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Neunundzwanzigstes Kapitel.

Die Gedanken der Weltmenschen sind durch ein moralisches Gravitationsgesetz geregelt, das sie, gleich dem physischen, an der Erde fest hält. Die lichte Pracht des Tages und die stummen Wunder einer Sternennacht sprechen vergeblich zu ihrem Herzen. Weder Sonne, noch Mond und Sterne haben Chiffern, die ihnen lesbar wären. Sie gleichen hierin manchen Gelehrten, die jeden – Planeten bei seinem lateinischen Namen kennen, aber ganz vergessen haben, daß es auch kleine himmlische Sternbilder gibt, die man Menschenliebe, Duldung und Erbarmen nennt, obgleich sie bei Tag und bei Nacht so glänzend scheinen, daß auch der Blinde sie sehen kann. Diese Leute sehen an dem flimmernden Himmelsgewölbe nichts Anderes, als den Wiederstrahl ihrer eigenen großen Weisheit und Büchergelahrtheit.

Es ist sonderbar, wenn man sich denken muß, daß der Weltmann, wenn er gedankenvoll seine Augen zu den zahllosen Sphären erhebt, die über uns scheinen, nur den Wiederstrahl der Bilder darin erkennt, die in seinem eigenen Gehirne leben: wer in der Nähe von Korsaren weilt, kennt keine andere Sterne, als die auf der Brust von Höflingen. Der Neidische erschaut die Würden seines Nächsten sogar am Himmelszelt. Dem Habsüchtigen und der Masse der Weltleute flimmert das ganze All über ihren Häuptern nur von gediegenen Goldstücken, frisch von der Münze weg, mit dem Kopfe des Fürsten gestempelt, die immer zwischen sie und den Himmel treten, wo sie auch gehen und stehen mögen. So stellen sich auch die Schatten unserer Begierden zwischen uns und unsere guten Engel, deren Glanz sie verdunkeln.

Alles war frisch und heiter, wie wenn die Welt erst an diesem Morgen geschaffen worden wäre, als Herr Chester ruhigen Trabes auf dem Waldwege weiter ritt. Obgleich frühe im Jahre, war doch die Witterung mild und warm; die Bäume trieben Knospen, Gras und Hecken grünten, die Luft ertönte von dem Gesang der Vögel, und hoch über allen trillerte die Lerche ihr gemüthliches Liedchen. An schattigen Orten funkelte der Morgenthau auf jedem jungen Blatte oder Grashalm, und wo die Sonne hinschien, blitzten gleichfalls noch einige herrliche Diamanttropfen, als wollten sie nach ihrem kurzen Daseyn nur ungerne eine so schöne Welt verlassen. Selbst der leichte Wind, dessen Rauschen so sanft als das leise Plätschern fernefallender Wasser an's Ohr schlug, wehte Hoffnung und Verheißungen, und flüsterte in den würzigen Düften, womit er seinen Weg bezeichnete, von seinem Verkehr mit dem Sommer und von dessen beglückender Nähe.

Der einsame Reiter trabte gleichen Schrittes unter den Bäumen weiter, bald im Sonnenlicht, bald im Schatten, wobei er sich allerdings von Zeit zu Zeit umsah, ohne jedoch dem heitern Tage und der herrlichen Landschaft eine schönere Seite abzugewinnen, als daß er sich in der That Glück wünschen dürfe, so günstiges Wetter zu haben, da er eben besonders gewählt gekleidet war. Bei solchen Gelegenheiten lächelte er gar wohlgefällig, aber in einer Weise, welche bekundete, daß sein Vergnügen mehr seiner eigenen Person, als etwas Anderem galt; und so ritt er auf seinem kastanienbraunen Hengste weiter, so lieblich anzusehen, als sein Pferd, aber wahrscheinlich noch weit unempfänglicher, als dieses, für die vielen herzerhebenden Einflüsse, von denen er umgeben war.

Im Laufe der Zeit tauchten die massiven Fenster des Maibaums auf; aber sein Trab wurde dadurch nicht im Mindesten beschleunigt, und mit derselben kalten Gravität machte er vor dem Portale des Wirthshauses Halt. John Willet, der sein rothes Gesicht vor einem großen Feuer im Schenkstübchen röstete und mit überraschender Umsicht und Fassungsgabe eben meditirte, wenn der Himmel einmal so blau aussehe, dürfte der Zustand der Dinge nicht länger dauern und es am Ende nöthig werden, die Feuer ausgehen zu lassen und die Fenster zu öffnen – eilte herbei um den Steigbügel zu halten und rief aus Leibeskräften nach Hugh.

