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Achter Tag.

Fängt mit einer wundervollen Aussicht an. Die verborgene Burg. Ich gerate in die bairische Gemütlichkeit hinein und unterhalte mich mit Tieren. Einige dynastische Bedenken des Verfassers und ein Kapitel über die Menschenkenntnis der Kellner.

 

Früh am Morgen weckte mich der Wirt und schleppte mich trotz meines energischen Widerstrebens hinaus, damit ich den Sonnenaufgang und die herrliche Aussicht bewundern sollte. Ich bin dem Mann noch heute dankbar dafür, denn dieser Sonnenaufgang auf der großen Wasserkuppe war der schönste Augenblick meines Lebens, und ich werde ihn nie vergessen, besonders weil mich der Wind dabei um ein Haar von dem Aussichtsturm hinab und weit über Täler und Berge geweht hätte. Aber der Wirt kannte das schon, er ergriff mich grade noch zur rechten Zeit an dem Zipfel meiner Hose und zog mich wieder zurück, worauf er mir dann die ganze Gegend erklärte.

Eine rote, verschwommene Stelle im Osten das war die Sonne und die tiefroten, blauen und grauen Streifen in allen Himmelsrichtungen, das waren Wolken. Nie in meinem Leben habe ich so viele Wolken gesehen. Sie schienen ein Massenmeeting abzuhalten und stolperten ordentlich eine über die andere. Der Wirt erzählte mir, daß die Aussicht, die ich hier vor mir hatte, auf der ganzen Welt vergebens ihresgleichen suche. Er sprach in jenem überzeugenden Ton, den sonst nur Schauspieler und Leute haben, die etwas Auswendiggelerntes vortragen.

»Weithin bis Spessart, Taunus, Vogelsberg, Westerwald, Habichtswald, Knüll und Thüringer Wald schweift unser trunkenes Auge, bei günstigem Wetter reicht die Aussicht sogar bis zum Harz. Besonders malerisch gruppiert sich auch im Westen die kuppenreiche Rhön. Darum empfehlen Sie nur jedem Menschen bei mir zu logieren.«

»Kann man den Böhmerwald nicht sehen?« fragte ich, denn ich hätte gerne die Gelegenheit benutzt, einen Blick auf jenes romantische Gebirge zu werfen.

»Natürlich,« meinte der Wirt. »Aber die verdammten Wolken! Ist es meine Schuld, daß man immer wegen dieser verdammten Wolken von all den schönen Dingen, die vor uns liegen, überhaupt nichts sieht, daß ich sie nur aus der Phantasie schildern kann?«

Ich mußte dem Mann recht geben. Es ist nicht seine Schuld, daß sich vor jede schöne Aussicht die bösen Wolken vorlagern. Das geht uns bei allen Dingen so, es gibt eben kein vollkommenes Glück auf dieser Welt. Darum ist die schönste Frau stets mit einem andern verheiratet, und der korpulenteste Bauer erntet manchmal die dünnsten Kartoffeln.

Aber ich fragte den Wirt, ob er denn wirklich schon einmal alle diese Dinge gesehen habe, von denen er mir erzählte, worauf er sich etwas verlegen den Kopf kratzte.

»Ja, das ist so eine Sache!« meinte er. »Im Winter, da soll es ja hier sehr klar sein, man sieht bis nach Dänemark, aber bei der Kälte hält es dann kein Mensch auf der Wasserkuppe aus, dann ist hier alles geschlossen. Und im Sommer, bei der ewigen Feuchtigkeit, die sich beständig in der Luft ansammelt, da können Sie doch nicht auch noch Aussicht verlangen. Dafür haben Sie ja dann das herrliche Wolkenpanorama.«

