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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Wir überlassen den Liebling, das überall wohl aufgenommene und gehätschelte Schooßkind der Welt, den weltlichsten aller Weltmänner, der sich nie durch eine ungentlemänische Handlung compromittirt und nie einer männlichen schuldig gemacht hatte, seinem lächelnden Schlafe – denn selbst sein Schlaf, der nur wenig in seinem an Verstellung gewöhnten Gesichte änderte, war bei ihm zu einem Stück kalter und konventioneller Heuchelei geworden – und verfolgen jetzt die Schritte zweier langsamer Wanderer, die sich auf dem Wege nach Chigwell befinden.

Diese sind Barnaby und seine Mutter, in deren Gesellschaft sich natürlich auch Greif befand. Die Wittwe, welcher jede neue Minute peinlicher und länger als die letzte vorkam, schleppte sich mühsam weiter, während Barnaby, der ohne Unterlaß seinen unbeständigen Trieben folgte, bald da, bald dort war, jetzt seine Mutter weit hinter sich lassend, jetzt wieder weit zurückbleibend, dann wieder auf irgend einem Nebenwege vorwärtsschießend und sie allein ihres Weges ziehen lassend, bis er auf einmal ganz verstohlen auftauchte und mit einem wilden Jubel auf sie zu kam, wie es ihm eben sein unstätes und launenhaftes Wesen eingab. Das einemal konnte er ihr von dem obersten Zweige eines hohen, am Wege stehenden Baumes zurufen, das anderemal bediente er sich seines langen Stabes als einer Sprungstange, um über Hecken, Gräben, oder fünffach verriegelte Pförtchen zu fliegen; dann eilte er wieder eine Meile oder darüber auf der geraden Straße voran und machte Halt, um auf einem Rasenfleck mit Greif zu spielen, bis ihn seine Mutter einholte. Hierin fand er seine Lust, und wenn die geduldige Mutter seine frohe Stimme hörte, oder ihm in das glühende, gesunde Antlitz sah, so hätte sie ihn nicht mit einem einzigen strengen Worte oder Murren kränken mögen obgleich sie unter dem Treiben ihres Sohnes eben so viel litt, als es ihm Freude gewährte.

Es liegt einiger Genuß darin, Zeuge einer Heiterkeit zu seyn, die sich frei und wild in der schönen Gottesnatur ausläßt, wäre es auch nur die Heiterkeit eines Wahnwitzigen. Der Grund liegt wohl in dem Bewußtseyn, daß der Himmel die Fähigkeit, sich zu freuen, selbst der Brust eines solchen Wesens belassen hat, und daß der Schöpfer des Alls selbst dem Verachtetsten seiner Werke eine solche freundliche Gabe ertheilt, obgleich der Mensch sie so leichtfertig an seinem Mitmenschen zu zerstören geneigt ist. Wer möchte nicht lieber einen armen Blödsinnigen sehen, wie er sich im Sonnenlichte freut, als einen weisen Mann, den im finsteren Gefängnisse der Gram aufreibt.

Ihr düsteren und strengen Männer, die ihr das Antlitz des unendlichen Wohlwollens mit einem unaufhörlichen Stirnrunzeln malt – lest in dem ewigen Buche, das offen vor euern Augen liegt, und lernet die Lehren, die darin stehen. Seine Bilder zeigen euch keine schwarzen und unheimlichen Schatten, sondern helle und glühende Tinten, seine Musik besteht nicht aus Seufzen und Stöhnen, sondern aus Liedern und frohen Klängen, wenn sie nicht von euch selber erstickt werden. Hört auf die Millionen Stimmen in der Sommerluft und findet mir nur eine einzige heraus, die so trübselig klingt, als eure eigene. Erinnert euch, wenn ihr könnt, des Gefühls der Hoffnung und Freude, welches jeder heitere Tagesanbruch in der Brust Aller weckt, die sich ihres ursprünglichen Wesens nicht entkleidet haben, und lernt einige Weisheit selbst von den Thörichten, wenn ihre Herzen instinktartig unter dem Frohsinn und dem Glücke der Stunde gehoben werden.