»Ach da bist du ja schon, Bursche?« sagte John, etwas überrascht über die Behendigkeit, mit der er erschienen war. »Führe dieses kostbare Thier in den Stall und habe besonders Acht darauf, so lieb dir deine Stelle ist. Er ist ein entsetzlich fauler Schlingel, Sir, und hat's nöthig, daß man ihm auf die Nähte geht.«

»Aber Ihr habt ja einen Sohn,« entgegnete Herr Chester, der, sobald er abgestiegen war, seine Zügel Hugh übergab und dessen Gruß mit einer nachlässigen Bewegung der Hand nach seinem Hut erwiederte. »Warum benützt Ihr nicht diesen dazu?«

»Je nun, die Sache ist so, Sir,« versetzte John mit großer Wichtigkeit; »mein Sohn ist – was siehst du her, zu horchen, du Schuft?«

»Wer horcht?« entgegnete Hugh verdrießlich. »Es verlohnte sich wohl der Mühe, Euch zuzuhören. Soll ich denn das Thier hineinnehmen, ehe es sich abgekühlt hat?«

»So führe es auf und ab, aber etwas in der Entfernung, Bursche,« rief der alte John; »und so oft du siehst, daß ich mich mit einem vornehmen Gentleman bespreche, so ziehst du dich zurück. Wenn du deine Stellung nicht kennst, Kerl,« fügte Herr Willet nach einer ungemein langen Pause bei, während welcher er seine großen, blöden Augen auf Hugh heftete und mit exemplarischer Geduld wartete, bis ihm aus dem Schatze seiner Ideen ein kleiner Gedanke kam, »so werden wir sehr bald Mittel finden, dich zu belehren.«

Hugh zuckte verächtlich die Achseln und stolzirte in seiner rücksichtslosen Weise auf die andere Seite des kleinen Rasens, wo er die Zügel leicht über seine Schultern warf und das Pferd auf und ab führte, dabei von Zeit zu Zeit so finstere Blicke unter seinen buschigen Augenbrauen hervor nach seinem Herrn schießend, als man es nur zu sehen wünschen konnte.

Herr Chester, der ihn, ohne daß es den Anschein hatte, während dieses kurzen Wortwechsels aufmerksam beobachtete, trat jetzt in das Portal und wandte sich plötzlich mit folgenden Worten an Herrn Willet:

»Ihr haltet ein sonderbar Gesinde, John.«

»Allerdings sonderbar genug, Sir, von Ansehen,« antwortete der Wirth, »aber nicht im Hause – nur für Pferde. Hunde und dergleichen, und da gibt es keinen Bessern in ganz England, als den Maibaum-Hugh dort. Für die Wirthschaft paßt er nicht,« fügte Herr Willet mit der zuversichtlichen Miene eines Mannes bei, der seine eigene Ueberlegenheit fühlt; »für diese sorge ich. Aber wenn dieser Bursche nur ein Bischen Einbildungskraft hätte, Sir –«

»Ich möchte indeß darauf schwören, daß er ein rühriger Mensch ist,« sprach Herr Chester im Tone des Nachdenkens, welcher anzudeuten schien, daß er dasselbe gesagt haben würde, wenn auch Niemand da gewesen wäre, um ihn zu hören.

»Rührig, Sir?« entgegnete John, dessen Gesicht mit einemmale eigentlich ausdrucksvoll wurde; »dieser Kerl? Holla da! Bring das Pferd her, Bursche, und hänge meine Perücke auf den Wetterhahn, um diesem Herrn zu zeigen, ob Leben in dir ist, oder nicht.«

Hugh gab keine Antwort, sondern warf seinem Dienstherrn die Zügel zu und riß ihm so hastig und ungebührlich die Perücke vom Kopfe, daß Herr Willet, obgleich es nur auf ausdrücklichen Befehl geschehen war, nicht wenig verduzt wurde; dann klomm er behende bis nach der Spitze des Maibaums vor dem Hause hinauf, hängte die Perücke auf den Wetterhahn und ließ denselben wie einen Bratspieß herumwirbeln. Nachdem er dieses Kunststück vollführt, warf er die Perücke auf den Boden, glitt mit unbegreiflicher Schnelligkeit an der Stange herunter, und war in demselben Augenblick, wie er die Erde berührte, wieder auf den Beinen.

