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Einunddreißigstes Kapitel.

Ueber sein unglückliches Loos nachdenkend, saß Joe eine Zeitlang horchend da und erwartete jeden Augenblick knarrende Fußtritte auf der Treppe zu hören, oder von Seite seines würdigen Vaters mit der Aufforderung begrüßt zu werden, ohne alle Bedingungen zu kapituliren und sich auf der Stelle zu ergeben. Aber da war weder Stimme, noch Fußtritt zu vernehmen, und obgleich hin und wieder ein fernes Echo, wie wenn man Thüren zuschlüge und Leute in den Stuben aus- und eingingen, durch die weiten Gänge schallte und bis in sein abgeschiedenes Kämmerchen drang, so wurde doch unten keine ungewöhnliche Bewegung laut, und kein näherer Ton störte ihn in seinem Schlupfwinkel, der durch das ferne Geräusch nur noch ruhiger zu werden schien und ganz so öde und düster war, wie eine Einsiedlerzelle.

Es wurde dunkler und dunkler. Die altmodischen Möbel seines Gemaches, das eine Art von Spital für alle invaliden, beweglichen Geräthe des Hauses war, wurden unbestimmt und schattenhaft bei ihren mannigfaltigen Formen. Stühle und Tische, die bei Tag wie so ehrliche Krüppel aussahen, als sie nur seyn konnten, nahmen einen zweifelhaften, geheimnißvollen Charakter an, und eine alte, aussätzige spanische Wand von verschossenem indischem Leder mit Goldsäumen, die in früheren Tagen manchen kalten Luftzug abgehalten und manches fröhliche Gesicht eingeschlossen hatte, schaute mit geisterhaftem Stirnrunzeln auf Joe nieder und stand in ihrer vollen Höhe in der ihr zugedachten Ecke, wie irgend ein hageres Gespenst, das nur angeredet zu werden erwartet. Ein Portrait dem Fenster gegenüber – ein wunderlicher, alter, grauäugiger General in einem eirunden Rahmen – schien zu blinzeln und mit dem hinschwindenden Lichte einzunicken, bis es endlich mit dem vollen Einbruche der Nacht seine Augen in gutem Ernste schloß und in einen gesunden Schlaf verfiel. Es herrschte über dem Ganzen ein so geheimnißvolles, scheues Schweigen, daß Joe sich nicht entbrechen konnte, dem allgemeinen Beispiele zu folgen; er schlummerte daher gleichermaßen ein und träumte von Dolly, bis die Uhr auf dem Chigweller Kirchthurm Zwei schlug.

Noch immer erschien Niemand. Die fernen, lärmenden Töne im Hause hatten aufgehört, und auch draußen war Alles ruhig – das gelegentliche dumpfe Bellen eines Hundes und das Rauschen der Zweige im Nachtwinde ausgenommen. Er schaute traurig aus dem Fenster auf jeden wohlbekannten Gegenstand, wie Alles so im Dämmerlichte des Mondes schlafend da lag, huschte wieder nach seinem früheren Sitz zurück und rief sich seinen kürzlichen Streit in's Gedächtniß, über den er so lange nachdachte, daß es ihm schien, er habe schon vor einem Monat stattgefunden. So entschwand ihm zwischen Schlummern, Nachdenken, Auf- und Abgehen und Zumfensterhinausschauen die Nacht. Die grimmige, alte spanische Wand und die Tisch- und Stühlesippschaft begannen langsam ihre gewohnten Gestalten zu entwickeln; der grauäugige General schien zu blinzeln, zu gähnen und sich aufzuraffen, und endlich wachte er wieder hell auf, sah aber jetzt sehr unbehaglich, kalt und hager in dem trüben, grauen Lichte der Dämmerung aus.

Die Sonne säumte bereits die Baumspitzen des Waldes und kreuzte den wirbelnden Nebel mit glänzenden Goldstreifen, als Joe von seinem Fenster aus ein kleines Bündel und seinen treuen Stock auf den Boden hinunterwarf und sich anschickte, gleichfalls hinabzusteigen.

