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Dreiunddreißigstes Kapitel.

An einem Winterabend, zu Anfang des Jahres unseres Herrn Eintausend Siebenhundert und Achtzig erhob sich mit dem Einbruch der Dämmerung ein scharfer Nordwind, und die Nacht zog schwarz und düster heran. Die Schloßen rasselten gegen die zitternden Fenster, und ein scharfem eisig-kalter Wind fegte durch die feuchten Straßen. Wirthsschilde, über Gebühr in ihren knarrenden Rahmen erschüttert, fielen krachend auf das Pflaster nieder; alte, verwitterte Schornsteine wankten und zitterten unter den Windstößen, und mancher Kirchthurm beugte sich in dieser Nacht, als wäre die ganze Erde in Aufruhr.

Es war keine Zeit für Solche, die sich nur halbwegs Licht und Wärme verschaffen konnten, der Wuth des Wetters Trotz zu bieten. In den Kaffeehäusern der bessern Sorten drängten sich die Gäste um das Feuer, vergaßen der Politik und erzählten einander mit heimlichem Wohlbehagen, wie der Sturm mit jedem Augenblicke ungestümer werde. Jede Kneipe an dem Themseufer hatte ihr Häuflein ungeschlachter Gestalten um ihren Herd, und man sprach da von Schiffen, die auf der See umhergeworfen wurden und mit der ganzen Mannschaft zu Grunde gingen, erzählte manche traurige Geschichte von Schiffbruch und ertrunkenen Menschen, hoffte, daß dieser oder jener Bekannte in diesem Wetter davon kommen möchte, und schüttelte dabei bedenklich den Kopf. In den Privathäusern schaarten sich die Kinder um die Flamme und horchten mit scheuem Behagen auf die Erzählungen von Geistern, von Kobolden, von langen Gestalten, und von Leuten, die in alte Kirchen gegangen, eingeschlafen, übersehen worden und in der Stunde der Mitternacht daselbst erwacht wären; dann schauderten sie bei dem Gedanken an die dunklen Zimmer in dem oberen Stock, und doch hörten sie es gerne, wie der Wind heulte, und hofften, er werde noch eine Weile wacker fortmachen. Von Zeit zu Zeit hielten diese Glücklichen, welche sich eines Obdaches erfreuten, inne, um zu horchen, oder es hob einer den Finger auf und rief »Bst!« und dann polterte es in dem Schornstein, und klapperte es an den Scheiben, und hörte man einen kläglichen, rauschenden Ton, der die Mauern erschütterte, als fühlten sie den Stoß einer Riesenhand; dann ließ sich ein heiseres Brüllen vernehmen, als ob sich die See gehoben; dann kam ein solches Gewirbel und ein Tumult, als ob die Luft toll geworden sey; und dann fegten die Windwellen mit gedehntem Geheul umher, eine augenblickliche Ruhe folgen lassend.

Wie heiter blickte an diesem Abende das Licht in dem Maibaum, obgleich Niemand außen war, um es zu sehen. Gesegneter alter Fenstervorhang in deinem tiefen, glühenden Rubinroth, wie lieblich schmolzest du Feuer, Lichter, Essen, Trinken und die ganze Gesellschaft in einen einzigen reihen Glanzstrom zusammen, der, wie ein heiteres Auge, in die kalte Oede draußen hinausschaute! Welcher Teppich wäre dem knirschenden Sande innen gleich gekommen; welche Musik hätte heiterer seyn können, als das Prasseln des Holzes; welcher Duft noch lieblicher, als die leckeren Dämpfe aus der Küche; welches Wetter war ansprechender, als die gemüthliche Stubenwärme! Segen dem alten Hause, das so wacker Stand hielt! Wie der gereizte Wind um sein alterthümliches Dach schnaubte und brüllte, wie er keuchte und kämpfte in den weiten Schornsteinen, die fortwährend aus ihren wirthlichen Schlünden große Rauchwolken entsandten und ihm höhnend in's Gesicht pafften; wie er namentlich an den Fensterrahmen umtrieb und rasselte, eifersüchtig bemüht, die gemüthliche Flamme auszulöschen, die sich nicht dämpfen lassen wollte, sondern nur um so leuchtender aus dem Kampfe hervorzugehen schien.