In diesem Augenblick wehte mir ein Windstoß meinen schönen Lodenhut vom Kopfe, und ich sah ihn als einen kleinen, schwarzen Punkt hoch über den Schwarzwald und die Alpen davonfliegen. Der Wirt aber nickte befriedigt. Er nahm mich wieder mit in die Gaststube und verkaufte mir beim Frühstück einen neuen Hut. Ich entdeckte, daß er einen ganzen Laden in Reiseartikeln besaß, und er sagte, bei dem starken Wind flögen hier jeden Tag Hüte, Rucksäcke und Wanderstäbe davon. Das wäre aber auch das einzige, was ihn auf diesem hohen Punkte hielte, von dem Hotelbetrieb allein könne er nicht leben. Darum führe er auch morgens die Gäste immer selbst auf den Aussichtsturm hinauf.

Ich verabschiedete mich von dem Mann und wanderte fröhlich von dannen, nachdem ich noch flüchtig einen Punkt besichtigt hatte, der auf der Karte als Fulda Ursprung bezeichnet war. Aber ich bestreite entschieden, daß der bekannte Schriftsteller von hier entsprungen ist. Noch nicht mal Schiller würde eine so wüste Gegend als Geburtsort gewählt haben. Und daß die große Stadt Fulda mit Dom und Fluß, mit Eisenbahnstation und Brücken jemals auf diesem Berge gestanden hat, das kann mir auch der phantasievollste Geologe nicht weismachen. Aber schön ist so ein Punkt doch, und man hat sogar hier eine kleine Quelle angelegt und sie hübsch mit Anlagen und Basaltblöcken umgeben.

In der Gegend von Wüstensachsen sollte eine alte Burg liegen, von der ich schon soviel gehört hatte, daß ich förmlich darauf brannte, sie zu besichtigen. Alle, die mir davon erzählten, rühmten ihr Alter, ihre Schönheit und ihre idyllische Lage mitten in einem tiefen Walde. Aber sie sei schwer zu finden, sagten sie, und in der Tat war keiner von ihren Bewunderern jemals so glücklich gewesen, sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Selbst der Wirt zum schwarzen Moor, den ich nach dem Wege fragte, schüttelte sein greises Haupt.

»Sie ist der Stolz der ganzen Gegend,« sagte er. »Sie hat drei Sterne im Baedeker. Aber sie liegt zu verborgen. Vor kurzem wollte der Rhönklub einen Weg dahin anlegen mit blau und roter Wegmarkierung, aber die ältesten Leute aus unserm Dorf wußten nicht mehr, wo sie lag. Früher gab es hier noch einen achtzigjährigen Schäfer, der in seiner Jugend einmal die Burg erstiegen hat. Er erzählte Wunderdinge von ihr, aber auch er gab zu, daß er nur dem Zufall ihre Entdeckung verdankte. Denn er war an dem Tage auf der Kirchweih gewesen und so angeheitert, daß er überhaupt nicht mehr wußte, wo er hinging. Noch halb betrunken fand man ihn am nächsten Morgen im Gehölz, und als er wieder nüchtern wurde, erzählte er die seltsamen Erlebnisse, die er in dieser merkwürdigen Burg gehabt hatte.

Zuerst lachten natürlich alle, die ihn kannten, darüber, weil sie glaubten, er habe das nur geträumt, und weil in dem ganzen Gehölz sich kein Dachziegel, viel weniger eine Burg verstecken konnte. Aber der Schullehrer schrieb schleunigst die Geschichte an die Regierung, die sofort eine Gelehrtenkommission zur Untersuchung ernannte, wobei herauskam, daß diese Burg schon einmal in einer alten Handschrift genannt worden ist. Ein Professor hat nach jahrelangem Forschen in alten Archiven sogar eine genaue Abbildung mit Grundriß geliefert, und ein berühmter Architekt, namens Bodo Ebhard ist bereits vom Staate beauftragt, sie der Neuzeit entsprechend zu renovieren.«