Die Brust der Wittwe war mit Kummer erfüllt und schwer mit geheimer Angst und Sorge beladen; aber die Heiterkeit ihres Kindes erfreute ihr Herz und kürzte ihr den langen Weg. Hin und wieder bot er ihr seinen Arm an und hielt sich eine kleine Weile dicht an ihre Seite; es war aber seinem Wesen angenehmer, umherzustreifen, und sie fühlte sich wohler, wenn sie ihn frei und glücklich sah, als wenn er neben ihr herging, denn sie liebte ihn mehr, als sich selbst.

Sie hatte den Ort, nach dem sie jetzt wanderten, unmittelbar nach der Katastrophe verlassen, die einen so großen Wechsel in ihrer ganzen Existenz veranlaßt, und seit zweiundzwanzig Jahren war sie nicht mehr dahin zurückgekehrt, weil es ihr am Muthe gebrach. Es war ihr Geburtsort. Wie viele Erinnerungen drängten sich ihrem Geiste auf, als sie des Dörfchens wieder ansichtig wurde!

Zweiundzwanzig Jahre. Das ganze Leben und die ganze Geschichte ihres Kindes. Zum letztenmale hatte sie auf die Dächer unter den Bäumen zurückgeblickt, während sie ihn als einen Säugling auf ihren Armen trug. Wie oft hatte sie seitdem Tag und Nacht an seiner Seite gesessen und dem Morgenrothe der Vernunft entgegengeharrt, das nie kommen sollte. Welche Besorgnisse, Zweifel und doch nicht weichenwollende Hoffnungen, nachdem sich ihr lange die Ueberzeugung mit furchtbarer Gewalt aufgedrungen hatte! Die kleinen Kunstgriffe, die sie versuchte, um ihn auf die Probe zu stellen, die kleinen Anzeichen, die er in seiner kindischen Weise kund gab – nicht von Blödsinn, sondern von etwas unendlich Schlimmerem, so gespenstig und unkindlich in seiner Verschmitztheit – alles trat ihr jetzt so lebhaft vor die Seele, als sey es erst gestern vorgefallen. Die Stube, in welcher sie wohnten; der Ort, wo seine Wiege stand; er, so alt und koboldartig von Angesicht, aber ihr doch so theuer, wie er sie mit wilden und hohlen Augen anstierte und ein rauhes Lied heulte, wenn sie dabei saß und ihn wiegte – jeder Umstand aus seiner Kindheit tauchte in ihrer Erinnerung auf, und je gewöhnlicher sie vielleicht waren, desto bestimmter malten sie sich vor ihrer Seele ab.

Dann seine Knabenjahre. Die sonderbaren Einbildungen, die er hatte; sein Erschrecken vor manchen leblosen Dingen – bekannte Gegenstände, in denen er Leben zu schauen glaubte; der langsame und allmälige Ausbruch jenes einen Entsetzens, womit vor seiner Geburt schon die Umnachtung seines Verstandes begann; wie sie trotz alle dem Trost und Hoffnung darin fand, daß er gar nicht war, wie andere Kinder, und dabei fest auf den Glauben kam, daß sich sein Geist eben langsam entwickle, – bis er zum Manne geworden und nun der Beweis vorhanden war, daß er nimmer aus der Unmündigkeit heraustreten werde – alle diese alten Gedanken dämmerten auf's Neue auf, nachdem sie lange geschlummert, aber jetzt nachdrücklicher und bitterer als jemals.

Sie ergriff seinen Arm und eilte mit ihm durch die Straße des Dorfes. Sie war noch ganz so, wie in alten Zeiten, aber doch wieder verschieden und von anderem Aussehen. Der Wechsel lag aber in ihr, nicht in dem Dorfe, woran sie, freilich nicht dachte, denn sie wunderte sich nur über seine Veränderung, wo es lag und wie es aussah.