Und dann der Ueberfluß, der reiche und verschwenderische Vorrath in diesem prächtigen Wirthshause! Nicht genug, daß ein Feuer auf dem geräumigen Herde loderte und prasselte; sogar auf den Ziegeln, die ihn pflasterten und säumten, flackerten ein halbtausend Feuer in heller Lohe. Nicht genug, daß ein rother Vorhang die wilde Nacht hinausschloß und seinen behaglichen Einfluß an dem Zimmer übte. In jedem Pfannendeckel, an jedem Leuchter, an jedem kupfernen, zinnernen oder Messinggefäß, das an den Wänden hing, strahlten zahllose röthliche Behänge wider, bei jeder Bewegung der Flamme blitzend, strahlend, und wohin das Auge schauen mochte, unabsehbare Fernsichten von derselben reichen Farbe bietend; das alte eichene Getäfel, die Balken, die Stühle, die Bänke alles leuchtete in tiefrothem Schimmer. Sogar in den Augen der Trinker, in ihren Knöpfen, in ihrem Branntwein, in den Pfeifen, die sie rauchten, stacken Feuer und rothe Vorhänge.

Herr Willet saß an dem gewohnten Platze, den er schon vor fünf Jahren eingenommen hatte, die Augen nach dem unsterblichen Kupferkessel gerichtet, und hatte schon seit dem Glockenschlag acht Uhr da gesessen, ohne ein anderes Lebenszeichen von sich zu geben, als daß er, obgleich er hellauf wachte, in einem lauten und beständigen Schnarchen athmete, von Zeit zu Zeit sein Glas an die Lippen führte, oder die Asche aus der Pfeife klopfte und sie auf's Neue füllte. Es war nun halb Eilf. Wie vor Alters waren Herr Cobb und der lange Phil Parkes seine Gefährten, und in dritthalb sterbenslangen Stunden hatte Keiner von ihnen auch nur ein Wort gesprochen.

Ob Leute in Folge des Umstandes, daß sie eine Reihe von Jahren stets an demselben Ort (beziehungsweise denselben Stellungen) bei einander sitzen, und stets das nämliche thun, einen sechsten Sinn oder statt dessen irgend eine unbekannte Fähigkeit sich aneignen, auf einander einzuwirken – dieß ist eine Frage, deren Lösung wir den Philosophen überlassen wollen. So viel ist übrigens gewiß, daß der alte John Willet, Herr Parkes und Herr Cobb die feste und einstimmige Ueberzeugung hatten, sie bildeten eine ganz joviale Gesellschaft und wären eigentlich auserlesene Geister, da sie sich hin und wieder anschauten, als ginge ein beständiger Ideentausch unter ihnen vor; daß keiner sich selbst oder seinen Nachbar für einen schweigsamen Patron hielt, und daß jeder von ihnen, wenn er zufällig dem Auge des andern begegnete, mit dem Kopf nickte, als wollte er sagen: »Ihr habt Euch hinsichtlich dessen außerordentlich gut ausgedrückt, Sir, und ich bin ganz mit Euch einverstanden.«

Die Gaststube war so gar warm, der Tabak so gar gut, und das Feuer so gar behaglich, daß Herr Willet allmälig zu dosen begann. Da er es aber durch lange Gewohnheit in der Kunst, schlafend zu rauchen, zu einer hohen Vollkommenheit gebracht hatte, und da sein Athem, mochte er nun wachen oder schlafen, so ziemlich gleich lautete, etwa den Umstand ausgenommen, daß in dem letzteren Falle seine Respiration hin und wieder auf ein kleines Hinderniß stieß (allenfalls wie ein Zimmermann, wenn er beim Hobeln auf einen Ast kömmt), so merkte es keiner seiner Gefährten, bis eine der letztgenannten Hemmungen eintrat und ihn nöthigte, abermals anzusetzen.

»Johnny ist abgefallen,« sagte Herr Parkes in flüsterndem Tone.

»Steif und fest,« entgegnete Herr Cobb.

Und nun sprach keiner von ihnen mehr ein Wort, bis Herr Willet auf einen zweiten Ast stieß – und zwar auf einen so hartnäckigen, daß er darüber eigentlich in Convulsionen gerieth; durch eine wahrhaft übermenschliche Anstrengung gelang es ihm jedoch, denselben zu übermannen, ohne daß er aufwachte.

»Er schläft ungewöhnlich hart,« sagte Herr Cobb.