»So, Sir,« sagte John, wieder in sein gewöhnliches stumpfes Wesen zurückverfallend; »Ihr werdet das nicht bei vielen Häusern sehen können, den Maibaum ausgenommen, wo Alles aufs Bequemste für Menschen und Vieh eingerichtet ist – obgleich das eigentlich noch gar nichts bei ihm heißen will.«

Diese letzte Bemerkung bezog sich auf Hugh's geschicktes Voltigiren bei Gelegenheit von Herrn Chester's erstem Besuch, und sein rasches Verschwinden durch die Stallthüre.

»Das will noch gar nichts bei ihm heißen,« wiederholte Herr Willet, seine Perücke mit dem Aermel ausbürstend und innerlich entschlossen, für die Beschmutzung dieses Anzugsartikels die verschiedenen Posten in seines Gastes Rechnung etwas zu erhöhen, »er springt fast zu jedem Fenster des Hauses hinaus. Es gab wohl nie einen Kerl, der solche Säße machen kann, und doch nimmt er dabei nie Schaden. Meiner Ansicht nach rührt dieß fast ganz von dem Umstande her, daß er keine Einbildungskraft hat; und wenn man ihm Einbildungskraft hineinbläuen könnte (was aber nicht möglich ist), so wäre er nimmer im Stande, etwas der Art auszuführen. Aber wir haben von meinem Sohne gesprochen, Sir.«

»Richtig, Willet, richtig,« sagte der Gast, indem er sich mit seinem gewohnten heitern Gesicht gegen den Wirth wandte, »was ist mit ihm, mein guter Freund?«

Man hat wissen wollen, daß Herr Willet vorläufig blinzelte, ehe er eine Antwort gab. Da man ihm aber nicht nachsagen kann, daß er sich je zuvor oder nachher ein derartiges leichtfertiges Betragen habe zu Schulden kommen lassen, so darf man diese Angabe wohl als eine boshafte Erfindung seiner Feinde betrachten, die sich vielleicht auf den unbestrittenen Umstand gründete, daß er den dritten Rockknopf seines Gastes faßte, von da an bis zu dem Kinn aufwärts zählte und ihm die Antwort in's Ohr flüsterte.

»Sir,« sagte John mit Würde, »ich kenne meine Schuldigkeit. Wir brauchen hier von keinen Liebeshändeln etwas, Sir, von denen die Eltern nichts wissen sollen. Ich respektire einen jungen Gentleman, so weit ich ihn im Lichte eines jungen Gentlemans nehme, und respektire eine junge Dame, sofern sie mir im Lichte einer jungen Dame erscheint: aber was die Beiden als ein Paar anbelangt, so will ich hier durchaus nichts davon wissen. Mein Sohn, Sir, ist auf seiner Patrolle.«

»Ich meinte aber doch, ich hätte ihn eben erst aus dem Eckfenster schauen sehen,« entgegnete Herr Chester, welcher natürlich glaubte, unter »auf der Patrolle seyn,« wäre ein Hin- und Herstreifen zu verstehen.

»Das fehlt gar nicht,« erwiederte John. »Er hat mir seine Ehrenpatrolle gegeben, das Haus nicht zu verlassen. Ich und einige von meinen Freunden, die Abends im Maibaum einsprechen, Sir, haben dieß für das Beste gehalten, was man mit ihm anfangen kann, um ihn zu verhindern, daß er nicht etwas Unangenehmes begeht, was unseren Wünschen zuwider ist. Und außerdem, Sir, soll er mir eine hübsche Zeit warten, bis er seiner Patrolle ledig ist – das kann ich Euch sagen.«

Nachdem er seinem Gast diese großartige Idee mitgetheilt hatte, die aus dem Umstande entsprungen war, daß die Dorfgevatter unter anderem in einer Zeitung gelesen hatten, wie irgend ein Officier, über den ein Kriegsgericht gehalten werden sollte, auf Parole der Bewachung überhoben worden war, zog sich Herr Willet von Herrn Chester's Ohr zurück, wobei er dreimal ganz vernehmlich kicherte, ohne daß jedoch eine besondere Veränderung in seinen Zügen bemerklich gewesen wäre. Diese bedeutendste Annäherung an ein Gelächter, der er sich je hingegeben hatte (und etwas Solches kam nur selten und bei ganz außerordentlichen Anlässen vor), kräuselte nicht einmal seine Lippen, geschweige denn, daß es einen sonstigen Wechsel in seinem Gesichte hervorgebracht hätte – nicht einmal ein leichtes Wackeln mit seinem großen, fetten Doppelkinn, das bei solchen, wie bei allen anderen Gelegenheiten, eine vollkommene Wüste in der breiten Landkarte seines Gesichts verblieb – eine wandellose, schreckliche, öde Leere.