Barnaby war allen Leuten daselbst wohl bekannt, und die Kinder schaarten sich um ihn – die Arme erinnerte sich, mit den Vätern und Müttern derselben ein Gleiches gethan zu haben, als sie selbst noch Kinder waren, wenn etwa ein närrischer Bettler in den Ort kam. Von ihr selbst wußte man jedoch nichts mehr. Sie gingen an jedem bekannten Hause oder Hofe vorbei und bogen dann nach den Feldern ein, wo sie bald wieder allein waren.

Der Kaninchenhag war das Ziel ihrer Wanderung. Herr Haredale ging in dem Garten spazieren, und als er sie auf das Eisengitter zukommen sah, schloß er auf und hieß sie eintreten.

»Endlich habt Ihr Euch ein Herz gefaßt, den alten Ort wieder einmal zu besuchen,« sagte er zu der Wittwe. »Es freut mich, daß Ihr es über Euch gewannt.«

»Zum ersten- und letztenmale, Sir,« versetzte sie.

»Zum erstenmal seit vielen Jahren, aber doch nicht zum letztenmal?«

»Zum allerletztenmal.«

»Ihr wollt damit doch nicht sagen,« versetzte Herr Haredale, indem er sie mit einiger Ueberraschung betrachtete, »daß Euch Eure Entschlossenheit leid thut und Ihr wieder rückfällig werden wollt? Das wäre Euer sehr unwürdig. Habe ich Euch nicht oft gesagt, Ihr solltet hierher zurückkehren? Ich weiß Ihr wäret hier glücklicher, als anderswo. Barnaby ist ohnehin schon ganz heimisch bei uns.«

»Und auch Greif,« sagte Barnaby, indem er den Deckel seines Korbes öffnete.

Der Rabe hüpfte gravitätisch heraus, setzte sich auf Barnaby's Schulter, wandte sich gegen Herrn Haredale, und rief – vielleicht um anzudeuten, daß eine mäßige Erfrischung sehr gelegen kommen dürfte:

»Polly setz' den Kes – sel auf; wir wollen alle Thee haben!«

»Hört mich, Marie,« sprach Herr Haredale freundlich, indem er ihr winkte, ihn in's Haus zu begleiten. »Euer Leben ist ein Muster von Geduld und Seelenstärke gewesen – diesen einzigen  Punkt ausgenommen, der mir schon oft viel Kummer gemacht hat. Es ist genug, daß ich weiß, wie schrecklich Ihr bei dem Unglück betheiligt seyd, das mich eines einzigen Bruders und Emma ihres Vaters beraubte, ohne daß Ihr mich zu der Vermuthung drängt – und es kömmt mir hin und wieder so vor – als brächtet Ihr uns in Verbindung mit dem Urheber unseres gemeinschaftlichen Unglücks.«

» Euch mit ihm in Verbindung bringen, Sir?« rief sie.

»In der That,« entgegnete Herr Haredale, »ich muß Euer Benehmen wohl so deuten. Beinahe möchte ich glauben, Ihr betrachtet uns als den Anlaß zu dem blutigen Tod Eures Mannes, weil er durch so viele Bande an unsere Familie gekettet war und in ihrem Dienste, wie auch in ihrer Vertheidigung, sein Leben verlor.«

»Ach,« erwiederte sie; »wie wenig kennt Ihr mein Herz – und wie wenig die Wahrheit, Sir!«

»Freilich könnte ich Euch's nicht verargen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß Ihr so denkt, ohne es selbst zu wissen,« sagte Herr Haredale mehr für sich hin, als gegen die Wittwe. »Wir sind ein gefallenes Haus. Was auch die verschwenderischste Hand an Geld bieten könnte, wäre nur ein kümmerlicher Ersatz für Leiden wie die Eurigen, und die spärlichen Spenden, welche wir in unseren gedrückten Verhältnissen reichen können, werden zu einem erbärmlichen Hohne. Gott weiß, ich fühle es wohl,« fügte er bei. »Warum sollte ich mich wundern, wenn es bei ihr der gleiche Fall ist?«