Herr Parkes, der wahrscheinlich selber auch ein harter Schläfer war, versetzte mit einiger Geringschätzung: »warum nicht gar,« und heftete sein Auge auf einen an dem Kaminmantel angeklebten Zettel, auf dem sich ein Holzschnitt befand, welcher einen sehr schnell laufenden, blutjungen Menschen mit einem an den Stock befestigten Bündel auf der Schulter und – zu völliger Ausführung der Idee – einen Wegweiser und Meilenstein nebenan darstellte. Herr Cobb wandte seine Augen in dieselbe Richtung und beschaute das Plakat, als sehe er es heute zum erstenmale. Es war nämlich ein Dokument, das Herr Willet in eigener Person über das Verschwinden seines Sohnes Josephs erlassen hatte, und worin er einem hohen Adel, einer verehrlichen Honoratiorenschaft und dem Publikum im Allgemeinen die Umstände, unter denen derselbe die Heimath verlassen hatte, nebst einer Beschreibung seines Anzugs und Aussehens mittheilte. Dabei war der Person oder den Personen, die ihn aufgreifen, wohlverwahrt nach dem Maibaum bei Chigwell zurückschaffen oder in einem von Seiner Majestät Gefängnissen unterbringen würden, bis sein Vater käme, um ihn zurückzunehmen, eine Belohnung von fünf Pfund zugesichert. In dieser Ankündigung hatte es Herr Willet trotz des Rathes und der Bitten seiner Freunde, hartnäckig durchgesetzt, seinen Sohn als einen jungen Knaben und etwa achtzehn Zoll bis zwei Fuß kleiner, als er wirklich war, zu schildern – zwei Umstände, denen es vielleicht einigermaßen zugeschrieben werden muß, daß der ganze Erfolg der Anzeige darauf hinauslief, zu verschiedenen Zeiten und unter ungeheuren Kosten ungefähr fünfundvierzig sechs- bis zwölfjährige Ausreißer nach Chigwell zur Beaugenscheinigung zu schaffen.

Herr Cobb und Herr Parkes betrachteten geheimnißvoll dieses Machwerk; dann sahen sie gegenseitig sich und schließlich den alten John an. Von der Zeit, als Herr Willet es eigenhändig angeklebt, hatte er nie, weder durch ein Wort oder ein Zeichen auf den Gegenstand angespielt oder Jemand anders dazu ermuthigt. Niemand hatte auch nur die geringste Vorstellung von dem, was er darüber dachte, und ob er sich des Umstandes noch erinnere oder ihn vergessen habe. Man wagte es daher, so lange er zugegen war, nicht einmal während seines Schlafes auf dieses Ereigniß zurückzukommen, und aus diesen hinreichenden Gründen waren seine auserlesenen Freunde jetzt so schweigsam.

Herr Willet war inzwischen in ein solches Labyrinth von Aesten gerathen, daß es vollkommen klar war, er mußte entweder aufwachen oder ersticken. In dieser Alternative wählte er das erstere und öffnete seine Augen.

»Wenn er nicht in fünf Minuten kommt,« sagte John, »so wird ohne ihn zu Nacht gegessen.«

Der Vordersatz zu dieser Erklärung war etwa um acht Uhr ausgesprochen worden. Die Herren Parkes und Cobb, die an diesen Conversationsstyl bereits gewöhnt waren, entgegneten daher ohne Anstand, daß Solomon allerdings sehr lange ausbleibe, und meinten, sie möchten doch wissen, was ihn möglicherweise abhalten könne.

»Hoffentlich ist er doch nicht weggeblasen worden,« sagte Parkes. »Freilich wäre der Wind stark genug, einen Mann von seinem Gewicht und seiner Figur mit fortzunehmen. Hört Ihr's? Wahrhaftig, das geht wie grobes Geschütz. Da wird's manchmal krachen heute Nacht im Walde, und morgen kann man hübsch Holzlese halten.«

»Ich stehe dafür, Sir, dem Maibaum thut er nichts,« entgegnete der alte John. »Er soll's einmal probiren – ich gebe ihm Erlaubniß dazu. Was ist das?«

»Der Wind,« rief Parkes. »Er heult wie ein Christenmensch, und zwar schon den ganzen Abend.«

»Habt Ihr je gehört, Sir,« fragte John nach dem Nachdenken einer Minute, »habt Ihr je gehört, daß der Wind ›Maibaum‹ rief?«

»Ei, wer hätte das je?« sagte Parkes.