Dieß war kein sehr schwieriges Geschäft; denn es gab da so viele Vorsprünge und Giebelenden, daß sie eine Reihe plumper Treppen bildeten, wobei das größte Hinderniß darin bestand, daß man zuletzt einen Sprung von etlichen Füßen wagen mußte. Joe stand bald, mit seinem Stocke und das Bündel auf der Schulter, auf festem Grunde und sah an dem alten Maibaum hinauf  –, vielleicht zum Letztenmale.

Er beehrte ihn mit keiner Anrede, denn so was hatte er nicht gelernt. Auch fluchte er ihm nicht, denn er hegte nur wenig Groll gegen irgend Etwas auf Erden; und da er in diesem Augenblicke sogar eine zärtlichere Liebe zu ihm fühlte, als bisher je der Fall gewesen war, so sprach er aus dem Grunde seines Herzens den Scheidewunsch aus: »Gott behüte dich!« und ging von hinnen.

Er wanderte rüstigen Schrittes weiter, ganz von dem großartigen Gedanken hingenommen, unter die Soldaten zu gehen, in irgend einem fremden, sehr heißen und sandigen Lande zu sterben, und Gott weiß, welchen unerhörten Reichthum von Prisengeldern Dolly zu hinterlassen, die dann zuverlässig sehr gerührt seyn mußte, wenn sie Kunde davon erhielt. Voll solcher jugendlicher Gesichte, die bisweilen sanguinisch, bisweilen wehmüthig waren, stets aber nur sie zum Hauptziele hatten, trabte er rüstig weiter, bis der Lärm von London in seine Ohren tönte und der schwarze Löwe vor seinen Blicken auftauchte.

Es war erst acht Uhr und der schwarze Löwe machte gewaltige Augen, als er Joe, ohne seine graue Mähre, mit Staub bedeckt und zu so früher Stunde, einherkommen sah. Er bestellte daselbst  in aller Eile ein Frühstück, und da er, als es ihm vorgesetzt wurde, die sichersten Merkmale eines kräftigen Appetits von sich gab, so empfing ihn der Löwe wie gewöhnlich mit einem gastlichen Willkomm und behandelte ihn ganz mit jener Auszeichnung, welche er als ein regelmäßiger Kunde und als zur Gewerbsfreimaurerei gehörig, mit Recht anzusprechen hatte.

Dieser Löwe oder Gastwirth – denn man nannte ihn so als Mensch und als Thier, weil er den Künstler, der ihm sein Schild malte, angewiesen hatte, in die Züge der Bestie, welche das Wirthshaus bezeichnete, ein so getreues Abbild seines eigenen Gesichtes zu legen, als es nur immer seiner Geschicklichkeit möglich wäre – dieser Löwe also war ein Herr von fast eben so schneller Fassungsgabe und beinahe eben so hellem Verstand, wie der gewaltige John selbst. Demungeachtet fand aber ein Unterschied zwischen beiden statt, denn während Herrn Willets außerordentlicher Scharfsinn und Geist ein reines Geschenk der Natur war, hatte der Löwe seine derartigen Talente in keinem geringen Grade dem Biere zu danken, dem er mit so vielen Schlücken zusprach, daß die meisten seiner Fähigkeiten gänzlich ersäuft und weggewaschen wurden – die einzige große Fähigkeit zum Schlafen ausgenommen, die er sich in überraschender Vollkommenheit bewahrte. Der knarrende Löwe über der Hausthüre war daher, wenn wir die Wahrheit sagen wollen, ein ziemlich schläfriger, zahmer und schwacher Löwe; und da diese socialen Repräsentanten einer wilden Klasse gewöhnlich einen conventionellen Charakter tragen (denn man malt sie meistens in unmöglichen Stellungen und in auf der Erde nicht vorkommenden Farben), so meinte der unwissende und ununterrichtete Theil der Nachbarschaft gar häufig, man sähe hier das leibhaftige Portrait des Wirths, wie er bei irgend einem großen Leichenbegängniß oder zur Zeit einer Landestrauer erschiene.

»Wer ist der lärmende Bursche in der nächsten Stube,« fragte Joe, nachdem er sein Frühstück versorgt und dann sich gewaschen und gebürstet hatte.

»Ein Werber,« antwortete der Löwe.

Joe fuhr unwillkürlich zusammen. Hier hatte er ja gerade das, wovon er auf seinem ganzen Wege geträumt hatte.