Damit es Niemand Wunder nehme, daß hier Willet ein so kühnes Verfahren in Opposition zu einem Mann einschlagen mochte, den er so oft beherbergt, und der bei seinen Gängen nach dem Maibaum stets wacker bezahlt hatte, so mag hier bemerkt seyn, daß der Grund in dem durchdringenden Geiste und der Schlauheit des Gastwirths lag, und dieß veranlaßte ihn auch, sich den eben erwähnten ungewöhnlichen Ausbrüchen von Heiterkeit hinzugeben. Er hatte nämlich Vater und Sohn sorgfältig im Geiste abgewogen und war dabei zu dem entschiedenen Schluß gekommen, daß der alte Herr zu einem weit bessern Kundenschlag gehöre, als der junge. Legte er dazu noch seinen Grundherrn in die Schale, die ohnehin unter dieser Erwägung schwer genug zog, und fügte er diesem Gewichte noch seinen eigenen lebhaften Wunsch, dem unglücklichen Joe in den Weg zu treten, und seine grundsatzmäßige Abneigung gegen alle Arten von Liebeshändel und Heirathsangelegenheiten bei, so mußte sich diese Schale natürlich stracks zu Boden neigen und die leichte Sache des jüngeren Herrn bis an die Decke hinauf schleudern. Herr Chester war nicht der Mann, dem Willet's Beweggründe entgehen konnten; demungeachtet dankte er ihm aber so gnädig, als wäre derselbe der uneigennützigste Märtyrer gewesen, der je auf Erden glänzte. Dann bestellte er sich ein Mittagessen, hinsichtlich dessen er sich mit vielen Komplimenten ganz auf den hohen Geschmack und das Urtheil seines Wirthes verließ, der wohl wissen müsse, was sich für die Gelegenheit passe, und lenkte seine Schritte dem Kaninchenhag zu.

In einem ungewöhnlich eleganten Anzuge, mit einer Grazie, die ihm, obgleich sie das Resultat eines langen Studiums war, doch sehr leicht und gut ließ, seinen Zügen den heitersten und gewinnendsten Ausdruck verleihend – kurz, mit jener pünktlichen Aufmerksamkeit auf sich selbst, welche bekundete, daß er kein kleines Gewicht auf den Eindruck legte, den er zu machen im Begriffe war – betrat er den Bereich von Miß Haredale's gewöhnlichem Spaziergang. Er war noch nicht weit gegangen und hatte sich noch nicht lange umgesehen, als er eine weibliche Gestalt auf sich zukommen sah. Ein Blick nach derselben und ihr Anzug, als sie eben über eine kleine hölzerne Brücke ging, die zwischen ihnen lag, überzeugten ihn, daß er gefunden hatte, was er wünschte. Er stellte sich in ihren Weg, und nach wenigen Schritten waren sie dicht bei einander.

Herr Chester lüpfte den Hut, trat aus dem Pfade und ließ sie an sich vorbeigehen. Dann, als wäre ihm der Gedanke erst in diesem Augenblick eingefallen, wandte er sich hastig um und sprach mit bewegter Stimme:

»Ich bitte um Verzeihung – habe ich die Ehre, Miß Haredale vor mir zu sehen?«

Sie machte in einiger Verwirrung über diese unerwartete Anrede eines Fremden Halt und antwortete bejahend.

»Mein Inneres sagte mir,« fuhr er fort, indem er ihrer Schönheit durch Blicke sein Kompliment machte,« daß es Niemand anders seyn könnte. Miß Haredale, ich führe einen Namen, der Euch nicht unbekannt ist und der – mit Stolz und doch zugleich mit Schmerz bin ich mir dessen bewußt – angenehm in Euren Ohren klingt. Ihr seht, ich bin ein im Alter vorgerückter Mann, bin der Vater dessen, den Ihr vor allen andern Männern ehrt und auszeichnet. Darf ich um wichtiger Gründe willen, die meine Seele mit Kummer erfüllen, für eine kleine Weile um Gehör bitten?«

Welches offene, in Arglist unerfahrene, jugendliche Herz hätte die Aufrichtigkeit dieses Mannes bezweifeln können – um so mehr, da seine Stimme wie das schwache Echo einer wohlbekannten klang, der sie so gerne lauschte? Sie verneigte ihr Haupt, blieb stehen und senkte die Blicke zu Boden.