»Oder vielleicht ›oho‹?« fügte John bei.

»Nein, auch das nicht.«

»Sehr wohl, Sir.« sagte Herr Willet mit vollkommener Ruhe; »wenn nun das eben jetzt der Wind war, und Ihr eine Weile warten wollt, ohne zu sprechen, so werdet ihr ihn gleich beide Worte ganz deutlich aussprechen hören.«

Herr Willet hatte Recht. Nachdem sie einige Augenblicke gehorcht hatten, wiederholte sich durch das Gebrüll und den Tumult draußen dieser Ruf, und zwar so schrill und nachdrücklich, daß man wohl daraus entnehmen konnte, er käme von einer in Angst und Schrecken versetzten Person. Sie sahen einander an, erblaßten und hielten den Athem an sich. Keiner rührte sich.

Bei dieser Gelegenheit entfaltete Herr Willet etwas von jener Geistesgegenwart und Besonnenheit, die ihm die Bewunderung aller seiner Freunde und Nachbarn erwarb. Nachdem er die Herren Parkes und Cobb eine Weile stumm angesehen hatte, legte er seine beiden Hände an die Backen und stieß ein solches Gebrüll aus, daß die Gläser tanzten und die Sparren erdröhnten – ein gedehntes, mißtöniges Gebelle, das mit dem Winde dahinrollte, jedes Echo erschreckte, und die Nacht noch hundertmal lärmender machte – ein tiefes, lautes, garstiges Getöne, das wie ein menschliches Gongong klang. Unter der gewaltigen Anstrengung schwoll ihm jede Vene des Gesichts an, und sein Antlitz überlief von dem lebhaftesten Purpur, dann rückte er dem Feuer ein wenig näher, wandte ihm den Rücken zu und sprach mit Würde:

»Wenn das irgend Jemanden einen Trost bringt, so ist's gerne geschehen. Wo nicht, so thut es mir leid. Wenn einer von Euch hinausgehen und sehen will, was es gibt, so kann er es thun. Ich für meine Person bin nicht neugierig.«

Während er so sprach, kamen die Rufe näher und näher. Man hörte Fußtritte unter dem Fenster; die Klinke wurde gelüpft; die Thüre ging auf und schlug heftig wieder zu – und Solomon Daisy, eine angezündete Laterne in der Hand, stürzte mit vom Regen triefenden und zerzausten Kleidern in das Zimmer.

Ein vollständigeres Bild des Entsetzens, als es der kleine Mann darstellte, läßt sich kaum denken. Der Schweiß stand in großen Tropfen auf seinem Gesichte, seine Knie schlugen zusammen, jedes Glied zitterte, und er vermochte keinen Laut hervorzubringen. Da stand er jetzt, nach Luft schnappend, und mit so aschfahlem Gesicht um sich stierend, daß die Andern, obgleich sie die Ursache nicht kannten, von seiner Furcht angesteckt wurden und, sein geängstigtes und entsetztes Gesicht wiederstrahlend, ebenfalls umherstierten, ohne sich zu getrauen, ihn zu fragen – bis endlich der alte John Willet in einem Anfalle temporären Wahnsinns einen Griff nach seiner Halsbinde that, ihn an diesem Anzugsartikel packte und ihn so kräftig hin und her schüttelte, daß ihm die Zähne im Munde klapperten.

»Sagt uns, was los ist, Sir,« rief John, »oder ich erdroßle Euch. Sagt uns, was es gibt, Sir, oder im nächsten Augenblick habe ich Euren Kopf unter dem Kessel. Wie könnt Ihr Euch unterstehen, mit einem solchen Gesichte hereinzukommen? Verfolgt Euch Jemand? Was soll das heißen? So sprecht doch, oder ich begehe Mord und Todtschlag an Euch.«