Jetzt bei diesen Worten des Wirtes erinnerte ich mich nun auch, daß ich ja selbst über diese berühmte Burg schon in den Zeitungen gelesen hatte. Eine gesinnungslose Presse war natürlich über das Renovierungsprojekt der Regierung hergefallen unter dem schnöden Vorwand, diese alte Burg sei ein Wahrzeichen des deutschen Altertums und müsse in der ursprünglichen Form erhalten bleiben. Ja, man wollte sogar zum Protest in den Burgruinen eine Versammlung abhalten, was aber die Regierung glücklicherweise verbot! Und das Beschämendste war, es fanden sich sogar Professoren, die den dreieckigen Turm, den Bodo Ebhard errichten wollte, als unhistorisch bezeichneten.

»Wann wird denn mit dem Bau angefangen?« fragte ich den Wirt.

»Das Geld hat der Landtag längst bewilligt, und Bodo Ebhard ist auch schon mit verschiedenen Kunsthistorikern hier gewesen. Sogar eine Fuhre Basaltblöcke für den dreieckigen Turm haben sie jetzt abgeladen. Nur die Burg finden sie noch immer nicht, sie liegt eben zu versteckt. Drei Untersuchungskommissionen sind schon im schwarzen Moor stecken geblieben.«

»Ja, aber sie muß doch zu finden sein!«

»Es ist ein Rätsel,« meinte der Wirt. »Jeden Stein haben wir schon umgedreht, jeden Maulwurfshügel abgetragen, von der Burg ist keine Spur zu sehen. Aber wenn wir sie finden –« fuhr der alte Mann mit erhöhter Stimme fort – »dann sollen Sie einmal sehen, wie wir drauflos renovieren. Ich habe mein Patent als Kastellan in der Tasche, und der Landrat hat sogar schon eine Burgordnung entworfen!«

»Ja, dann wird gebaut!« stimmte ich ihm begeistert zu. »Man muß dieser oppositionellen Kunstrichtung einmal beweisen, daß in Geschmacksfragen gottseidank nur die Regierung entscheidet.«

Darauf wanderte ich weiter. Ich hatte zwar diese berühmte Burg mit den drei Sternen im Baedeker nicht gesehen, aber meine vaterländische Gesinnung war hoch befriedigt.

In dem alten bayrischen Städtchen Fladungen aß ich zu Mittag und erlabte mich so recht von Herzen an der urbayrischen Gemütlichkeit. Es war ein kleiner Gasthof, in dem ich eingekehrt war, die ganze Familie speiste mit mir an einem Tische, und offenbar kam hier ein fremder Gast nur sehr selten vor, denn die sieben Kinder des Wirtes verfolgten mit den Augen jeden Bissen, den ich in den Mund führte. Sie betrachteten mich ohne Zweifel als einen sehr unerwünschten Eindringling in ihre Eßgemeinschaft, und ich werde nie den vorwurfsvollen Ton vergessen, mit dem ein fünfjähriger Knirps auf einmal sagte: »Jetzt ißt er uns auch noch die letzte Birne!« Daß ich auch noch etwas von ihrem schönen Kompott abbekam, das war offenbar der Gipfel meiner Frechheit.

Armer, kleiner Junge, wie oft werden sich noch in deinem späteren Leben Leute an deinen Tisch setzen, an deinen Tisch, den du doch ganz allein für dich gedeckt hast, und sie werden dir die besten Bissen vor der Nase wegessen. Wie viele Ideale wirst du noch an den dürren Baum des Lebens aufhängen müssen, bis du es gelernt hast, deinen Platz an der großen Krippe der Welt für dich selber zu bewahren und mit Zähnen und Klauen die andern Wölfe abzuwehren.

Doch was brauche ich um dich große Angst zu haben! Freilich, jetzt da du klein und zart bist und von blauen Fernen und schönen Dingen träumst, jetzt hacken sie alle auf dich los und quälen und verhöhnen dich. Aber du wirst es schon lernen, klug und gemein zu werden, wie wir Große es alle sind. Denn du bist von jener gesunden Rasse mit starken Kinnbacken und dicken Waden, die schnell aus der törichten, hilflosen Kinderzeit herauswächst, und auf deinem dicken Schädel seh ich schon deinen späteren Wahlspruch eingegraben: Frechheit siegt!