»Und ich wollte, er wäre anderswo, als hier,« sagte der Löwe. »Der Kerl macht wohl Lärm genug, aber verbraucht nicht viel. 'S heißt da eben auch, viel Geschrei und wenig Wolle, Herr Willet. Ich weiß, Euer Vater würde keine besondere Freude an solchen Kunden haben.«

Vielleicht hatte der Löwe für alle Umstände recht; wenn aber der alte John hätte wissen können, was in diesem Augenblicke in Joe's Seele vorging, so hätte er vielleicht noch weniger Freude an ihnen gehabt.

»Wird da für ein – für ein schönes Regiment geworben?« fragte Joe, indem er ein wenig nach dem Spiegel zurückblickte, der in dem Schenkstübchen hing.

»Ich glaube so,« versetzte der Wirth. »Doch ist's so ziemlich gleichgültig, für welches Regiment man angeworben wird. Ich habe mir sagen lassen, es sey kein großer Unterschied zwischen einem schönen Mann und einem andern, wenn sie einmal durch und durch geschossen sind.«

»Nicht Alle werden erschossen,« entgegnete Joe.

»Nein,« erwiederte der Löwe, »nicht Alle. Doch glaube ich, daß Diejenigen, welchen es so ergeht – vorausgesetzt, daß sie gut getroffen werden – noch am besten wegkommen.«

»Ah,« versetzte Joe. »Nun, Ihr kümmert Euch eben nichts um den Ruhm.«

»Um was?« fragte der Löwe.

»Um dem Ruhm.«

»Nein,« entgegnete der Löwe mit großer Gleichgültigkeit. »Ihr habt ganz Recht. Herr Willet, um den kümmere ich mich nicht. Wenn der Ruhm einmal herkommt, einen Trunk bestellt und zur  Bezahlung eine Guinee wechseln lassen will, so soll er es umsonst haben. Ich bin der Ansicht, Sir, daß die Fäuste des Ruhms nirgends besonders gute Geschäfte machen werden.«

Diese Bemerkungen waren ganz und gar nicht tröstlich. Joe ging hinaus, hielt an der Thüre des nächsten Zimmers und horchte. Der Werbeoffizier schilderte eben das Soldatenleben. Da werde an einem fort getrunken, sagte er, die häufigen Zwischenräume abgerechnet, wo man auch esse und Liebesabenteuer bestehe. Eine Schlacht sey das Allerschönste, was man sich auf der Welt denken könne, wenn man auf der Seite des Sieges stehe, und dieß sey bei den Engländern stets der Fall.

»Aber wenn man todtgeschossen wird, Sir?« fragte eine schüchterne Stimme aus einer Ecke.

»Nun, Sir, angenommen, es wäre der Fall,« entgegnete der Werbeoffizier, »was weiter? Euer Vaterland liebt Euch, Sir; Seine Majestät, König Georg der Dritte, liebt Euch; Euer Andenken ist geachtet und verehrt, alle Welt liebt Euch und ist Euch dankbar; Euer Name wird der vollen Länge nach in ein Buch auf dem Kriegsministerium eingeschrieben. Gott verdamme mich, meine Herren, wir müssen Alle einmal sterben, wie?«

Die Stimme hustete und sagte nichts mehr.

Joe trat in das Zimmer. Eine Gruppe von einem halben Dutzend Burschen hatte sich in der Wirthsstube versammelt und hörte mit begierigen Ohren zu. Einer von ihnen, ein Kärrner in einem Zwilchkittel, schien zu wanken und geneigt zu seyn, sich anwerben zu lassen. Die Uebrigen, welche indeß für ihre Person durchaus keine Lust bezeugten, setzten ihm (wie es die Leute zu machen pflegen) zu, sein Vorhaben auszuführen, unterstützten die Gründe des Werbers und grinsten sich gegenseitig an.

»Ich sage nichts weiter, Jungen,« sprach der Werbeoffizier, der ein wenig abwärts saß und seinen Branntwein trank. »Aber für muthige Bursche« – hier warf er einen Blick auf Joe – »ist jetzt die rechte Zeit. Ich wünsche nicht, Euch zu verlocken, denn hoffentlich ist's noch nicht so weit mit dem Könige gekommen. Wir brauchen rühriges junges Blut, nicht Milch und Wasser, und nehmen aus Sechsen kaum Fünfe. Rechte Leute wollen wir haben. Ich mag nicht aus der Schule schwatzen, aber, hole mich der Henker, wenn ich jeden Gentlemanssohn aufzählen sollte, der in unserm Corps die Waffen führt, weil es ein Bischen Unwetter und kleine Zwistigkeiten mit seinen Verwandten setzte« – hier fiel sein Auge abermals auf Joe, und zwar so gutmüthig, daß ihm Joe winkte. Er kam sogleich heran.