»Ihr thut mir Unrecht, theurer Sir,« versetzte sie mit großem Ernste; »und doch, wenn Ihr mich anhören wollt, was ich Euch, mit Eurer Erlaubniß, mittheilen möchte –«

»So würde ich meinen Zweifel bestätigt finden,« ergänzte er, als er bemerkte, daß sie stotterte und verlegen wurde. »Wohlan!«

Er eilte einige Schritte voran, trat aber schnell wieder an ihre Seite und sprach:

»Und habt Ihr am Ende diesen weiten Weg blos deßhalb gemacht, um mit mir zu reden?«

Sie antwortete: »Ja!«

»Es ruht ein Fluch auf der elenden Lage solcher stolzen Bettler, wie wir,« murmelte er, »der Arm und Reich in gleicher Weise von uns scheucht; denn die einen sehen sich genöthigt, uns mit der Außenseite kalter Achtung zu behandeln, während die andern jeden Verkehr, jedes Wort als eine Herablassung betrachten und nur um so höher auftreten, jemehr sie sich uns nähern. Doch wenn Ihr Euch den Zwang auferlegt habt (denn einen solchen muß ich es wohl nennen), zu einem so geringfügigen Ende die Kette einer zweiundzwanzigjährigen Gewohnheit zu brechen – hättet Ihr mich nicht Euren Wunsch wissen lassen und einen Besuch von mir verlangen können?«

»Dazu war keine Zeit, Sir,« entgegnete sie. »Ich habe mich erst gestern Nacht entschlossen und fühlte dabei, daß ich keinen Tag – was sage ich Tag? – keine Stunde verlieren dürfte, um mit Euch Rücksprache zu nehmen.«

Sie hatten inzwischen das Haus erreicht. Herr Haredale blieb eine Weile stehen und sah sie einigermaßen überrascht über das Nachdrucksvolle in ihrem Benehmen an. Als er jedoch gewahrte, daß sie seiner nicht achtete, sondern schaudernd an den alten Wänden hinaufsah, mit denen ihr Geist so viel Entsetzliches in Verbindung brachte, führte er sie auf einer besondern Treppe nach seiner Bibliothek, wo Emma mit einem Buch am Fenster saß.

Sobald die junge Dame des Besuches ansichtig wurde, stand sie hastig auf, legte ihr Buch bei Seite und hieß die Wittwe, nicht ohne Thränen, warm und freundlich willkommen. Die Frau wich jedoch ihrer Umarmung aus, als fürchtete sie sich vor ihr, und sank bebend in einen Stuhl.

»Die Rückkehr zu diesem Orte nach so langer Abwesenheit greift sie an,« sagte Emma sanft. »Läutet doch, lieber Onkel – oder halt – Barnaby kann fort und etwas Wein holen –«

»Um alles in der Welt nicht,« rief die Wittwe. »Er hätte einen andern Geschmack – ich könnte ihn nicht anrühren. Ich bedarf nur einer Minute Ruhe – weiter nichts.«

Miß Haredale stand an der Seite ihres Stuhles und betrachtete sie mit stummem Mitleid. Eine Weile verblieb die Wittwe ganz ruhig; dann stand sie auf und wandte sich an Herrn Haredale; der sich in seinen Armstuhl niedergelassen hatte und sie mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete.

