Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der schiefe Turm von Dausenau. Quer durch den letzten, deutschen Urwald, oder wie die Sonne im Norden stand. Ein Kapitel über die Burgführer. Die Geschichte vom boshaften Türschloß, die besonders auch Hundefänger interessieren wird.
Man soll nicht alles erzählen, was man auf der Reise erlebt. Manches ist nicht interessant genug für das große Publikum, manches aber erregt Anstoß bei empfindsam veranlagten Menschen. Und man weiß nie, was Anstoß erregt und was Leuten, die es gewohnt sind, bei jungen Wirtinnen einzukehren, als abgestandenes Zeug erscheint. Jedenfalls nahm ich am nächsten Morgen von meiner jungen Wirtin einen recht gerührten Abschied, und als ich draußen auf der Dorfstraße stand, da fühlte ich, daß ich ein Stück meines Herzens bei ihr gelassen hatte.
Aber gottseidank, mein Herz ist groß, und ich habe schon manches Stück verloren, ohne daß es mir irgend etwas geschadet hat. Während ich also Dausenau verließ, zählte ich noch einmal die Wirtshäuser an der Lahn. Dabei entdeckte ich zwei neue, die ich merkwürdigerweise gestern ganz übersehen hatte, vielleicht waren sie über Nacht erst angelangt. Zuerst wollte ich auch in diesen letzten beiden einkehren – der Vollständigkeit halber, aber glücklicherweise unterließ ich es denn doch zum Schluß, ich hätte sonst leicht noch einmal die ganze Rundreise von vorne begonnen.
Ganz am Ausgang des Dorfes aber stieß ich auf eine Sehenswürdigkeit, die in Deutschland noch viel zu wenig bekannt ist. Ich meine den schiefen Turm von Dausenau, den ich am Abend vorher in meiner Bierstimmung für grade angesehen hatte, und der im übrigen im Jahre 1348 von Karl IV. errichtet wurde. In jener fernen Zeit des Altertums müssen die Leute in Deutschland rein gar nichts zu tun gehabt haben, denn überall, wo man hinkommt, haben sie alte Burgruinen, Aussichtstürme und dergleichen aufgebaut, so daß das Reisen, weil man doch alles gesehen haben muß, sehr beschwerlich wird. Dieser schiefe Turm sah im allgemeinen ganz imponierend aus, nur in einer Art gefiel er mir nicht. Kaum war ich nämlich oben, da fing es auch schon an zu regnen, und ein Mann spannte unten seinen Regenschirm auf. Aber ich war der Situation vollständig gewachsen, ich dichtete sofort den Schüttelreim:
»Wenn's regnet, steig auf schiefe Türme,
Dann siehst du in der Tiefe Schirme!«
und verließ stolz das Lokal, worauf sich das Wetter bald wieder aufheiterte.
Die Lahn ist ein schöner Fluß, aber sie hat zu viele Windungen, und man weiß nie, ob man sich auf dem linken oder auf dem rechten Ufer befindet. Stundenlang kann man die unglaublichsten Wege gehen, aber ein Blick auf die Landkarte zeigt einem, daß man sich noch genau auf demselben braunmarkierten Fleck befindet.
Überhaupt die Landkarten – haben Sie schon einmal einen Menschen gesehen, der sich darauf zurecht findet? Ich nicht. Schon auf der Schule hatte ich einen leidenschaftlichen Haß gegen diese buntgefärbten Karten, von denen ich heute noch nicht einsehe, warum es Leute gibt, die sie als Zimmerschmuck verwenden. Es gab zwar in meiner Jugend überhaupt keinen Unterrichtsgegenstand, bei dem meine Lehrer mir nicht versicherten, ich sei der Nagel zu ihrem Sarge – einer schrieb es mir sogar ins Zeugnis – aber mein Geographielehrer behauptete es sogar noch lange nach seinem Tode, und ich will dem Mann wenigstens in diesem Punkte nicht unbedingt Unrecht geben.
In der letzten Zeit haben sich meine geographischen Kenntnisse übrigens etwas gebessert, hauptsächlich durch die vielen Vulkanausbrüche, Kriege und Aufstände, die vorgekommen sind. Ich glaube, daß alle diese Naturereignisse von den verschiedenen Regierungen ausdrücklich dazu arrangiert werden, daß die Leute, die davon lesen, mehr Geographie in den Leib bekommen. Die Sorgfalt, mit der man jedesmal einen anderen Punkt der Erde auswählt, ist anerkennenswert, und so weiß denn jetzt jeder Bauer in Asien und in Afrika besser Bescheid als in dem eigenen Dorf, in dem er aufgewachsen ist.