Ja, bei diesen biederen Leuten merkte ich, daß ich mich mitten in der bayrischen Gemütlichkeit befand. Schon vor dem Essen hatte ich aus zahlreichen Spuren am Boden ersehen, daß man in diesem Hause das große und kleine Vieh, welches zum landwirtschaftlichen Betrieb so nützlich ist, durchaus nicht etwa in dumpfe und abgelegene Ställe einschloß. Im Gegenteil, Schafe und Kühe, Hühner und Schweine schienen sich in dieser Gast- und Wohnstube wohlzufühlen, und was daher hier und dort im Zimmer umher lag, zeugte von ihrer erfolgreichen Verdauungstätigkeit.

Man hatte sie auch wohl nur in Rücksicht auf den fremden Gast zeitweilig hinausgejagt und jetzt, nachdem der Hausvater das Tischgebet gesprochen, kamen sie alle wieder herein und beseitigten auf primitive, aber gründliche Weise alles, was sich noch an Knochen und Gemüseresten in Töpfen und Tellern befand. Ich genoß so ein lebendiges Bild von den glücklichen Zuständen, bei denen sich unsere Vorfahren Jahrhunderte lang äußerst wohl befanden und eine gesunde und langlebige Rasse blieben, bis der Fluch der modernen Bildung mit Seife und Bazillenangst alledem ein Ende machte.

Aber was ich schon bei den Kindern des Wirtes bemerkte, das schien auch bei diesem nützlichen Vieh der Fall zu sein – auch die Tiere hatten entschieden ein Vorurteil gegen mich. Jedesmal, wenn sie an einen Teller kamen, der leer war, sahen sie mich dabei feindselig an, als ob ich ihn ausgegessen hätte, und der Wirt mußte sich alle Mühe geben, mich bei ihnen zu entschuldigen. Er sagte, ich sei nun einmal ein Fremder und aus einer wilden Gegend, ich wäre ja schon genug gestraft, weil ich jetzt bald wieder das schöne, gemütliche Fladungen verlassen müßte. Auf solche arme Reisenden müsse selbst ein Tier Rücksicht nehmen.

Ein alter Ziegenbock begann dann als der erste, gegen mich etwas höflicher zu werden, und er ließ sich sogar in ein Gespräch mit mir ein. Ich gehöre zu den primitiven Menschen, die den Zusammenhang mit der Natur noch nicht so weit verloren haben, daß sie die Sprache der Tiere nicht mehr verstehn. Ein anderer hätte aus dem Munde des Ziegenbocks nur ein undeutliches Geblöke gehört, ich aber verstand genau, was er sagte. Er erkundigte sich nach den Verhältnissen in meiner Heimat, und wie viele Ziegen zu meiner Familie gehörten. Schließlich fragte er mich, ob ich ihm nicht etwas Bartwichse als Andenken schenken könnte. Vor drei Jahren sei auch einmal ein Fremder durch Fladungen gekommen, der habe ihm eine Tube ungarische Bartwichse verehrt, die aber jetzt leider gänzlich verbraucht sei.

»Sie können sich gar nicht denken,« sagte der Ziegenbock, »welch ein Aufsehen ich hier in der Gegend erregte. Die Bauern sahen mir stundenlang zu, wie ich durch das Dorf spazierte, und der Bürgermeister nahm vor mir den Hut ab.«

Ich war untröstlich, weil ich keine Bartwichse bei mir hatte, aber ich fühlte, daß ich etwas für meine Popularität tun müßte. »Vielleicht darf ich Ihnen meine Schnurrbartbinde anbieten!« sagte ich zu dem Ziegenbock. »Marke: deutscher Kaiser! Sie werden staunen, welchen eleganten Schnurrbart Sie bekommen.«