Herr Willet war in seiner Wuth so nahe daran, sein Wort buchstäblich zu erfüllen (Solomon Daisy's Augen fingen bereits an, auf eine beunruhigende Weise zu rollen, und gewisse Guturaltöne, wie von einem Erstickenden, drangen aus seiner Kehle), so daß die beiden Andern, als sie sich einigermaßen gefaßt hatten, ihn mit Gewalt von seinem Opfer losrissen und den kleinen Küster von Chigwell auf einen Stuhl setzten. Dieser ließ jetzt einen angstvollen Blick durch das Zimmer gleiten und bat sie mit matter Stimme, ihm etwas zu trinken zu geben, vor allem aber ohne den mindesten Zeitverlust Hausthüre und Fensterläden zu schließen und zu verriegeln. Die letztere Aufforderung trug keineswegs dazu bei, seine Zuhörer zu beruhigen oder sie mit behaglicheren Gefühlen zu erfüllen; demungeachtet aber willfahrten sie mit großer Behendigkeit, und nachdem sie ihm einen Becher voll fast kochendheißen Grogs in die Hand gegeben hatten, harrten sie, was er ihnen wohl zu erzählen haben könnte.

»O Johnny,« sagte Solomon, dem Wirth die Hand drückend. »O Parkes! O Tommy Cobb! Warum mußte ich auch heute Abend dieses Haus verlassen! Am neunzehnten März – von allen Abenden im Jahr am neunzehnten März!«

Sie rückten Alle enger an's Feuer. Parkes, der der Thüre am nächsten war, fuhr auf und sah über seine Schulter zurück. Herr Willet fragte in großer Entrüstung, was zum Teufel er damit meine – sagte dann: »Gott sey bei uns!« schaute gleichfalls über die Schulter und rückte ein wenig näher.

»Als ich heute Abend von hier fortging,« sagte Solomon Daisy, »dachte ich wenig daran, was wir heute für einen Monatstag hatten. Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich, nach Einbruch der Dunkelheit, nie an diesem Tage allein in die Kirche gegangen. Ich habe sagen hören, die Geister und todten Leute, welche keine Ruhe im Grabe haben, hielten ihre Sterbetage, wie die lebenden ihre Geburtstage feiern. – Wie der Wind heult!«

Niemand sprach. Alle Augen waren auf Solomon geheftet.

»Das schlechte Wetter hätte mir schon sagen können,« fuhr er fort, »was wir heute für einen Abend haben. Das ganze Jahr ist es nie so grauenhaft, als gerade in dieser Nacht. Am neunzehnten März habe ich nie in meinem Bette ruhig schlafen können.«

»Auch ich nicht,« sagte Cobb mit gedämpfter Stimme. »Macht weiter.«

Solomon Daisy erhob das Glas an seine Lippen, setzte es mit so zitternden Händen, daß der Löffel darin wie eine Glockenzunge bimmelte, auf den Boden nieder und fuhr also fort:

»Habe ich nicht stets gesagt, daß wir am neunzehnten dieses Monats immer in einer sonderbaren Weise auf diese Geschichte zurückgebracht würden? Glaubt Ihr, es sey Zufall gewesen, daß ich vergaß, die Kirchthurmuhr aufzuziehen? Habe ich es doch sonst nie vergessen, obgleich es eine unangenehme Geschichte ist, daß sie jeden Tag aufgezogen werden muß. Warum mußte es gerade vor allen Tagen heute mir entfallen?

Ich beeilte mich, als ich von hier wegging, so gut ich konnte; aber ich mußte zuerst nach Hause, um die Schlüssel zu holen, und da ich auf dem ganzen Wege Wind und Regen hinter mir her hatte, so durfte ich von Glück sagen, daß ich mich immer auf den Beinen erhalten konnte. Endlich ich die Kirche, öffnete die Thüre und ging hinein. Auf dem ganzen Weg hatte ich keine Seele angetroffen, und ihr mögt daher urtheilen, ob es ein kurzweiliges Geschäft war oder nicht. Keiner von euch hätte mir mögen Gesellschaft leisten, und würdet ihr erst gewußt haben, was kommen sollte, so hättet ihr auch ganz Recht dazu gehabt.

Der Wind war so stark, daß ich die Kirchthüre nur dadurch schließen konnte, daß ich das ganze Gewicht meines Körpers dagegen stemmte, und selbst da fuhr sie etlichemale mit solcher Gewalt zurück, daß Jeder von euch, wenn er sich dagegen gelehnt hätte, wie ich, darauf geschworen hätte, es sey Jemand auf der Außenseite, der hereindrücke. Ich drehte indeß den Schlüssel um, ging in den Thurm und zog die Uhr auf, die beinahe abgelaufen war und in der nächsten halben Stunde stockstill gestanden hätte.