»Ein Bischen mehr bei Seite, unter diesen Bäumen. Es ist die Hand eines alten Mannes, Miß Haredale, aber glaubt mir, eines ehrlichen.«

Sie reihte ihm nach diesen Worten die ihrige und ließ sich von ihm nach einem benachbarten Sitze führen.

»Ihr erschreckt mich, Sir,« sagte sie mit leiser Stimme. »Hoffentlich seyd Ihr doch nicht der Bote übler Neuigkeiten?«

»Wenigstens nicht dessen, was Ihr befürchten mögt,« antwortete er, indem er sich an ihrer Seite niederließ. »Edward ist wohl – ganz wohl. Von ihm will ich allerdings sprechen, aber ich habe kein Unglück zu berichten.«

Sie verneigte abermals das Haupt und schien ihn stumm zu bitten, fortzufahren.

»Ich fühle wohl, daß ich, indem ich Euch anrede, im Nachtheil bin, theure Miß Haredale; glaubt mir, daß ich die Gefühle meiner jüngeren Tage nicht so ganz vergessen habe, um nicht zu wissen, daß Ihr nicht sehr geneigt seyn könnt, mich mit günstigen Augen zu betrachten. Ihr habt mich schildern hören als einen kaltherzigen, berechnenden, selbstsüchtigen –«

»Nie, Sir« – unterbrach sie ihn mit ganz geändertem Wesen und festerer Stimme – »nie habe ich von Euch in harten oder unehrerbietigen Ausdrücken sprechen hören, Ihr thut Edward's Charakter schwer Unrecht, wenn Ihr ihm eine so gemeine oder niedrige Gesinnung zutraut.«

»Verzeiht, meine süße, junge Dame, aber Euer Onkel –«

»Und eben so wenig liegt es im Charakter meines Onkels,« versetzte sie, indem ein höheres Roth ihre Wangen überflog. »Es widerstrebt seinem Wesen, Dolchstiche im Finstern zu führen, und eben so sehr dem meinigen, daran Gefallen zu finden.«

Mit diesen Worten stand sie auf und war im Begriffe, ihn zu verlassen. Er hielt sie jedoch mit sanfter Hand zurück und bat sie in dem überredendsten Tone, ihn noch eine Minute anzuhören, wozu sie leicht zu vermögen war; sie setzte sich daher wieder nieder.

»Und dieses freimüthige, großartige und edle Wesen,« sagte Herr Chester aufwärts blickend und die Luft anredend, »kannst du so leichtfertig verwunden! Schande – Schande über dich, Knabe!«

Sie wandte sich rasch, mit einem Blicke der Verachtung aus den leuchtenden Augen, gegen ihn hin. Es glänzten Thränen an Herrn Chester's Wimpern; aber er wischte sie hastig weg, als wolle er diese Schwäche verbergen, und betrachtete sie mit dem gemischten Blicke der Bewunderung und des Mitleids.

»Ich habe bisher nie geglaubt,« fuhr er fort,« daß die leichtfertigen Handlungen eines jungen Menschen mir je so zu Herzen gehen könnten, wie die meines Sohnes. Und erst jetzt lerne ich eigentlich den Werth eines weiblichen Herzens kennen, das Knaben so leicht gewinnen und leicht wieder hinschleudern. Seyd versichert, Fräulein, daß ich bisher nie Euren Werth kannte; und obgleich mein Abscheu vor Arglist mich antrieb. Euch aufzusuchen, wie ich es auch eben so gehalten haben würde gegen die Aermste und Unbegabteste Eures Geschlechtes, so hätte mich doch der Muth verlassen, um diese Zusammenkunft zu bethätigen, wenn mir meine Phantasie Euch hätte ausmalen können, wie Ihr wirklich seyd.«

Ah! wenn doch Frau Varden diesen tugendhaften Gentleman hätte sehen können, wie ihm bei diesen Worten die Augen vor Entrüstung leuchteten! Hätte sie doch seine gebrochene, behende Stimme hören und ihn schauen können, wie er mit entblößtem Haupte im Lichte der Sonne da stand und mit ungewohnter Kraft seine Beredsamkeit entströmen ließ.

Emma sah ihn mit stolzer Miene, aber doch blaß und zitternd an, ohne jedoch eine Sylbe zu sprechen oder auch nur sich zu rühren. Sie faßte ihn in's Auge, als wollte sie in das Innerste seines Herzens dringen.