»Ihr seyd ein Gentleman, bei Gott!« lautete seine erste Bemerkung, indem er Joe auf die Schulter klopfte. »Ihr seyd ein verkleideter Gentleman. Ich auch. Laßt uns Freundschaft schwören.«

Dieß mochte nun Joe gerade nicht, aber er wechselte mit ihm einen Händedruck und dankte ihm für seine gute Meinung.

»Ihr wollt Dienste nehmen?« fragte sein neuer Freund. »Das sollt Ihr auch. Ihr seyd ganz dafür geschaffen – seyd von Natur Einer von den Unsrigen. Was wollt Ihr trinken?«

»Jetzt eben nichts,« versetzte Joe mit einem matten Lächeln. »Ich bin noch nicht ganz schlüssig.«

»Ein feuriger Bursche wie Ihr, und noch nicht schlüssig?« rief der Werber. »Nun – laßt mich nur einen Ruck an der Klingel thun, und ich weiß, Ihr werdet in einer halben Minute in's Reine kommen.«

»So weit habt Ihr Recht« – antwortete Joe,« denn wenn Ihr hier, wo man mich kennt, klingelt, so wird's mit meinem Soldatwerden im Nu ein Ende haben. Schaut mir in's Gesicht. Ihr seht mich – wie?«

»Freilich sehe ich Euch,« entgegnete der Werber mit einem Fluche, »und ein hübscherer junger Bursche, der sich besser dafür qualifizirte, seinem Könige und Vaterlande zu dienen, ist mir« – hier schaltete er eine etwas kräftige Betheurung ein – »nie unter die Augen gekommen.«

»Danke Euch,« entgegnete Joe. »Ich fragte Euch nicht, um ein Compliment von Euch zu hören, aber demungeachtet danke ich Euch. Sehe ich wie ein Schleicher oder wie ein Lügner aus?«

Der Werber erwiederte mit vielen auserlesenen Betheuerungen, daß er dieß nicht finde, und wenn sein eigener (des Werbers) Vater eine solche Behauptung wagen wollte, so würde er dem alten Herrn mit Vergnügen den Degen durch den Leib rennen und es noch als eine verdienstliche Handlung betrachten.

Joe drückte seine Anerkennung aus und fuhr fort:

»Ihr könnt also auf mich bauen und meinen Worten Glauben beimessen. Wahrscheinlich werde ich mich heute Abend für Euer Regiment anwerben lassen. Der Grund, warum ich es zur Zeit nicht thun will, ist: weil ich mich vor heute Abend auf Nichts einlassen mag, was ich nicht wieder ungeschehen machen kann. Wo werde ich Euch dann finden?«

Sein Freund erwiederte etwas ungerne und nach vielem vergeblichen Drängen, das Geschäft auf der Stelle zu bereinigen, daß er im Krummstab zu Tower-Street einquartirt sey, wo man ihn bis Mitternacht wachend und bis Morgen zum Frühstück schlafend finden werde.

»Und wenn ich komme – es ist tausendmal wahrscheinlicher, daß es geschieht, als nicht – wann nehmt Ihr mich aus London fort?« fragte Joe.

»Morgen früh um halb neun Uhr,« versetzte der Werber. »Ihr kommt in's Ausland – in eine Gegend, wo es nichts als Sonnenschein und Beute gibt – das schönste Klima von der Welt.«

»Das wünsche ich gerade,« versetzte John, ihm die Hand drückend. »Ihr mögt mich erwarten.«

»Ihr seyd der rechte Mann für uns,« rief der Werber, im Uebermaaße seiner Bewunderung Joe's Hand in der seinigen festhaltend. »Ihr seyd ein Bursche, der sein Glück machen wird. Nicht, weil ich Euch beneide, oder weil ich Euch den Ruhm schmälern möchte, zu dem Ihr Euch erheben werdet, sage ich Euch nur so viel, wäre ich so erzogen und unterrichtet worden, wie Ihr, so müßte ich jetzt bereits Obrist seyn.«

»Bst, Mann!« entgegnete Joe, »ich bin nicht so jung und unerfahren, um mir so Etwas weiß machen zu lassen. Wenn Einen der Teufel treibt, so muß man eben; und der Teufel, der mir auf dem Nacken sitzt, ist eine leere Tasche und eine unglückliche Heimath. Vor der Hand – Gott befohlen!«

»Für König und Vaterland!« rief der Werber, seine Mütze schwenkend.