Wenn man die Erzählung, welche sich an dieses Haus heftete, mit dem Schauplatze der Unthat selbst verglich, so schien derselbe recht eigentlich für ein solches Verbrechen geschaffen zu seyn. Das Zimmer, in welchem die kleine Gruppe jetzt versammelt war, lag hart neben dem Gemach, wo der Mord verübt wurde, und war öde, finster und unheimlich, mit wurmstichigen Büchern angefüllt, verdunkelt durch die verblichenen Vorhänge, die jeden Ton dämpften, und wehmüthig beschattet durch die Bäume, deren rauschende Zweige hin und wieder gespenstig an die Scheiben schlugen – mit einem Worte, es trug vorzugsweise vor allen übrigen im Hause einen düstern und geisterhaften Charakter. Auch die Personen darin paßten ganz zu dem Orte. Die Wittwe mit ihren scharfgezeichneten, auffallenden Zügen und den niedergeschlagenen Augen; Herr Haredale immer finster und über der Verzweiflung brütend; ihm zur Seite seine Nichte, ihrem Vater so ähnlich, und doch so unähnlich, dessen Bild vorwurfsvoll von den geschwärzten Wänden auf die Gruppe niederschaute; Barnaby mit seinem leeren Blick und dem unruhigen Auge – alle standen im Einklange mit dem Platze und waren ganz zu Helden in der genannten Legende geeignet. Ja, sogar der Rabe, der auf den Tisch gehüpft war und mit der Miene eines alten Zauberers in einem großen Folioband, der offen auf dem Pult lag, zu studiren schien, harmonirte mit den übrigen, und sah ganz aus wie ein verkörperter böser Geist, der seiner Zeit harrt, um Unheil zu stiften,

»Ich weiß kaum,« begann die Wittwe, das Schweigen brechend, »wie ich anfangen soll. Ihr werdet mich für eine Wahnsinnige halten.«

»Euer ganzes ruhiges und tadelloses Leben seit Eurem letzten Aufenthalt hier in diesem Hause wird Zeugniß für Euch ablegen,« versetzte Herr Haredale sanft. »Warum besorgt Ihr, eine solche Vermuthung zu wecken? Ihr sprecht nicht mit Fremden und nehmt unsere Theilnahme oder Berücksichtigung nicht zum ersten Male in Anspruch. Ermuthiget Euch. Faßt Euch ein Herz. Ihr wißt, daß Ihr ein Recht habt auf jeden Rath, jeden Beistand, den ich Euch geben kann, und er soll Euch gerne ertheilt werden.«

»Wenn ich aber hier herkäme, Sir,« erwiederte sie, »um von diesem Augenblicke an Eure Beihülfe zurückzuweisen und Euch zu sagen, daß ich mich hinfort in die Welt werfen will, allein und ohne Hülfe, um zu sinken oder oben zu schwimmen, wie es des Himmels Rathschluß beschließt?«

»Wenn Ihr in dieser Absicht herauskamt,« sagte Herr Haredale ruhig, »so habt Ihr ohne Zweifel für ein so außerordentliches Betragen einen Grund anzugeben, der natürlich von Gewicht seyn muß, sonst wäre es ja gar nicht möglich, an ein so wildes und abenteuerliches Vorhaben zu glauben.«

»Dieses, Sir,« antwortete sie, »ist eben der Jammer meines Unglücks. Ich kann durchaus keinen Grund angeben und habe nichts, als mein bloßes Wort anzubieten; aber es wird mir zur Pflicht, zu einer ernsten und gebieterischen Pflicht. Wollte ich mich derselben nicht entledigen, so wäre ich eine verbrecherische und schuldbeladene Elende. Aber weiter kann ich nicht mehr sagen; von nun an sind meine Lippen versiegelt.«

Sie schien sich jetzt, nachdem sie so viel gesagt, erleichtert und für den Rest ihrer Aufgabe gekräftigt zu fühlen, denn sie sprach fortan mit festerer Stimme und höherem Muthe.

»Der Himmel und mein eigenes Herz sind Zeugen – und ich weiß, auch das Eurige wird für mich sprechen, Fräulein – daß ich seit jener Zeit, die für uns Alle Anlaß zu schmerzlicher Erinnerung gibt, in unwandelbarer Ergebenheit und Dankbarkeit gegen diese Familie gelebt habe; und so wahr mir Gott helfe, wohin ich auch gehen mag, werden diese Gefühle unverändert bleiben. Ja, der Allmächtige ist mein Zeuge, daß sie allein der Grund sind, warum ich einen solchen Weg einschlage, von dem mich nichts abbringen soll, so wahr ich auf Gnade hoffe.«

»Das sind seltsame Räthsel,« sagte Herr Haredale.

