stürmische Dunkel hinaus folgte.

Der Weg war naß und erbärmlich und die Nacht so finster, daß Herr Willet, wenn er sich selber hätte weiter lootsen müssen, ohnfehlbar in eine tiefe Pferdeschwemme, einige hundert Ellen von seinem eigenen Hause abgelegen, hineinspaziert wäre, und zuverlässig seine Laufbahn auf diesem unedeln Thätigkeitsschauplatze geendigt haben würde. Aber Hugh, der die Augen eines Falken hatte und auch, abgesehen von dieser Begabung, im Umkreise von einem Dutzend Meilen jeden Ort als Blinder gefunden haben würde, schleppte den alten John mit sich fort, ohne sich an dessen Gegenvorstellungen zu kehren, indem er, ohne die mindeste Rücksicht auf seinen Meister zu nehmen, seinen eigenen Weg einschlug. Sie kämpften, so gut es gehen wollte, gegen den Wind an; Hugh trat das nasse Gras mit seinen schweren Füßen nieder und stapfte in seiner gewohnten wilden Manier weiter, während ihm John auf Armslänge folgte, in seine Fußspuren trat und mit so viel Unruhe und Grauen, als nur sein unbewegliches Gesicht ausdrücken konnte, umherschaute, ob nicht ein Sumpf, ein Graben, oder allenfalls ein verirrtes Gespenst um den Weg sey.

Endlich gelangten sie auf den breiten Kiesweg vor dem Kaninchenhag. Das Gebäude war rabenschwarz, und nur sie waren in der Nähe desselben auf den Beinen. Aus einem einzigen Erkerfenster blinkte jedoch ein Lichtstrahl, und nach diesem tröstlichen Anhaltspunkte in der kalten, unbehaglichen und schweigenden Landschaft hieß Herr Willet seinen Lootsen steuern.

»Die alte Stube,« sagte John, furchtsam in die Höhe schauend; »Herrn Reuben's Gemach. Gott steh' uns bei! Es wundert mich, daß sein Bruder so spät in der Nacht dort sitzen mag – und noch obendrein in dieser Nacht.«

»Nun, wo sollte er denn anders sitzen?« fragte Hugh, indem er die Laterne gegen seine Brust hob, um sie gegen den Wind zu schützen, während er das Licht mit den Fingern putzte. »Ist es nicht behaglich genug?«

»Behaglich?« rief John unwillig. »Du hast mir einen sauberen Begriff von Behaglichkeit, Bursche. Weißt du denn nicht, was in diesem Zimmer vorgefallen ist, du Schuft?«

»Ei, um was ist es dadurch schlechter geworden?« rief Hugh, John in's fette Antlitz schauend. »Ist es darum weniger fest gegen Regen, Schnee und Wind? Ist es weniger warm oder trocken, weil ein Mensch dort erschlagen wurde? Ha, ha, ha! Glaubt nur so etwas nicht, Meister. Was liegt denn so viel an einem Menschen, daß es anders seyn sollte?«

Herr Willet heftete seine blöden Augen auf seinen Begleiter und begann – in einer Art von Eingebung – zu glauben, es sey recht wohl möglich, daß etwas Gefährliches in seinem Charakter liege und daß es gerathen sein dürfte, sich desselben ehestens zu entledigen. Er war jedoch zu klug, etwas zu sagen, so lange er noch den Heimweg vor sich hatte, und wandte sich daher nach dem eisernen Gitter, vor welchem dieses kurze Zwiegespräch statt gehabt hatte, um an der Klingel zu ziehen. Da der Erker, aus welchem das Licht blinkte, sich an einer Ecke des Gebäudes befand und nur durch einen der Gartengänge von dem Pfade getrennt war, nach welchem sich das Gitter öffnete, so warf Herr Haredale alsbald das Fenster auf und fragte, wer da sey.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir,« antwortete John; »aber ich wußte, daß Ihr nicht früh zu Bette geht, und nahm mir daher die Freiheit, herüberzukommen, weil ich Euch ein Wort zu sagen habe.«

»Ist das nicht Willet?«

»Vom Maibaum, zu dienen, Sir.«

Herr Haredale schloß das Fenster und verschwand, um alsbald wieder aus der Thüre unter dem Erker zum Vorschein zu kommen. Er ging den Gartengang entlang, schloß das Gitter auf und ließ sie ein.