In Oberndorf an der Lahn fragte ich einen Wirt, bei dem ich eine gute Flasche Wein getrunken hatte, nach einem Wege über die Berge bis Balduinstein, und er erklärte mir einen, der über den berühmten Götepunkt führte. Göte muß ein furchtbar vielseitiger Mensch gewesen sein, nach all den Götehäusern, Götebünden und Götearchiven zu urteilen, die er gegründet hat. Aber die Götepunkte wenigstens hätte er sollen links liegen lassen, denn wenn Sie glauben, daß er nur aus harmloser Poeteneitelkeit jeden vorspringenden und unersteiglichen Felsen rechts und links von der Lahn erklettert hat, um dort seine Flagge aufzuhissen und den Punkt nach seinem Namen zu benennen, dann kennen Sie Göten schlecht. Der Mann mag sich ja wohl etwas darauf eingebildet haben und an die Reklame für seine jetzt mit Recht veralteten Bücher gedacht haben, aber in der Hauptsache war es pure Bosheit von ihm, und ich möchte wissen, wie viele Beinbrüche unschuldiger Touristen auf das Konto dieses noch immer von einzelnen hochgeschätzten Dichters zu setzen sind.
Doch ich sollte Glück haben und den berühmten Götepunkt nie erreichen, denn der Wirt sagte mir, ich könnte auch dahin einen Fußweg durch den Wald einschlagen und dadurch ein großes Stück abschneiden. Ich hatte meine Bedenken gegen seinen Vorschlag, ich weiß aus vielen Erfahrungen, was mir passiert, wenn ich einen Weg abschneide. Aber der Wirt zeigte mir alles so genau auf meiner Karte, und es war so einfach, daß ich mich schämte, dem guten Mann nicht zu glauben, und ich tat ihm seinen Willen.
Ach, es war wirklich ein schöner Weg, voll tiefer Stille und Waldesfrieden, und ich denke, heute noch mit verklärten Augen an ihn zurück. Aber mit einem Male hörte er plötzlich auf, irgend jemand hatte die Fortsetzung abgehackt, gestohlen und vielleicht anderswo verwendet. Jedenfalls versank ich, nachdem ich zunächst meine Person auf einem Kartoffelacker mit einem Zentner Lehmboden beschwert hatte, in einem geologisch vielleicht ganz interessanten Moor und rettete mich schließlich in ein schwarzes Walddickicht hinein. Passieren konnte mir ja nichts, denn ein Blick auf die Karte zeigte mir, daß ich während der ganzen Zeit stets über einen 300 Meter hohen, kahlen Granitfelsen gewandert war, und darum handelte es sich auch bei dem Dickicht, das ich jetzt durchschritt, sicher nur um einen schmalen Streifen.
Lieber Leser, sind Sie schon einmal in Ihrem Leben unversehens in einen Urwald hineingeraten? Sie sagen nein, Sie lassen sich ja auch von den sogenannten Wissenschaftlern vorschwindeln, so was gäbe es in Deutschland nicht mehr. Aber jedenfalls – das erfuhr ich heute – ein Stück von solch einem Urwald mußte sich jedenfalls irgendwie vor dem zerstörenden Einfluß der Kultur gerettet haben und lag nun hier unbekannt und unerforscht in seiner ganzen ursprünglichen Wildheit da. In diesem Stück Urwald steckte ich mitten drin.
Ich weiß es noch ganz gut. Harmlos fing es an mit haushohen Farnen und Schlinggewächsen, mit seltsamen großen Mistkäfern, die mich erstaunt anstarrten, denn sie hatten noch nie einen Menschen gesehen. Dann aber kamen Riesenbestien, die sonst überall seit der Eiszeit ausgestorben sind, Mastodonte, deren Fußstapfen allein einen Morgen im Umfang maßen, Mammuthtiere mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen, und sogar das berühmte, furchtbare Einhorn, welches sonst nur noch in drei ausgestopften Exemplaren im amerikanischen Barnummuseum vorkommt. Kurz, es war einmal ganz was anderes.