Ich habe selten einen so verständigen Ziegenbock getroffen. Er begriff sofort die Vorzüge der deutschen Barttracht und schimpfte auf die Engländer, die, wie er sich ausdrückte, mit einer abgenutzten Zahnbürste unter der Nase herumliefen. Und die Binde stand ihm großartig. Er erregte den Neid sämtlicher andern Tiere, und als er sich erst in einem alten Spiegelscherben betrachtet hatte, war er nicht mehr zu halten. Mit der deutschen Kaiserbinde im Gesicht setzte er eleganten Sprungs durch das offene Fenster ins Freie.

»Der kommt vor Abend nicht wieder!« sagte der Wirt. »Der sonnt sich heute in der allgemeinen Bewunderung.« Und ich sah dem Wirt an, wie sehr er auf seinen Ziegenbock stolz war.

Es trat jetzt überhaupt ein vollständiger Umschwung in der allgemeinen Stimmung mir gegenüber ein. Ein alter Masteber versicherte mich seiner Freundschaft, und schlug mir vor, wenn ich in Fladungen bleiben wollte, bei ihm zu logieren. Eine braune Kuh, die mich bisher immer etwas spöttisch von oben herab angesehen hatte, drückte mich an ihre Brust und sagte, sie sei sonst nicht eitel, aber ich sollte ihr doch auch eine Schnurrbartbinde schenken. Sie wäre überzeugt, eine Schnurrbartbinde würde auch sie vorzüglich kleiden. Und dann klagte sie, daß ihr schon lange etwas fehle, kein Ochse verstände sie ganz, nur die deutsche Barttracht könne ihr helfen. Die arme Kuh war untröstlich, als ich ihr sagte, ich hätte wirklich keine zweite mehr bei mir, und ich mußte ihr das große Ehrenwort geben, daß ich sie auch nicht belöge. Aber ich versprach, einen Reisenden in Friseurartikeln in die Gegend zu schicken, der würde schon dafür sorgen, daß in ganz Fladungen keine Kuh und kein Schwein mehr diesen schönen Schmuck zu entbehren brauchte.

Übrigens mußte ich jetzt energisch an meinen Aufbruch denken, denn die Tiere interessierten sich all zu sehr für den Inhalt meiner Reisetasche, und eine Gans hatte bereits Besitz von meiner Zahnbürste ergriffen, mit der sie sich den Schnabel putzte. Sie hielt die Zahnbürste krampfhaft in ihrer rechten Pfote fest, und keine Macht der Erde hätte sie veranlassen können, sie wieder herzugeben. Es tat mir ja eigentlich leid um die schöne Zahnbürste, ich besaß sie schon Jahre lang, und sie war noch wie neu. Aber ich konnte schließlich froh sein, daß ich eine Büchse Pomade, mit der ich täglich meinen schönen Scheitel erziele, mit genauer Not vor ihnen rettete, und ich dankte Gott, als ich glücklich und ohne weitere Umarmungen draußen war. Die echt bayrische Gemütlichkeit ist besonders für uns arme, ewig geschuhriegelte Preußen etwas Köstliches, aber man darf nicht zu viel davon genießen.

Ich verließ den Ort mit dem Gefühl, hier etwas für die Kultur getan zu haben, und sah noch beim Weiterwandern, wie der Ziegenbock langsam und würdig über den Marktplatz spazierte, während der Bürgermeister ordentlich stolz auf das Tier hinwies, als wollte er sagen: ›Seht, so was gibt es nur in unserer Gegend!‹