»Ihr seyd ein später Besuch, Willet. Was gibt es?«

»Nichts, was der Rede werth wäre, Sir,« sagte John. »Eine müßige Geschichte. Ich meinte nur, Ihr müßtet es wissen – weiter nichts.«

»Laßt Euren Knecht mit der Laterne vorangehen und gebt mir Eure Hand. Die Stiegen sind krumm und schmal – thut gemach mit Eurem Licht, Freund. Ihr schwingt es ja wie ein Rauchfaß.«

Hugh, der inzwischen bereits an dem Erker angelangt war, hielt es jetzt stetiger und stieg zuerst hinan, indem er sich von Zeit zu Zeit umwandte, um das Licht auf die Treppe zurückfallen zu lassen. Herr Haredale, der zunächst folgte, schien an seinem finstern Gesicht kein großes Behagen zu finden, und Hugh gab ihm seine Blicke mit Interessen heim, als sie die Wendeltreppen hinanstiegen.

Die Treppe endigte in ein kleines Vorzimmer hart neben dem, aus welchem sie des Lichts ansichtig geworden waren. Herr Haredale trat zuerst ein und ging durch dasselbe nach dem letzteren Gemache voran, wo er sich an einem Schreibtische niedersetzte, von welchem er auf das Tönen der Klingel aufgestanden war.

»Kommt herein,« sagte er, dem alten John winkend, der kratzfußend an der Thüre stehen blieb.

»Nicht Ihr, Freund,« fügte er hastig gegen Hugh bei, welcher gleichfalls eintrat. »Willet, warum bringt Ihr diesen Kerl mit?«

»Je nun, Sir,« entgegnete John, seine Augenbrauen erhebend und seine Stimme zu dem Tone dämpfend, in welchem die Frage gestellt worden war. »Ihr seht, er ist eine gute Leibwache.«

»Baut nicht allzusehr darauf,« sagte Herr Haredale, während des Sprechens nach Hugh hinsehend. »Ich möchte es bezweifeln. Er hat ein schlimmes Auge.«

»'s ist freilich keine Einbildungskraft in seinem Auge,« versetzte Herr Willet, über seine Schulter nach dem fraglichen Organ hinschauend.

»Glaubt mir, es liegt nichts Gutes darin,« sagte Herr Haredale. »Wartet in dem kleinen Zimmer draußen, Freund, und schließt die Thüre zwischen uns.«

Hugh zuckte die Achseln und gehorchte dem Befehle mit einem verächtlichen Blicke, welcher bekundete, daß er entweder gehört hatte, oder errieth, was eben geflüstert worden war. Sobald er die Thüre geschlossen, wandte sich Herr Haredale an John und forderte ihn auf, sein Anliegen vorzubringen, aber nicht zu laut zu sprechen, weil sich scharfe Ohren in der Nähe befänden.

So verwarnt berichtete Herr Willet in einem geschmeidigen Flüstern Alles, was er diesen Abend gehört und gesagt hatte, wobei er einen besondern Nachdruck auf seinen eigenen Scharfsinn, auf seine große Achtung vor der Familie und auf seine Besorgtheit für ihren Seelenfrieden und ihr Glück legte. Die Erzählung ergriff seinen Zuhörer mehr, als er erwartet hatte, denn Herr Haredale wechselte oft seine Haltung, stand auf, schritt durch das Zimmer, kehrte wieder zurück, wünschte, daß ihm so gut als möglich Solomons eigene Worte wiederholt werden möchten, und bekundete durch noch viele andere Zeichen seine Bestürzung und Unruhe, daß sich Herr Willet nicht genug wundern konnte.