»Die in dieser Welt vielleicht nimmer aufgeklärt werden, Sir,« versetzte sie. »In einer andern wird die Wahrheit zur gehörigen Zeit an's Licht kommen. Und möge diese Zeit noch recht ferne seyn,« fügte sie mit dumpfer Stimme bei.

»Ich möchte übrigens gewiß wissen,« entgegnete Herr Haredale,« daß ich Euch auch recht verstehe, denn ich verzweifle an meinen eigenen Sinnen. Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr entschlossen seyd, Euch freiwillig derjenigen Unterstützung zu entschlagen, die Ihr so lange von uns empfangen habt – daß Ihr verzichten wollt auf den Jahrgehalt, den wir Euch vor zwanzig Jahren ausgesetzt – daß Ihr Haus und Heimath zu verlassen und ein neues Leben anzufangen gedenkt – und dieß aus irgend einem geheimen Grunde, oder wegen irgend einer wunderlichen Einbildung, die nicht erklärt werden kann und die jetzt erst vorhanden ist, nachdem – sie diese ganze Zeit über geschlafen hat? Um Gotteswillen, in was für einer Verblendung seyd Ihr befangen!«

»Da ich mich zu innigem Dank verpflichtet fühle gegen die Güte Aller, die diesem Hause angehören, sowohl der Lebenden, als der Todten,« antwortete sie, »und da ich nicht haben möchte, daß dieß Dach über mir zusammenfalle und mich zerquetsche, oder daß sogar seine Wände von Blut triefen, wenn mein Name darin ausgesprochen wird, so will ich nie mehr von Eurer Güte meinen Unterhalt ziehen, oder auch nur einen Beitrag dazu annehmen. Ihr wißt nicht,« fügte sie plötzlich bei, »wozu Eure Gaben verwendet werden und in welche Hände sie fallen könnten. Aber ich weiß es, und leiste daher Verzicht darauf.«

»Ohne Zweifel nützen sie blos Euch,« versetzte Herr Haredale.

»So war es, aber es ist nicht mehr so. Vielleicht – ah, ja freilich – fallen sie Zwecken anheim, ob denen sich die Todten in ihren Gräbern umwälzen möchten. Ich kann nimmermehr Segen davon haben, denn sie würden irgend ein schweres Gericht auf meinen lieben Sohn herunterrufen, der ohne Verschulden für das Verbrechen seiner Mutter büßen müßte.«

»Was sind das für Worte!« rief Herr Haredale, sie verwundert betrachtend. »Unter was für Gesellschaft seyd Ihr gefallen und an welcher Schuld habt Ihr Euch betheiligt?«

»Ich bin schuldig und doch unschuldig, habe Unrecht und doch Recht, und so gut auch meine Absicht seyn mag, so sehe ich mich doch genöthigt, den Bösen zu schützen und zu schirmen. Fragt mich nicht weiter, Sir, aber glaubt mir, daß ich mehr zu beklagen, als zu verdammen bin. Ich muß morgen mein Haus verlassen, denn während ich hier bin, geht es dort um. Wenn ich in Zukunft Frieden haben soll, so muß mein Aufenthalt ein Geheimniß bleiben. Sollte sich mein armer Knabe je hieher verlieren, so versucht nicht, ihn zu Entdeckungen zu veranlassen, und spüret ihm nicht nach, wenn er zurückkehrt; denn sobald man uns aufsucht, müssen wir weiter fliehen. Nun ich diese Last von meiner Seele gewälzt habe, bitte ich Euch – und auch Euch, theure Miß Haredale – mir Vertrauen zu schenken, wenn Ihr könnt, und so wohlwollend von mir zu denken, als Ihr bisher gethan habt. Wenn ich sterbe und zuvor mein Geheimniß nicht enthüllen kann (was recht leicht möglich ist), so wird es in jener Stunde um des heutigen Tages willen weniger auf meinem Herzen drücken, und bis zum Ende meines Lebens will ich jeden Tag für Euch beten, in stillem Danke Eurer gedenken, ohne Euch mehr zur Last zu fallen.«