»Ich entschlage mich allen Zwanges,« sagte Herr Chester, »den natürliche Zuneigung anderen Menschen auflegen würde, und zerreiße alle Bande, die der Wahrheit und des Pflichtgefühls ausgenommen. Miß Haredale, Ihr seyd betrogen – hintergangen von Eurem unwürdigen Liebhaber – und leider auch meinem unwürdigen Sohne.«

Sie sah ihn noch immer fest an, ohne ein Wort zu sprechen.

»Ich habe mich immer seinen Liebesbetheuerungen gegen Euch in den Weg gestellt; Ihr werdet mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, theuere Miß Haredale, Euch dessen zu erinnern. Euer Onkel und ich, wir haben uns in früherer Zeit verfeindet, und wäre mein Sinn nach Rache gestanden, so hätte ich sie hier finden können. Doch mit dem Alter wird man weiser – vielleicht auch besser, wie ich hoffe, und von Anfang an bin ich seinen Bewerbungen in den Weg getreten. Ich sah das Ende voraus, und hätte es wohl ersparen mögen, wenn es mir möglich gewesen wäre.«

»Sprecht unumwunden, Sir,« stotterte sie. »Entweder täuscht Ihr mich, oder seyd Ihr selbst getäuscht. Ich glaube Euch nicht – kann – darf Euch nicht glauben.«

»Zuvörderst,« sagte Herr Chester beschwichtigend, – »denn vielleicht liegt in Eurem Herzen ein Verdruß verborgen, von dem ich keinen Nutzen ziehen möchte – bitte ich Euch, diesen Brief zu nehmen. Er kam zufällig oder aus Versehen in meine Hände und sollte, wie ich höre, meinen Sohn wegen Nichtbeantwortung eines Schreibens vor Euch rechtfertigen. Gott verhüte, Miß Haredale,« sagte der edle Mann in großer Bewegung,« daß in Eurem zarten Herzen ein grundloser Anlaß, mit ihm zu grollen, Platz greifen sollte. Ihr müßt wissen und werdet auch hieraus ersehen, daß in dieser Hinsicht die Schuld nicht an ihm lag.«

Herr Chester erschien bei diesem Anlasse so gar aufrichtig, so gewissenhaft ehrlich, so ganz wahrheitsliebend und gerecht, überhaupt so glaubwürdig, daß Emma zum erstenmal der Muth entsank. Sie wandte sich ab und brach in Thränen aus.

»Ich wollte,« fuhr Herr Chester fort, indem er sich über sie beugte und in sanftem, eigentlich ehrerbietigem Tone sprach; »ich wollte, mein theures Fräulein, daß ich die Aufgabe hätte, solche Merkmale Eures Schmerzes zu verbannen, nicht sie zu vergrößern. Mein Sohn, mein irrender Sohn – ich will ihn nicht einer überlegten verbrecherischen Handlung bezüchtigen, denn ein junger Mensch, wenn er schon zwei- oder dreimal unbeständig gewesen ist, handelt ohne Vorbedacht und kennt kaum das Unrecht, das er thut – wird die Euch geschworene Treue brechen – ja, hat sie sogar jetzt schon gebrochen. Soll ich hier, nachdem ich Euch diese Warnung gegeben, inne halten und der Sache ihren Lauf lassen, oder soll ich fortfahren?«

»Fahrt fort, Sir,« antwortete sie, »und sprecht Euch deutlicher aus. Laßt uns Beiden, mir und ihm, Gerechtigkeit widerfahren.«

»Mein theures Fräulein,« sagte Herr Chester, sich noch zärtlicher über sie niederbeugend,« das ich so gerne meine Tochter nennen möchte, wenn es das Geschick nicht anders wollte – Edward suchte unter einem falschen und durchaus nicht zu rechtfertigenden Vorwande mit Euch zu brechen. Er hat mir's selbst, eigenhändig geschrieben, gezeigt. Vergebt mir, wenn ich auf sein Treiben Acht hatte. Ich bin sein Vater, und da mir der Friede Eures Herzens und seine Ehre theuer sind, so blieb mir keine andere Zuflucht. In diesem Augenblicke liegt ein Brief auf seinem Pulte, der an Euch abgehen soll – ein Brief, in welchem er Euch sagt, daß unsere Armuth – unsere Armuth, die seinige und die meinige, Miß Haredale – ihm verbiete, seine Ansprüche an Eure Hand zu verfolgen; in welchem er sich freiwillig erbietet, Euch Eure Zusage zurückzugeben, und (wie es die Männer gemeiniglich in solchen Fällen halten) großmüthig davon spricht, er werde mit der Zeit Eurer Achtung würdiger seyn – und dergleichen. Offen gesprochen – ein Brief, worin er Euch nur zum Besten hat – entschuldigt dieses Wort; ich möchte, daß Euch Euer Stolz und Euer Selbstgefühl zu Hülfe käme – und ich fürchte, nicht nur zum Besten hat zu Gunsten der Person, deren geringschätzige Behandlung ihm zuerst die kurze Leidenschaft für Euch einflößte, welche eigentlich nur in verletzter Eitelkeit ihren Grund hat, sondern sich noch obendrein diese Handlung als Verdienst und Tugend anrechnen will.«