»Für Brod und Fleisch!« rief Joe, mit den Fingern schnippend.

Und so trennten sie sich.

Er hatte nur sehr wenig Geld in der Tasche – in der That so wenig, daß ihm, nachdem er sein Frühstück bezahlt (denn er war zu ehrlich, und vielleicht zu stolz, den Credit seines Vaters zu benützen), nur noch ein Penny übrig blieb. Demungeachtet aber war er standhaft genug, nicht auf das zärtliche Drängen des Werbers einzugehen, der ihm an der Thüre mit vielen Versicherungen ewiger Freundschaft in den Weg trat und ihn insbesondere ersuchte, er möge ihm den Gefallen erweisen, nur einen Schilling als jeweilige Aushilfe von ihm anzunehmen. Joe wollte übrigens von derartigen Anerbietungen nichts wissen, sondern ging, wie früher, mit Stock und Bündel weiter, entschlossen, den Tag so gut als möglich zu verbringen und im Zwielichte des Abends die Wohnung des Schlossers zu besuchen; denn – wenn nicht der Teufel sein Spiel dabei hatte, so mußte es ihm doch glücken, der bezaubernden Dolly Varden ein Wort zum Abschiede zu sagen.

Er ging bei Islington hinaus und weiter bis Highgate, oft auf den vielen Steinen und an den Thoren sich niedersetzend; aber kein Glockenton hieß ihn zurückkehren. Mit den Tagen des edlen Whittington, dieser Blume der Kaufmannschaft, haben die Glocken ihr Mitgefühl mit dem Menschengeschlecht verloren. Sie tönen nur um Geld oder bei wichtigen Staatsereignissen. Die Zahl der Wanderer hat sich vergrößert; Schiffe fahren aus der Themse nach fernen Gegenden, vom Bug bis zum Stern keine andere Ladung, als sonst auch, führend; die Glocken bleiben stumm; sie läuten nicht mehr zum Gebet oder zum schmerzlichen Abschied für den Scheidenden; sie sind deß gewöhnt und nachgerade ganz weltlich geworden.

Joe kaufte sich eine Semmel und brachte so (nur mit einem kleinen Unterschiede) seinen Beutel in den Zustand von jenes berühmten Fortunati Seckel, der, welche Bedürfnisse sein Eigenthümer auch haben mochte, unabänderlich nur den gleichen Betrag enthielt. Aber in diesen Zeiten der Wirklichkeit, wo alle Feen todt und begraben sind, gibt es noch ungeheuer viele Börsen, welche dieselbe Eigenschaft besitzen. Ihre Totalsumme läßt sich arithmetisch durch einen Kreis ausdrücken, und mag man sie nun mit sich selbst addiren oder multipliciren, so läßt sich das Resultat immer leichter angeben, als bei allen andern Zahlen.

Der Abend kam endlich heran. Mit dem trostlosen Gefühle der Verlassenheit, das die Heimathlosen, und namentlich Diejenigen bedrückt, die zum erstenmal allein und fremd in der Welt stehen, lenkte er seine Schritte nach dem Hause des Schlossers. Er hatte so lange gezögert, weil er wußte, daß Frau Varden bisweilen ohne Begleitung, oder blos mit Miggs in ihrem Gefolge, eine Abendbetstunde besuchte, und bei dem gegenwärtigen Anlasse hoffte er sehnlichst, dieser Abend möchte gleichfalls einer ihrer moralischen Erbauungen geweiht seyn.

Er war auf der andern Seite des Weges etlichemal vor dem Hause auf- und abgegangen, und als er wieder umkehrte, wurde er eines flatternden Kleidersaumes an der Thüre ansichtig. Es war Dolly's – wem anders hätte er gehören können? – kein Gewand, als das ihrige, hatte einen solchen Faltenwurf. Er nahm allen seinen Muth zusammen und folgte ihr in die Werkstatt des goldenen Schlüssels.