Als ich meine Laterne wieder aufnahm, um die Kirche zu verlassen, überlief es mich mit einemmale eiskalt, daß heute der neunzehnte März sey. Der Gedanke kam mir so plötzlich, daß es mir war, als sey er mir mit der Faust vor die Stirne geschlagen worden. In demselben Augenblick hörte ich eine Stimme draußen, die gerade von den Gräbern herkam.«

Hier unterbrach der alte John plötzlich den Sprecher, indem er Herrn Parkes, der ihm gegenüber saß und unmittelbar über seinem Kopfe wegstierte, ersuchte, wenn er etwas sehe, so solle er so gut seyn, es zu sagen. Herr Parkes entschuldigte sich und versicherte, daß er blos zuhöre, worauf Herr Willet ärgerlich erwiederte, daß ein Zuhörer mit einem solchen Ausdruck im Gesicht nicht angenehm sey, und wenn er nicht wie andere Leute aussehen könne, so thue er besser, sich das Schnupftuch über den Kopf zu legen. Herr Parkes machte sich mit großer Unterwürfigkeit dazu anheischig, wenn es wieder verlangt würde, und John Willet wandte sich sofort mit der Aufforderung an Solomon, weiter zu machen. Nachdem man einen ungestümen Windstoß abgewartet hatte, der sogar dieses stattliche Haus in seinen Grundfesten zu erschüttern schien, entsprach der kleine Mann dem an ihn ergangenen Geheiße:

»Niemand sage mir, es sey blos Einbildung gewesen, oder ich habe einen andern Ton mit dem, von welchem ich jetzt erzählen will, verwechselt. Ich hörte den Wind durch die Gewölbe der Kirche pfeifen. Ich hörte, wie der Thurm sich dehnte und krachte. Ich hörte, wie der Regen gegen die Mauern schlug. Ich fühlte das Zittern der Glocken. Ich sah, wie die Seile hin und her schwangen, Ich hörte aber auch jene Stimme.«

»Und was sagte sie?« fragte Tom Cobb.

»Das weiß ich nicht; ich kann auch nicht sagen, daß sie sprach. Es war eine Art von Schrei, wie ihn etwa einer von uns ausstoßen würde, wenn uns etwas Schreckliches im Traume verfolgte und uns unversehens einholte. Es war, als ob es die Runde ganz um die Kirche machte, und dann erstarb es.«

»Ich sehe hierin nicht viel,« sagte John, tief aufathmend und umherschauend, wie ein Mann, der sich sehr erleichtert fühlt.

»Vielleicht nicht,« entgegnete sein Freund. »aber das ist noch nicht alles.«

»Und was soll denn noch weiter kommen?« fragte John, der eben mit der Schürze sein Gesicht abwischte und jetzt in diesem Geschäfte plötzlich inne hielt. »Was habt Ihr uns weiter zu erzählen?«

»Was ich gesehen habe.«

»Gesehen?« wiederholten alle drei, sich vorwärts beugend.

»Als ich die Kirchenthüre öffnete, um hinauszugehen,« fuhr der kleine Mann mit einem Gesichtsausdrucke fort, der hinreichend bekundete, daß er aus aufrichtiger Ueberzeugung sprach, »als ich die Kirchthüre öffnete, um hinauszugehen (ich that dieß plötzlich, denn ich wollte sie wieder zukriegen, ehe ein neuer Windstoß heranzöge), kam etwas an mir vorbei – so nahe, daß ich es mit dem ausgestreckten Finger hätte berühren können – etwas, das Aehnlichkeit mit einem Menschen hatte. Trotz des Unwetters hatte es keine Kopfbedeckung. Ohne einzuhalten wandte es sein Gesicht auf mich und heftete die Augen auf die meinigen. Es war ein Gespenst – ein Geist.«

»Wessen?« riefen alle drei zumal.

In dem Uebermaße seiner Aufregung (denn er sank behend in seinen Stuhl zurück und winkte mit der Hand, als bäte er sie, ihn nicht weiter zu fragen) ging seine Antwort für Alle verloren, den alten John Willet ausgenommen, der zufälligerweise dicht neben ihm seinen Platz hatte.

»Wer?« riefen Parkes und Tom Cobb, in gespannter Erwartung bald Solomon Daisy, bald Herrn Willet ansehend. »Wer war es?«

»Meine Herren,« sagte Herr Willet nach einer langen-Pause, »ihr braucht nicht zu fragen. Es war das Abbild eines Ermordeten. Heute ist der neunzehnte März.«

Es folgte nun ein tiefes Schweigen.