Die Landschaft zwischen Rhön und Thüringer Wald ist reich an Naturschönheiten, und man müßte schon ein gänzlich gefühlloser Mensch sein, um nicht davon ergriffen zu werden. Aber eins ist dabei doch sehr unbequem, man weiß nämlich nie, in welchem Vaterland man sich eigentlich befindet. Jede halbe Stunde überschreitet man eine neue Grenze, und wenn man soeben noch als freier Preuße von kriegerischen Eroberungen geträumt und in militärischer Haltung einen Gendarmen gegrüßt hat, dann stolpert man im nächsten Augenblick schon über die blauweißen Pfähle und läßt die Poesie des Münchener Bieres so lange in sich hineinfließen, bis einem das Bierherz durch den Magen schwimmt, und man jeden zum Krüppel schlägt, der nicht gemütlich und fidel auf die Saupreußen schimpft. Aber dann kommt auch schon eine Chaussee, die in der Mitte des Fahrdamms großherzoglich-sachsen-weimar-eisenachisch und rechts herzoglich-sachsen-meiningisch ist, während die linke Seite gar zu einem Fürstentum gehört, das eigentlich gar nicht mehr existiert, weil dessen Großherzöge schon im vorigen Jahrhundert am Malariafieber ausgestorben sind. Und so weiß ein loyaler deutscher Untertan niemals, ob er vorschriftsmäßig für das Meininger Hoftheater, für den Weimarer Göterummel, oder in dem ausgestorbenen Fürstentum für den Zauber einer roten Republik schwärmen soll.

Jedenfalls hatte ich auf diesem Wege tiefe dynastische Bedenken, und ich möchte mir zur Abhilfe den Vorschlag erlauben (natürlich submissest), die deutschen Fürsten sollten doch die ganzen Grenzen zusammenwerfen und das Geschäft gemeinsam betreiben, vielleicht in der Art, daß immer einer nach dem andern ein Jahr regiert, was für uns Untertanen insofern bequemer ist, da wir dann stets genau wissen, ob wir heuer den preußischen Parademarsch üben oder uns einen bayrischen Bierbauch anschnallen sollen, ob wir unsere Reden im Kriegerverein sanft im schwäbischen Dialekt oder kernig mit westfälischen Flüchen halten sollen. Kurz: ich stelle diese vernünftige Idee hiermit zur öffentlichen Diskussion. Eine Petition an den Reichstag lasse ich in Bälde abgehen und bemerke nur noch, daß die Reihenfolge des Regierens am besten ausgeknobelt würde.

Es war schon spät am Nachmittag, als ich auf der großen Geba anlangte, die vom Meeresspiegel bis zum Scheitel genau 751 Meter und 80 Zentimeter hoch ist. Früher maß sie nämlich 752 Meter, aber ich habe mir erlaubt, von dem höchsten Gipfel ein kleines Stück abzuschlagen. Es tut mir leid, wenn die Geographen und die Verfasser von Fremdenbüchern dadurch unnötige Arbeit bekommen, indem sie nunmehr ihre Bücher umschreiben müssen, doch ich kann mich daran nicht stören, ich will auch mein Vergnügen haben.

Mitten auf der großen Geba befindet sich ein Berghaus und Restaurant, was mich sehr interessierte, und während draußen drei Dutzend überspannter Touristen und Touristinnen das Panorama genossen, saß ich drinnen bei einem Glase Wein (denn was sind für mich 751,80 Meter Höhe) und führte mit dem Kellner ein gebildetes Gespräch.

Neben Friseuren, Offizieren und Hotelportiers sind es immer die Kellner gewesen, die mir durch ihre vornehme und herablassende Haltung imponierten, mit der sie ihre gehobene Lebensstellung zur Geltung brachten. Mir ist es ja auch schon hier und da gelungen, durch meine geistige Überlegenheit zu imponieren – kein Mensch ahnt, mit wie wenig Frechheit, Dummheit oder ähnlichen Eigenschaften man auf diesem Gebiete die großartigsten Erfolge erringt – aber einen Kellner habe ich noch nie über die Hohlheit meines inneren Menschen hinweggetäuscht.