Sein Eintritt in die Thüre veranlaßte sie, umzuschauen. Oh, dieses Antlitz! »Wäre es nicht um seinetwillen,« dachte Joe, »so hätte mir der arme Tom Cobb wohl unangetastet bleiben mögen. Sie ist zwanzigmal schöner als je. Ein Lord dürfte sich nicht an ihr schämen!«

Er sagte dieß jedoch nicht laut, sondern nur in seinem Innern – und vielleicht konnte man es ihm auch ansehen. Dolly freute sich über diesen Besuch, und bedauerte ungemein, daß Vater und Mutter nicht zu Hause wären. Joe bat, sie möchte doch ja nicht davon sprechen.

Dolly nahm Anstand, nach dem Besuchzimmer voran zu gehen, denn es dunkelte bereits sehr; und doch wollte sie nicht mit ihm in der Werkstatt stehen bleiben, denn da war es doch zu hell, und man konnte von der Straße hereinsehen. Auch waren sie, weiß Gott wie, vor die kleine Esse gekommen, und da Joe ihre Hand in der seinigen hielt (wozu er eigentlich kein Recht hatte, da sie ihm Dolly nur zum Gruße geboten), so hatte es ganz das Ansehen, als ständen sie vor einem häuslichen Altar, um sich trauen zu lassen, so daß sie sich vor Verlegenheit nicht zu lassen wußte.

»Ich komme,« sagte Joe, »um Euch Lebewohl zu sagen – Lebewohl auf weiß Gott wie lange; vielleicht auf immer. Ich verlasse England.«

Das war es nun eben, was er eigentlich nicht hätte sagen sollen. Stand er nicht da und schwatzte ganz großartig, wie ein vornehmer Herr, der die Freiheit hat, zu kommen, zu gehen, und nach Belieben in der Welt herumzustreifen, während doch der galante Kutschenmacher den Abend vorher betheuert hatte, Miß Varden halte ihn fest mit diamantenen Ketten; deßgleichen hatte er ausdrücklich und mit denselben Worten versichert, sie tödte ihn zollweise, und in vierzehn Tagen, oder so etwas, sehe er einem anständigen Ende entgegen, worauf dann seine Mutter das Geschäft fortführen könne.

Dolly machte ihre Hand los und sagte: »Wirklich?« Zugleich bemerkte sie auch, daß es eine schöne Nacht sey – kurz, sie verrieth nicht mehr Bewegung, als die Esse nebenan.

»Ich hätte nicht gehen können,« sagte Joe, »ohne Euch zuvor gesehen zu haben. Der Muth würde mir versagt haben.«

Dolly bedauerte unaussprechlich, daß er sich so viele Mühe genommen. Es war ein so weiter Weg, und er mußte noch so viel zu thun haben. »Und was macht Herr Willet – der liebe alte Herr –«

»Und weiter habt Ihr mir nichts zu sagen?« rief Joe.

Weiter? Ah du mein Gott, was erwartete denn der Mann! Sie mußte ihren Schürzensaum in die Hand nehmen und ihre Augen von einem Zipfel bis zum andern laufen lassen, um ihm nicht geradezu in's Gesicht zu lachen – nicht weil sein Blick sie verwirrte – nein, ganz und gar nicht.

Joe hatte wenig Erfahrung in Liebesangelegenheiten, und wußte nicht, wie verschieden junge Frauenzimmer zu verschiedenen Zeiten sind. Seiner Meinung nach sollte Dolly ganz auf dem Punkte stehen, wo er sie nach jenem köstlichen Abendritt verlassen hatte, weßhalb er auf eine solche Veränderung eben so wenig gefaßt war, als wenn mit einmal Sonne und Mond ihre Stelle verwechselt hätten. Den ganzen Tag über hatte er in der unbestimmten Idee geschwelgt, sie würde zuverlässig sagen: »Geh' nicht,« oder »Verlaß uns nicht,« oder »Warum gehst du?« oder »Warum willst du uns verlassen« – kurz, auf eine derartige kleine Ermuthigung hatte er zuversichtlich gebaut, und wohl auch den Gedanken an die Möglichkeit unterhalten, daß sie in Thränen ausbrechen, sich in seine Arme werfen, oder ohne vorläufiges Wort und Zeichen schnurstracks in Ohnmacht fallen könnte. Ein Betragen, wie dieses, war ihm aber so wenig zu Sinne gekommen, daß er sie nur mit Verwunderung ansehen konnte.