»Wenn ihr euch rathen lassen wollt,« fuhr John fort, »so thun wir sammt und sonders besser, das Geheimniß zu bewahren. Man würde solche Geschichten im Kaninchenhag nicht gerne hören. Wir wollen es daher jedenfalls vor der Hand für uns behalten; wir könnten sonst in Ungelegenheit gerathen und Solomon um seinen Platz kommen. Es handelt sich nicht darum, ob das, was er sagt, wahr ist, oder nicht; denn mag er Recht oder Unrecht haben, so wird ihm doch Niemand glauben. Was die Wahrscheinlichkeit anbelangt, so kann ich mir nicht denken,« sagte Herr Willet, indem er, wie einige andere Philosophen, alle Ecken des Zimmers in einer Weise durchspähte, welche zeigte, daß es ihm bei seiner Theorie doch nicht ganz wohl zu Muthe sey, »wie ein Geist, der zu seinen Lebzeiten ein verständiger Mann gewesen, in einem solchen Wetter ausgehen mag – wenigstens ich ließe es bleiben, wenn ich einer wäre; so viel ist gewiß.«

Diese ketzerische Ansicht wurde jedoch lebhaft von den drei Andern bekämpft, welche aus vielen Vorgängen bewiesen, daß ein schlechtes Wetter gerade die Zeit für solche Erscheinungen sey; und Herr Parkes, der selbst einen Geist in seiner Familie mütterlicher Seits gehabt hatte, behandelte die Sache mit solchem Scharfsinn und mit so überzeugendem Nachdruck, daß John nothwendig hätte widerrufen müssen, wenn ihm diese Schmach nicht durch die gelegentliche Erscheinung des Nachtessens erspart geblieben wäre, bei welchem sich Alle mit einem furchtbaren Appetite betheiligten. Sogar Solomon Daisy hatte sich unter den belebenden Einflüssen des Feuers, der Lichter, des Branntweins, und einer guten Gesellschaft so weit erholt, daß er Messer und Gabel höchst ruhmwürdig zu handhaben und ein solches Eß- und Trinktalent zu entwickeln vermochte, daß man nicht befürchten durfte, der ausgestandene Schrecken könnte ihm einen bleibenden Nachtheil gebracht haben.

Nachdem das Nachtessen versorgt war, drängten sie sich wieder um das Feuer und besprachen, wie es bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich zu geschehen pflegt, alles nur Erdenkliche, was die Geschichte mit neuen Schrecken und Ueberraschungen ausstatten konnte. Trotz dieser Versuchungen beharrte aber Solomon Daisy so steif und fest auf seinem ursprünglichen Berichte, wiederholte denselben so oft, mit ganz unbedeutenden Variationen, und beglaubigte die Wahrheit desselben mit so feierlichen Betheuerungen, daß seine Zuhörer (aus gutem Grunde) noch erstaunter waren, als im Anfang. Da er auf John Willet's Ansicht einging, daß es nämlich zweckmäßig sey, die Geschichte nicht weiter zu verbreiten, wenn ihm der Geist nicht wieder erscheine, in welchem Falle er sich natürlich unmittelbar bei einem Geistlichen Raths erholen müßte, so wurde feierlichst beschlossen, daß man die Sache vertuschen und für sich behalten wolle. Und da es den meisten Menschen angenehm ist, wenn sie sich im Besitze eines Geheimnisses wissen, das ihre eigene Bedeutsamkeit erhöhen könnte, so kam es mit vollkommener Einmüthigkeit zu diesem Beschluß.

Da es inzwischen spät geworden und die gewöhnliche Aufbruchsstunde längst vorbei war, so trennten sich die Gevattern für diese Nacht. Solomon Daisy versah sich mit einer neuen Kerze in seiner Laterne und begab sich unter dem Geleite des langen Parkes und des Herrn Cobb, die sich ein Bischen weniger fürchteten als er selbst, nach Hause. Nachdem Herr Willet sie nach der Thüre begleitet, kehrte er zurück, um unter dem Beistande des Kupferkessels seine Gedanken zu sammeln und auf das Unwetter zu horchen, welches bisher nicht um ein Haar von seiner Wuth abgelassen hatte.



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