Ich brauche nur in ein Restaurant einzutreten, ich habe die Türe noch nicht hinter mir zufallen lassen, und schon fühle ich mich von sämtlichen Kellnern, vom Herrn Ober bis zum jüngsten Pikkolo, durchschaut. Sie sehen gar nicht nach mir hin, diese ausgezeichneten Menschenkenner, sie haben das auch nicht nötig, und wenn ich auf der Straße noch so stolz und hochmütig meine Brust herausgereckt habe, hier knicke ich zusammen, ich bin entlarvt und gerichtet und trage schwer an der mitleidigen Verachtung, mit der man mich auf meinen wahren Unwert zusammendrückt. Es gibt ja Leute, die es durch mühselige Übung so weit gebracht haben, daß man es ihnen nicht ansieht, wie die Gegenwart des Kellners auf ihnen lastet. Sie stecken wie die Strauße ihren Kopf in den Sand der Speisekarte oder einer Zeitung hinein, oder sie täuschen sich durch eine laute Unterhaltung über das durchbohrende Gefühl ihrer Nichtigkeit hinweg. Aber der Kellner lächelt nur mit dem feinen Lächeln des überlegenen Psychologen, der auch diese komischen Versuche schon so oft bemerkt und nach Gebühr taxiert hat.

Der Kellner ist unbestechlich. Du magst ihm zu Liebe dich noch so elegant kleiden, er sieht schon an deiner ganzen Haltung, daß du kein richtiger Kavalier bist. Du magst die größten Trinkgelder geben, er weiß, daß du es nur aus Furcht vor ihm tust; er steckt das Geld ein und verachtet dich um so mehr. Du kannst dich sogar dazu aufschwingen, gegen ihn grob zu werden, ach, du Ärmster – er wirft dir einen einzigen Blick zu, mit dem der Gentleman den Wilden zähmt, und du wirst drei Tage lang das beschämende Gefühl nicht mehr los, eine gesellschaftlich unmögliche Person zu sein.

Geh in ein Pariser oder Londoner Hotel, wo dich ein deutscher Kellner bedient, besten französische oder englische Sprachkenntnisse aus drei gänzlich mißverstandenen Worten bestehen. Du aber hast dich vielleicht Jahre lang im Auslande aufgehalten, deine Shakespeare- oder Moliereforschungen mögen als klassisch von der internationalen Wissenschaft anerkannt sein, und doch ist es das erste, was der Kellner tut, daß er deine Aussprache verbessert. Er tut es in einem Tone, der dich tief beschämt, der den letzten Rest deiner Geisteskräfte lähmt, so daß du dem Manne dankbar bist, der sich so liebenswürdig herabläßt, dir zu helfen. Er hat ja aus dem Fremdenbuch ersehen, daß du ein Deutscher bist, und wenn er auch in seiner Heimat nur besonderen Günstlingen Unterricht in der Lebensführung und Weltweisheit gibt, hier in London oder Paris fühlt er sich als Repräsentant der deutschen Kultur und wacht ängstlich darüber, daß du dir keine zu schlimmen Blößen gibst. Er zeigt dir, wie man im Auslande ein Fischmesser benutzt und wie man hier Austern schlürft, er ruft einen Kollegen herbei, damit der sich auch über deine Ungeschicklichkeit amüsiert, und zum Abschied erhältst du von beiden den wohlgemeinten Rat, doch auf dem schleunigsten Wege in die Heimat zurückzukehren, denn hier draußen könne man solche naiven Grünhörner wirklich nicht gebrauchen. Wenn du klug bist, mein lieber Freund, dann folgst du auch diesem Rat, denn das quälende Gefühl deiner absoluten Hilflosigkeit wird dich von jetzt ab doch nicht mehr verlassen.