Dolly drehte inzwischen an ihren Schürzenzipfeln, maß die Seiten, strich die Falten glatt und blieb so stumm, als er. Endlich, nach einer langen Pause, sagte Joe:

»Lebt wohl.«

»Lebt wohl« –« entgegnete Dolly mit einem so heitern Lächeln, als ginge er nur in die nächste Gasse und käme zum Essen wieder zurück; »lebt wohl!«

»Na,« sagte Joe, seine Hände ausstreckend. »Dolly, liebe Dolly, laßt uns nicht so scheiden. Ich liebe Euch zärtlich und aus dem Grunde meines Herzens – mit so viel Treue und Aufrichtigkeit, als, glaube ich, nur je in der Welt ein Mann ein Frauenzimmer geliebt hat. Ihr wißt, ich bin ein armer Bursche – ärmer als je, denn ich bin der Heimath entflohen, weil ich's nicht länger dort auszuhalten vermochte, und muß mich jetzt allein und ohne Hülfe durch die Welt kämpfen. Ihr seyd schön, bewundert, von Jedermann geliebt, wohl und glücklich. Mögt Ihr es immer bleiben! Gott verhüte, daß es durch mich anders werden sollte, aber gebt mir wenigstens ein Wort des Trostes. Sagt mir etwas Freundliches. Ich weiß zwar wohl, daß ich kein Recht habe, es von Euch zu erwarten; aber ich bitte darum, weil ich Euch liebe, und das kleinste Wörtchen von Euch soll mir ein theurer Schatz sein auf meinem Gange durch's Leben. Dolly, theuerste Dolly, habt Ihr mir gar nichts zu sagen?«

Nein. Gar nichts. Dolly war kokett von Natur und ein verzogenes Kind. Sie dachte nicht entfernt daran, sich auf diese Weise im Sturm erobern zu lassen. Der Kutschenmacher wäre in Thränen zerflossen, vor ihr niedergekniet, hätte sich selbst alles Mögliche geheißen, die Hände gerungen, an seine Brust geklopft, ganz wahnsinnig an seiner Cravate gezupft und alle mögliche Arten von Poesie durchgeführt. Was hatte Joe im Auslande zu schaffen? Was berechtigte ihn dazu, auch nur dazu fähig zu seyn? Hätte er an diamantenen Ketten gelegen, so wäre es ihm unmöglich gewesen.

»Ich habe Euch schon zweimal Lebewohl gesagt,« entgegnete Dolly. »Nehmt gleich Euren Arm weg, Herr Joseph, oder ich werde Miggs rufen.«

»Ich will Euch keinen Vorwurf machen,« versetzte Joe, »denn ohne Zweifel liegt die Schuld auf meiner Seite. Ich habe mich bisweilen dem Glauben hingegeben, daß Ihr mich nicht ganz verschmähtet, aber ich war ein Thor. Jeder, der mit angesehen hat, was ich für ein Leben führte, muß mich verachten – und Ihr am allermeisten. Gott sey mit Euch!«

Er war fort, wirklich fort. Dolly wartete eine kleine Weile, in der Hoffnung er würde wieder zurückkehren, sah zur Thüre hinaus, schaute die Straße auf und ab, so gut es in der zunehmenden Finsterniß gehen wollte, kam wieder herein, wartete ein wenig länger, ging, ein Liedchen summend, die Treppe hinauf, schloß sich ein, legte das Köpfchen auf ihr Bett und weinte, als ob ihr das Herz brechen müßte. Und doch sind derartige Charaktere aus so viel Widersprüchen zusammengesetzt, daß man hundert gegen Eins hätte darauf wetten können, Dolly würde Joe Willet, wenn er diesen Abend, des andern Tages, in nächster Woche, den nächsten Monat, zurückgekommen wäre, ganz ebenso behandelt und hintendrein in der gleichen Verzweiflung darüber geweint haben.