Sie sah ihn, wie von einem unwillkürlichen Impulse geleitet, noch einmal stolz an und erwiederte dann aus schwellender Brust:

»Wenn das, was Ihr sagt, wahr ist, so gibt er sich viele unnöthige Mühe, Sir, seinen Plan auszuführen. Er geht sehr zart mit meinem Seelenfrieden um. Ich muß es ihm recht Dank wissen.«

»Die Wahrheit dessen, was ich Euch mittheile, theures Fräulein,« versetzte er, »wird am besten daraus erhellen, ob Ihr den genannten Brief erhaltet, oder nicht. – Haredale, mein theurer Freund, ich bin ganz entzückt. Euch zu sehen, obgleich wir uns unter sonderbaren Umständen und wegen eines schmerzlichen Anlasses treffen. Ich hoffe, Ihr befindet Euch wohl!«

Mit diesen Worten erhob die junge Dame ihre thränenschweren Augen, und da sie in der That ihren Onkel in der Nähe stehen sah, aber durchaus unfähig war, nur noch ein Wort weiter anzuhören oder zu sprechen, so entfernte sie sich hastig und ließ die Beiden allein. Diese blickten einander gegenseitig an, schauten der entweichenden Gestalt nach und sprachen geraume Zeit keine Sylbe.

»Erklärt mir, was soll das heißen?« fragte Herr Haredale endlich. »Warum seyd Ihr hier, und was habt Ihr mit ihr zu schaffen?«

»Mein theurer Freund,« entgegnete der Andere, mit ungemeiner Gewandheit sein gewohntes Wesen wieder aufnehmend und sich mit dem Ausdrucke der Ermüdung auf die Bank setzend. »Ihr habt mir unlängst gesagt – dort in jener ergötzlichen alten Schenke, von der Ihr der achtbare Eigenthümer seyd (und es ist ein höchst anziehendes Haus für Leute von ländlichen Sitten und kräftiger Gesundheit, die dem Schnupfen nicht unterworfen sind) – daß ich in allen Arten von Hinterlist den Kopf und das Herz eines bösen Geistes habe. Ich dachte damals – ja, ich versichere Euch, ich dachte wirklich, Ihr schmeicheltet mir blos. Jetzt aber fange ich an, Eure Beobachtungsgabe zu bewundern, und glaube, von aller Eitelkeit abgesehen, aufrichtig, daß Ihr die Wahrheit spracht. Habt Ihr je außerordentliche Aufrichtigkeit und ehrlichen Unwillen geheuchelt? Wenn Ihr dieß nicht aus Erfahrung kennt, so habt Ihr keinen Begriff davon, wie eine solche Anstrengung Einen erschöpft.«

Herr Haredale musterte ihn mit einem Blicke kalter Verachtung.

»Ich weiß, Ihr möchtet gerne einer Erklärung ausweichen,« sagte er, seine Arme zusammenschlagend. »Aber ich muß sie haben. Ich kann warten.«