Ich schlug natürlich tot, was mir in den Weg kam, ich mußte ja diesen unkultivierten Bestien zeigen, daß jetzt ein Kulturmensch erschienen war. Aber leider konnte ich sonst nichts für die Wissenschaft tun und keine Leichen mitnehmen, ich hatte schon genug an meinem eignen Leichnam zu schleppen, und als die Sache endlich anfing langweilig zu werden, da wurde ich energisch. Ich verzichtete auf die Laufbahn eines berühmten Entdeckers und suchte mir einen Ausweg aus diesem wilden Urwald.
Ach, wie atmete ich auf, als ich wieder ins Freie trat und über mir den blauen Himmel sah. Unten im Tal schlängelte sich friedlich die Lahn, und da war auch schon eine Ortschaft. »Das ist Balduinstein!« rief ich triumphierend und nahm jene stolze Stellung ein, die der Deutsche sonst nur im Photographenatelier zeigt. Ich hatte also doch ein gehöriges Stück Weg abgeschnitten und nahm mir vor, jetzt öfters solche Abkürzungswege zu machen. Ja, ich bedauerte jetzt sogar, daß ich den Götepunkt nicht getroffen hatte, denn nach meinen Strapazen im Urwald mußte der für mich eine Kleinigkeit sein.
Dann orientierte ich mich noch einmal auf der Karte. Kein Zweifel, hier unten lag Balduinstein und die Lahn, drüben im Norden – ich stockte und starrte die Sonne an, die hoch im Norden am Himmel glänzte.
Ist Ihnen schon einmal etwas Besonderes an der Sonne aufgefallen? Sie werden sagen: nein, und Sie haben vollständig recht. Nichts ist langweiliger als die Art und Weise, wie die Sonne sich im Weltall herumtreibt. Morgens geht sie auf, und abends geht sie unter. Nie, daß sie es einmal umgekehrt macht, oder mitten auf der Reise sich umdreht, was das Publikum doch sicher amüsieren würde. Ja, nicht einmal einen Mondwechsel mit erstes, zweites und drittes Viertel hat sie.
Auch ich hatte bisher geglaubt, daß die Sonne das Urbild deutschen Familienlebens sei, und daß nichts sie aus ihrer von Ewigkeit vorgezeichneten Bahn bringen könnte. Aber heute mußte doch irgend etwas passiert sein, denn sie stand statt im Süden direkt im Norden, wogegen mein Kompaß, den ich nebst drei Eberzähnen, einer brasilianischen Muschel und einem silbernen Hufeisen als Schmuck an meiner Uhrkette trage, umgekehrt nach Süden wies. Sollte die Erde mit einem Kometen zusammengestoßen sein, während ich im wilden Urwald steckte und den Spektakel natürlich überhörte? Oder hatten die Amerikaner den Nordpol gestohlen und in ihre Wigwams verschleppt, und die Sonne war nur etwas nach Norden geeilt, um sich die Geschichte näher anzusehen? Möglich war alles, und wenn es sich um ein Erdbeben handelte, dann war es ein sehr tüchtiges gewesen, denn ein Blick auf meine Karte zeigte mir, daß ich mich statt auf dem rechten, auf dem linken Ufer der Lahn befand, also diesen Fluß irgendwie ohne es zu merken, überschritten haben mußte.
Aber vielleicht war das auch im Urwald geschehen, ein Brontosaurus lag im Flußbett, so daß ich trocknen Fußes hinüber kam, und die Sonne im Norden das war nur eine Eigentümlichkeit der Balduinsteiner Gegend. Jedenfalls hatten ja schon altgriechische Reisende berichtet – in welcher Branche sie reisten, ist uns nicht überliefert worden – daß sie die Sonne im Norden gesehen hatten, aber kein Mensch und besonders nicht die Idioten von Gelehrten glaubten ihnen die Geschichte, sodaß es mir erst aufgehoben blieb, die Möglichkeit dieser Naturerscheinung aufs neue zu bestätigen.