Sobald sie dieß gesprochen, wollte sie sich entfernen; aber man hielt sie zurück und forderte sie mit vielen beschwichtigenden Worten und freundlichen Bitten auf, zu bedenken, was sie thue, vor Allem aber, sich freimüthig auszusprechen und zu sagen, was so schwer auf ihrer Seele laste. Da jedoch keine Ueberredung verfangen wollte, so machte Herr Haredale, als letzten Ausweg, den Vorschlag, sie möchte sich Emma anvertrauen, da sie sich vielleicht vor einer jungen Person ihres eigenen Geschlechts weniger fürchte, als vor ihm. Sie bebte jedoch vor diesem Ansinnen mit demselben unbeschreiblichen Widerwillen zurück, den sie bei dem ersten Zusammentreffen mit der Dame an den Tag gelegt hatte, wie sie denn überhaupt zu nichts Weiterem zu vermögen war, als daß sie versprach, am nächsten Abend noch einen Besuch von Herrn Haredale in ihrer Wohnung abzuwarten und inzwischen ihren Entschluß, wie die gemachten Vorstellungen, weiter zu überlegen – obgleich eine Aenderung ihrer Gesinnungen, wie sie sagte, durchaus nicht zu erwarten stehe. Nachdem diese Bedingung eingegangen war, ließ man sie, wenn schon ungerne, ziehen, da sie im Hause weder Speise noch Trank zu sich nehmen wollte; und so entfernten sich Mutter, Sohn und Greif, wie sie gekommen waren, vermittelst der Hintertreppe und des Gartenpförtchens, ohne auf ihrem Wege Jemand zu sehen, oder gesehen zu werden.

Es war merkwürdig, daß der Rabe während des ganzen Gesprächs sein Auge auf das Buch geheftet hatte, gerade wie ein verschmitzter menschlicher Schuft, der unter der Maske eifriger Lectüre auf jede Sylbe, die gesprochen wird, horcht. Auch schien ihm immer noch die Unterhaltung sehr im Kopfe umzugehen, denn obgleich er, als sie wieder allein waren, auf der Stelle unzählige Theekessel aufzusetzen befahl, so blieb er doch gedankenvoll, was eher die Folge eines unbewußten Pflichtgefühls zu seyn schien, als weil er sich irgendwie angenehm machen oder, wie man es im gemeinen Leben nennt, einen guten Gesellschafter abgeben wollte.

Den Heimweg wollten sie zu Wagen machen. Da es jedoch noch volle zwei Stunden währte, bis die Postkutsche abfuhr, und sie der Ruhe, wie auch einiger Erfrischung bedurften, so lag Barnaby seiner Mutter dringend an, in dem Maibaum einzusprechen. Diese wollte jedoch von Niemanden, dem sie früher bekannt war, erkannt werden, und da sie außerdem fürchtete. Herr Haredale möchte nach weiterer Ueberlegung sie in dem Wirthshause aufsuchen lassen, so entschloß sie sich, auf dem Kirchhofe zu warten, was auch Barnaby genehmigte, da es ihm leicht wurde, die benöthigten Lebensmittel einzukaufen und herzubringen. Sie ließen sich daher auf dem Kirchhof nieder, um ein ärmliches Mahl einzunehmen.