»Nicht doch. Nicht im Geringsten, mein Guter. Ihr sollt keinen Augenblick warten müssen,« entgegnete sein Freund, indem er lässig seine Beine kreuzte. »Die einfachste Sache von der Welt. Man könnte sie in eine Nußschale sperren. Ned hat ihr einen Brief geschrieben – ein knabenhaftes, ehrliches, sentimentales Machwerk, das zur Zeit noch auf seinem Pulte liegt, weil er sich nicht so viel Herz fassen konnte, es abzuschicken. Ich habe mir die Freiheit genommen, das Schreiben zu lesen (denn meine väterliche Liebe und Sorgfalt ist hinlänglicher Entschuldigungsgrund) und den Inhalt Eurer Nichte (ein ganz hinreißendes Frauenzimmer, Haredale, ein wahres Engelsbild) mit einiger für unsern Zweck passenden Färbung mitgetheilt. Es ist geschehen. Ihr dürft ganz ruhig seyn – 's ist alles vorbei. Die Anhänger und Zwischenträger entfernt. Stolz und Eifersucht auf's höchste gereizt, von keiner Seite Enttäuschung, und Ihr ein Bestätiger meiner Angaben – Ihr werdet finden, daß mit ihrer Antwort der Verkehr ein Ende nimmt. Wenn sie Ned's Brief morgen Mittag erhält, so dürft Ihr morgen Abend auf einen Abschied für immer zählen. Bitte, keinen Dank; Ihr habt keine Verpflichtung gegen mich. Ich handelte für mich selbst, und wenn ich unsern Vertrag mit allem Eifer, den Ihr nur wünschen konntet, förderte, so that ich es in der That aus eigennützigen Absichten.«

»Ich verfluche diesen Vertrag, wie Ihr es nennt, aus vollem Herzen und ganzer Seele,« erwiederte der Andere. »Er wurde in schlimmer Stunde geschlossen. Indem ich mit Euch ein Bündniß einging, habe ich mich mit der Lüge verkettet; und obgleich es in der besten Absicht geschah, obgleich es mich eine Ueberwindung kostete, die vielleicht wenige Menschen zu würdigen wissen, so muß ich mich doch selbst wegen dieser That hassen und verachten.«

»Ihr werdet ja ganz warm,« sagte Herr Chester mit einem schlaffen Lächeln.

»Ich bin warm. Ich werde wahnsinnig durch Eure Kälte. Gott's Tod, Chester, wenn wärmeres Blut in Euren Adern ränne und nicht ein Zwang auf mir läge, der mich hielte und zurückzöge – nun es ist geschehen, wie Ihr sagt, und in einer solchen Sache kann ich Euch Glauben schenken. Wenn dieser Verrath mich mit Gewissensbissen geißelt, so will ich an Euch und Eure Heirath denken – will in solchen Erinnerungen eine Rechtfertigung dafür suchen, daß ich Emma und Euren Sohn um jeden Preis auseinander reißen half. Unser Bund ist nun zu Ende, und wir können uns trennen.«

Herr Chester küßte graziös seine Hand und streckte sich mit demselben ruhigen Gesichte, das er die ganze Zeit über bewahrt hatte – selbst als er seinen Gefährten so von Leidenschaft gefoltert sah, daß sein ganzer Körper bebte – in nachlässiger Haltung auf dem Sitze aus, dem sich Entfernenden nachschauend.

»Mein Sündenbock und mein Packesel in der Schule,« sagte er, den Kopf erhebend, um ihm nachzublicken; »mein Freund in spätern Tagen, der seine Geliebte wohl gewann, aber nicht zu behaupten vermochte, weil er mich ihr in den Weg warf, daß ich ihm die Beute entführen konnte – ich triumphire über dich jetzt, wie in der Vergangenheit. Belle nur zu, du garstiger, boshafter Köder; das Glück hat sich immer zu mir gehalten – ich höre dich gerne.«

Der Ort dieser Zusammenkunft war eine Allee. Herr Haredale ging geradezu in derselben weiter. In beträchtlicher Entfernung wandte er zufällig den Kopf um, und als er sah, daß Herr Chester inzwischen aufgestanden war und ihm nachschaute, blieb er stehen, als erwarte er halb und halb, daß ihm derselbe nachfolgen werde.

»So weit kann es eines Tages kommen, aber jetzt nicht,« sagte Herr Chester, indem er ihm mit der Hand zuwinkte, als wären sie die besten Freunde, und weiter ging. »Jetzt nicht, Haredale. Das Leben hat noch hinreichend Reiz für mich, und eine Centnerlast von Oede und Sorgen für dich. Nein. Mit einem solchen Mann den Degen zu kreuzen – sich in seine Laune zu fügen, wenn es nicht die höchste Noth erfordert – es wäre in der That eine Schwäche.«

Demungeachtet zog er aber in seinem Weitergehen den Degen, welchen er in einer Art Geistesabwesenheit volle zwanzigmal vom Hefte bis zur Spitze mit den Augen maß. Aber Nachdenken macht Runzeln. Dieses Sprichworts eingedenk, steckte er ihn wieder ein, glättete seine finstere Stirne, summte eine heitere Arie vor sich hin, und war bald ganz wieder der lächelnde Weltmann.



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