Als ich mich Balduinstein näherte, erlebte ich eine neue Überraschung, der Ort kam mir so bekannt vor, er hatte eine immer größer werdende Ähnlichkeit mit Obernhof. Dieselbe Kirche und dieselben alten Häuser, ich hätte darauf geschworen, es sei wirklich Obernhof. Und es war es auch! Der Wirt, der mich schon zu erwarten schien, schüttelte den Kopf. Er habe jetzt schon zwanzig Touristen den abgekürzten Weg über den Götepunkt gezeigt und alle seien sie wieder bei ihm eingekehrt. Er begreife nicht, wie man sich auf dem einfachen Fußweg verlaufen könne. Aber ich sollte mir deswegen keine grauen Haare wachsen lasten, er habe extra für mich ein Mittagessen fertig gemacht.
Und nun saß ich da bei einem Schweinebraten, und alle Naturwunder waren verschwunden. Ich hatte also einen richtigen Kreis gemacht. Die Sonne stand wieder im Süden, die Magnetnadel wies nach Norden, und ich selbst befand mich wieder rechts von der Lahn. Auch von dem Urwald wollte der Wirt nichts wissen, der Brontosaurus wäre sicher eine entlaufene Ziege gewesen, und mir selbst sei wohl der gute Wein von heute früh etwas in den Kopf gestiegen. Außerdem, wenn es wirklich in der Gegend solch einen Urwald mit wilden Bestien gäbe, dann hätte er längst ein Hotel darin angelegt, eine Dependance, und er würde jeden Gast dort hineinführen lassen und ihm den Ausgang verlegen, so lange er noch einen Pfennig besäße. Denn so was müßte ja für jeden Touristen ein gradezu idealer Sommeraufenthalt sein.
Ich fuhr nach Balduinstein mit der Bahn, man kann auch auf einer Fußtour nicht alles zu Fuß abmachen, und dann wollte ich ja heute noch die berühmte Schaumburg besichtigen. Unterwegs sah ich öfters aus dem Zuge heraus, ob die Sonne auch nicht etwa wieder nach Norden gerückt war, aber sie machte keine Miene, das zu tun, und da auch mit meinem Kompaß jetzt alles in Ordnung blieb, schloß ich daraus, daß die Amerikaner ihren Plan, den Nordpol zu stehlen, vorläufig aufgeschoben hatten, worauf ich immerhin beruhigt in Balduinstein anlangte.
An und für sich mache ich mir nicht viel aus Burgen und Ruinen, sie sind immer dasselbe, und wenn man eine gesehen hat, kann man sich die andere schenken. Die meisten von ihnen haben ja die Wirte- und Verkehrsvereine angelegt, um die Fremdenindustrie zu heben. Jede Burg hat ihre eigene, von einem Oberlehrer verfaßte Sage mit alten Ritternamen, die der Kerl aus Schauerromanen stiehlt, ferner eine Wendeltreppe, deren Besteigung lebensgefährlich und darum polizeilich verboten ist, einen feuchten Keller, in dem ein uralter Schloßwein verzapft wird (Lieferant Levy Fils in Berlin), und vor allen Dingen einen Kastellan oder Burgführer.
Diese Kastellane sind das einzig interessante an den alten Gemäuern, und es gibt wirklich gediegene Burschen darunter, denen man stundenlang zuhören könnte, wenn sie die traurige Geschichte von dem Grafen Wilhelm mit der gebissenen Wange und der Gräfin Tutta der Verschleimten, bei jeder Tour von neuem und in demselben heiteren Tonfall erzählen. Meistens sind sie betrunken und versuchen mit einem ungeheuren Schlüssel ein Tor aufzuschließen, das sperrangelweit offen steht. Oder sie lehnen mit geschlossenen Augen und lächelnden Zügen an einer Regentonne und weisen mit der Hand auf einen alten eisernen Ofen, den sie für eine Statue des Hussitenherzogs Ziska halten. Immer aber kneifen sie einer jungen, blonden Engländerin freundlich in die Wangen, worauf diese ganz erschrocken ist, aber nichts zu sagen wagt, denn sie meint, das gehöre zur Landessitte. Überhaupt zweifelt im Publikum kein Mensch daran, daß die Kastellane eigens zu ihrer speziellen Unterhaltung betrunken sind, über einen nüchternen Burgführer würde selbst ein Mitglied vom Blauen Kreuz eine Eintragung ins Beschwerdebuch machen.