Auch hier zeigte der Rabe einen sehr beschaulichen und nachdenksamen Charakter; denn nachdem er gespeist hatte, spazierte er mit der selbstgefälligen Miene eines ältlichen Herrn, der die Hände unter seinen Rockschößen verbirgt, auf und nieder, und schien mit großem kritischem Takte die Inschriften auf den Grabsteinen zu lesen. Bisweilen sperrte er, nach langer Inspektion eines Epitaphs, den Schnabel gegen das Grab auf und schrie in heiseren Tönen: »ich bin ein Teufel, ich bin ein Teufel, ich bin ein Teufel!« doch wissen wir nicht zu sagen, ob dieß blos eine allgemeine Bemerkung seyn, oder ob der Ausruf irgend einer vermeintlichen Person unter dem Rasen gelten sollte.

Es war ein hübscher ruhiger Ort, an den sich übrigens traurige Erinnerungen für Barnaby's Mutter hefteten: denn hier lag Herr Reuben Haredale, und in der Nähe des Gewölbes, in welchem seine sterblichen Reste ruheten, befand sich ein Gedenkstein ihres Mannes mit einer Inschrift, wie und wann er sein Leben verloren hatte. Da blieb sie denn gedankenvoll und abseits sitzen, bis ihre Wartezeit abgelaufen war und die fernen Töne des Horns die Ankunft der Kutsche verkündigten.

Barnaby, der auf dem Grase geschlafen hatte, sprang bei dem Tone behend auf, und Greif, der das Zeichen gleichfalls gut zu verstehen schien, spazierte geradezu in seinen Korb, die Gesellschaft im Allgemeinen auffordernd (als beabsichtige er damit eine Art von Satyre auf die im Kirchhof Begrabenen) »nichts da von Sterben zu sagen, unter keinen Umständen.« Sie befanden sich bald auf dem Kutschendache und fuhren ihres Weges weiter.

Der Wagen fuhr an dem Maibaum vorbei und machte an der Thüre Halt. Joe war nicht zu Hause, weßhalb Hugh träge herausschlich, um ein abgegebenes Paket zu überreichen. Von dem alten John war nicht zu besorgen, daß er herauskomme. Sie konnten ihn von dem Kutschendache aus sehen, wie er in seinem traulichen Schenkstübchen fest eingeschlafen dasaß. Dieß gehörte recht eigentlich zu Johns Charakter, denn er betrachtete es gewissermaßen als einen Ehrenpunkt, zur Zeit des Anfahrens der Postkutsche zu schlafen. Er war überhaupt kein Freund von Landstreicherei, und meinte, Postkutschen sollte man eigentlich verbieten, denn sie seyen Friedensstörer und unruhige, lärmende, geschäftige, hornblasende Teufels-Erfindungen, die sich mit der Würde des Menschen gar nicht vertrügen und nur für schwindelköpfige, plappernde und ladenläuferische Mädchen paßten.

»Wir wissen hier nichts von Postwagen, Sir,« konnte John sagen, wenn irgend ein unglücklicher Reisender nach einer solchen anstößigen Locomotive fragte. »Wir führen kein Buch für sie – nein, gewiß nicht; sie machen mehr Störung, als sie werth sind, mit ihrem Gelärm und Gerassel. Wollt Ihr warten, bis eine kömmt, so mögt Ihr es thun; wir aber wollen nichts davon wissen. Meinetwegen mögen sie ankehren oder nicht – es ist ein Fuhrmann da, und den hielt man schon gut genug für uns, als ich noch ein Knabe war.«

Sie ließ ihren Schleier nieder, als Hugh hinanklimmte und, hinten sich festhaltend, Barnaby etwas zuflüsterte. Aber weder er noch sonst Jemand redete sie an, achtete auf sie, oder verrieth auch nur die mindeste Neugierde, zu wissen, wer sie wäre. So besuchte und verließ sie denn als eine Fremde den Ort, wo sie geboren worden, wo sie als ein heiteres Kind, als ein hübsches Mädchen und als Weib gelebt – wo sie die vergnügtesten Stunden ihres Daseyns getroffen und ihr schwerstes Elend den Anfang genommen hatte.



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