Natürlich beneidet uns die ganze Welt um unsere Kellner, und das bekannte Wort Bismarcks: ›Die Franzosen mögen anstellen was sie wollen, aber unsere Leutnants und unsere Kellner können sie uns nicht nachmachen!‹ – hat noch heute seine Gültigkeit. Für die Wertschätzung, die die deutschen Kellner im Auslande genießen, spricht auch die Tatsache, daß heute jeder Engländer fest davon überzeugt ist, im Falle eines Krieges mit Deutschland würden die 50 000 deutschen Kellner, die in London leben, sofort diese Stadt besetzen und eine provisorische Regierung einrichten, bis der Kaiser mit der übrigen Invasionsarmee heranrückt, um sich im Savoyhotel krönen zu lasten.

Wer meine Hochachtung vor dem Kellnerstande kennt, der wird auch meinen Stolz begreifen, als mir hier auf der großen Geba der Kellner versicherte, ich sei der erste vernünftige Tourist, der ihm hier oben vorgekommen sei.

»Sie haben keine Ahnung,« meinte er, »mit welcher Menschenverachtung man erfüllt wird, wenn man so täglich diese Leute sieht, die in Herden heraufkommen und kaum was verzehren, während sie sich dabei anstellen, als ob sie die Aussicht bewunderten. Sie, mein Freund, sind wenigstens sofort ins Restaurant gekommen, man merkt, daß Sie auf die Pflege Ihres Magens Wert legen, da hat das Reisen noch einen Zweck. Sie können mir glauben, verehrter Herr, ich bin ein Menschenkenner, und es gibt sonst kein Ding auf der Welt, was ich nicht sofort durchschaue. Aber warum Leute nach Venedig reisen, um die Rinaldobrücke zu besichtigen, oder nach München, um sich in der Gemäldegallerie ein Zimmer im Rokrokodilstil oder Lena mit dem Schwan anzusehen, warum sie schließlich hier heraufklettern, da sie doch totsicher wieder hinunter müssen, das geht selbst über meinen Horizont. Denn Geld verdienen können sie mit dem ganzen Reisen überhaupt nicht.«

Ich erlaubte mir, diesem Kellner die Hand zu drücken, was er lächelnd zuließ. »Schade,« sagte er, als ich mich von ihm verabschiedete. »Warum sind Sie kein Kellner geworden? Sie haben solche vernünftige Ansichten, Sie hätten es zu was gebracht. Aber jetzt ist es freilich zu spät, so was lernt man in Ihrem Alter nicht mehr.«

Er begleitete mich zur Türe und klopfte mir dort noch einmal auf die Schultern. Aber erst draußen im Freien fiel mir ein, daß er ja vergessen hatte, mir auf mein Zwanzigmarkstück wieder herauszugeben. Sollte ich wieder umkehren? Nein, das wagte ich nicht. Ich hatte einen so guten Eindruck auf den Mann gemacht, wäre ich noch einmal hineingegangen, er hätte mich doch schließlich für einen von den vielen kleinlichen Dutzendmenschen gehalten. So wanderte ich also weiter und tröstete mich mit dem Gedanken, daß die Hochachtung eines Kellners mit zwanzig Mark nicht zu teuer bezahlt ist.

Von der großen Geba geht es auf die kleine Geba, auf der aber auch absolut nichts los ist, weshalb ich die Anlegung dieses Berges durch den Rhönklub für verfehlt und für eine einfache Geldverschwendung halte. Man geht überhaupt mit dem Ankarren von Bergen und dem Errichten von Aussichtspunkten ganz verkehrt vor. Während man in vielen Gegenden Norddeutschlands tagelang wandern kann, ohne dem geringsten Hügel oder Weinberg zu begegnen – die preußischen Landräte könnten eigentlich in dieser Beziehung auch etwas tun – scheint man zum Beispiel in Thüringen sich seit Jahrhunderten mit nichts anderem befaßt zu haben, als einen Berg neben dem andern anzulegen, sodaß hier in dieser Branche jetzt eine riesige Überproduktion herrscht.

Worauf ich abends um neun Uhr todmüde in der Haupt- und Residenzstadt Meiningen ankam.


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