Sie hatte kaum die Werkstatt verlassen, als hinter dem Schlot der Esse hervor ein Gesicht zum Vorschein kam, das bereits schon etlichemal unbeachtet aus seinem Verstecke aufgetaucht war; und sobald es sich überzeugt hatte, daß es jetzt allein sey, folgte ein Bein, eine Achsel, und so allmälig mehr und mehr, bis endlich Herrn Tappertit's ganze Figur in freier Entfaltung dastand, die Löschpapiermütze nachlässig auf die Seite seines Kopfs gedrückt und die Arme in die Seite gestemmt.

»Haben mich meine Ohren getäuscht,« sagte der Lehrling, »oder träume ich? Was soll ich thun, Schicksal – soll ich dir danken oder dich verfluchen?«

Dann gab er mit vieler Würde seine großartige Stellung auf, zog sein Spiegelfragment hervor, pflanzte es auf der gewöhnlichen Bank gegen die Mauer, wandte den Kopf um und betrachtete aufmerksam seine Beine.

»Wenn diese ein Traum sind,« fuhr Sim fort, »so sollten Bildhauer derartige Visionen haben und sie ausmeißeln, wenn sie erwachen. Doch nein, es ist Wirklichkeit. Im Schlafe sieht man keine solche Gliedmaßen. Zittre, Willet, und verzweifle. Sie ist mein! Sie ist mein!«

Mit diesen triumphirenden Ergüssen griff er nach einem Hammer und führte einen heftigen Schlag nach einem Schraubstock, in welchem er sich wohl Joseph Willet's Kopf oder Schädel vergegenwärtigen mochte. Sobald dieß geschehen war, brach er in ein schallendes Gelächter aus, das sogar Miß Miggs in ihrer fernen Küche aufschreckte, tauchte seinen Kopf in ein Wasserbecken und nahm seine Zuflucht zu dem Handtuche in dem Wandschranke, welches den doppelten Zweck erfüllte, einmal seine Gefühle zu beschwichtigen, und dann, sein Gesicht zu trocknen.

Joe, der mit trostlosem und niedergeschlagenem Herzen, aber doch voll Entschlossenheit, des Schlossers Haus verließ, begab sich geraden Wegs nach dem Krummstabe und fragte daselbst nach seinem Freunde, dem Werbeoffizier, welcher, da er ihn nimmer wieder zu sehen geglaubt, mit offenen Armen empfing. Fünf Minuten nach seiner Ankunft in diesem Wirthshause war er bereits in die Liste der tapfern Vertheidiger seines Vaterlandes eingereiht, und eine halbe Stunde später wurde er mit einem dampfenden Mahle von geschmorten Kuttelflecken mit Zwiebeln regalirt, das, wie ihm sein Freund mehr als einmal versicherte, auf ausdrücklichen Befehl seiner allergnädigsten Majestät des Königs bereitet worden war. Diesem Mahle, welches nach seinem langen Fasten gar würzig schmeckte, ließ er vollkommene Gerechtigkeit widerfahren und begleitete es mit unterschiedlichen loyalen und patriotischen Trinksprüchen, worauf er nach einer Strohmatratze in einer Bühnenkammer über dem Stall geführt und daselbst für die Nacht eingeschlossen wurde.

Des andern Morgens fand er, daß die liebevolle Sorgfalt seines zärtlichen martialischen Freundes ihm den Hut mit unterschiedlichen bunten Bändern verziert hatte, wodurch sich derselbe gar lebhaft ausnahm; und in Begleitung dieses Offiziers und dreier anderen neueingereihten militärischen Gentlemen, die in ein so tüchtiges Unwetter gekommen waren, daß man nur noch drei Schuhe, einen Stiefel und anderthalb Röcke an ihnen bemerken konnte, begab er sich nach dem Themseufer. Hier trafen sie auf einen Korporal mit vier weitern Helden, von denen zwei betrunken und wagehalsig, die beiden Andern nüchtern und reuig, alle aber, wie Joe, mit einem Stock und einem staubigen Wanderbündel versehen waren. Die Gesellschaft schiffte sich auf einem nach Gravesend bestimmten Fährboote ein, von wo aus sie zu Fuß nach Chatam marschiren sollten. Der Wind war günstig, und bald hatten sie London als einen bloßen dunkeln Nebel – ein riesiges Phantom in der Luft – hinter sich.



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