»Ihr habt ganz recht gethan,« sagte er am Schlusse ihrer langen Besprechung,« daß Ihr ihnen riethet, die Geschichte geheim zu halten. 's ist ein thörichtes Phantasiegebild dieses schwachköpfigen Mannes – ein Geschöpf seiner Furcht und seines Aberglaubens. Demungeachtet würde es aber Miß Haredale beunruhigen, wenn sie etwas davon vernähme, trotz dem, daß sie es in dem gleichen Lichte betrachten würde. Die Geschichte steht in zu engem Zusammenhange mit einem für uns Alle so schmerzlichen Gegenstande, um sie mit Gleichgültigkeit anhören zu können. Ihr habt Euch sehr klug benommen und mir eine große Verbindlichkeit auferlegt. Ich danke Euch recht sehr.«

Dieß entsprach ganz John's sanguinischen Hoffnungen; doch wäre es ihm lieber gewesen, wenn ihn Herr Haredale beim Sprechen mit einem dankbaren Blicke angesehen hätte, statt daß er auf- und niederging, nur stoßweise und in Absäen redete, oft mit auf den Boden gehefteten Augen stehen blieb, dann wieder wie ein Verrückter umherrannte und fast gar nicht zu wissen schien, was er sagte oder that.

Dieß war nun freilich seine Gewohnheit, brachte aber John so in Verlegenheit, daß er eine geraume Weile ganz passiv sitzen blieb und nicht wußte, was er thun sollte. Endlich stand er auf. Herr Haredale starrte ihn einen Augenblick an, als habe er seine Anwesenheit ganz vergessen, dann drückte er ihm die Hand und öffnete die Thüre. Hugh, der auf dem Boden des Vorzimmers fest eingeschlafen war, oder doch dergleichen that, sprang bei ihrem Eintreten auf, warf seine Decke um sich, griff nach Stock und Laterne und schickte sich an, die Treppe hinunter zu gehen.

»Halt!« sagte Herr Haredale. »Nimmt dieser Mann einen Trunk an?«

»Einen Trunk? Er würde die Themse aussaufen, wenn das Getränk stark genug wäre, Sir,« versetzte John Willet. »Er soll etwas haben, wenn wir nach Hause kommen. Vor der Hand ist's besser, man läßt es bewenden, Sir.«

»Nein. Der halbe Weg ist zurückgelegt,« sagte Hugh. »Was Ihr doch für ein harter Meister seyd! Die andere Hälfte geht mit einem Glas voll nur um so besser.«

»Gebt her!«

Da John nichts darauf erwiederte, so brachte Herr Haredale ein Glas voll Branntwein heraus und gab es Hugh. Dieser nahm es hin und goß einen Theil davon auf den Boden.

»Was soll das heißen, daß du dein Getränk in dem Hause eines Gentlemans umherspritzest, Bursche?« sagte John.

»Ich trinke einen Toast,« entgegnete Hugh, das Glas über seinem Kopf emporhaltend und seine Augen auf Herrn Haredale's Gesicht heftend; »einen Toast diesem Hause und seinem Herrn.«

Dann murmelte er etwas vor sich hin, trank den Rest aus, setzte das Glas nieder und schritt, ohne ein weiteres Wort zu sagen, voran.

John ärgerte sich ungemein über diese Respektswidrigkeit; als er jedoch bemerkte, daß Herr Haredale wenig auf Hugh oder seine Worte achtete, und daß seine Gedanken anderweitig beschäftigt waren, so versuchte er keine Entschuldigung, sondern ging schweigend die Treppe hinab, den Gang entlang und durch das Gartengitter. Außen blieben sie stehen, und Hugh leuchtete, während Herr Haredale von Innen abschloß; und jetzt bemerkte John mit großer Verwunderung (wie er nachmals oft erzählt), wie sein Grundherr ganz blaß aussah und wie dessen Gesicht seit seinem Eintreten sich so sehr verändert und so gar hager geworden war, daß er beinahe ein ganz anderer Mann zu seyn schien.

Sie befanden sich jetzt wieder auf der offenen Straße, und John ging, wie auf dem Herwege, hinter seinem Begleiter drein, eifrig über das eben Geschehene nachdenkend, als ihn Hugh plötzlich bei Seite zog und fast in demselben Augenblicke drei Reiter vorbei jagten – der nächste streifte sogar seine Schulter – die nunmehr, so schnell als es gehen wollte, ihre Pferde zügelten, stille hielten und warteten, bis die Beiden nachkamen.



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