Nachdem ich auf der Schaumburg eine zweischläfrige Bettstelle besichtigt und die Bekanntschaft einer Gipsstatue des Kaiserlichen Feldmarschalls Peter Melander gemacht hatte – das Modell der Burg, von Herrn Konditor Josef Nutius in Zucker gegossen, war grade drei Tage vorher von dem Sohne des Kastellans aus Übermut verzehrt worden, und ich sah nur noch den linken Seitenflügel – verließ ich Balduinstein trotz des Protests eines Weinwirts, der behauptete, ich müßte auch in die Ruine hineinklettern und würde es sonst bereuen.
In Diez kehrte ich bei einem Wirt ein, der mit Hammer, Zange und anderen Werkzeugen an seinem Bierapparat arbeitete, während Freunde und Nachbarn herumstanden und ihm gute Ratschläge gaben.
»Bier können Sie nicht haben!« sagte der Wirt. »Ich arbeite schon seit acht Tagen an diesem verfluchten Apparat, er ist total ruiniert.«
»Ja,« fragte ich ihn ganz erstaunt, »warum nehmen Sie denn keinen Klempner?«
»Einen Handwerker?« Der Wirt lächelte verächtlich. »Sowas besorge ich prinzipiell selbst!«
Der Mann gefiel mir, er erinnerte mich an meinen Freund Fritz Bellert.
Man muß prinzipiell alles können! Mit diesem schönen Grundsatz ging auch Fritz Bellert durchs Leben.
Ich habe immer die Leute beneidet, die feste Grundsätze und Maximen haben. Ihnen kann nichts passieren, sie wissen sich stets zu helfen und verdienen auch das meiste Geld. Ich bin fest überzeugt, wenn jeder Mensch mit drei oder vier gediegenen Grundsätzen auf die Welt käme, es gäbe keine Armut mehr, und das deutsche Vaterland bestände nur noch aus Rentnern, Hausbesitzern, Stadtverordneten und ähnlichen gutsituierten Berufsständen – den letzten wirklichen Arbeiter würde man in einem Museum ausstellen.
Es ist merkwürdig, wie solche Grundsätze gegen alle Übel helfen, wie sie alle Schwierigkeiten hinwegräumen und den Erfolg bei den Haaren herbeiziehen. Da trinkt einer grundsätzlich jede Stunde einen Kognak und kuriert sich damit den Magen, ein anderer ist ebenso grundsätzlich strenger Abstinent und kuriert sich damit ebenfalls den Magen. Der eine haut aus Prinzip seine Frau, der andere läßt sich verhauen, das Resultat sind zwei glückliche Familien. Ein Jüngling schmiert sich grundsätzlich die Haare mit Javol ein, der andere mit Zahnwasser, und bei beiden fallen sie in gleichem Maße aus. Kurz, es ist ganz egal, was man tut, wenn man es nur prinzipiell tut.
Trinken Sie einmal morgen früh einen Liter Gilka, Sie können sich daran vergiften. Wenn Sie ihn aber, den Liter Gilka, prinzipiell jeden Morgen trinken, dann ist er die köstlichste Medizin, die man sich denken kann, und Sie können ein würdiger Mummelgreis dabei werden. Wer sich aufhängt, begeht strafbaren Selbstmord, wer es aber grundsätzlich tut, gewöhnt sich daran und kann ohne dieses Mittel nicht mehr einschlafen.
Also auch Fritz Bellert hatte seinen Grundsatz, er sagte, man muß prinzipiell alles können! und als ich eines Tages zum Schlosser lief, weil ich eine verschlossene Türe nicht öffnen konnte, fragte mich Bellert, ob ich denn ganz von Sinnen sei, so etwas besorge man doch selbst, und ich sollte ihn nur ruhig gewähren lassen.
Ich ließ ihn gewähren. Zuerst verwandelte er einen wertvollen Zirkelkasten in altes Eisen, weil er die einzelnen Teile als Dietriche benutzen wollte, was aber nicht gelang. Dann meinte er, er könne es auch mit einem großen Nagel machen, er brauche nur die Spitze umzubiegen.
Es ist leicht, einen Nagel krumm zu schlagen – ich zum Beispiel schlage niemals auf einen Nagel, ohne daß er krumm wird – aber es ist sehr schwer, einen Nagel grade an dem Punkte krumm zu schlagen, wo man ihn krumm haben will. Alle Nägel scheinen in dieser Beziehung eigensinnig zu sein, das merkten wir an jenem Nachmittag. Wir stellten alles mögliche an und fanden zuletzt einen großen Nagel, der sich überhaupt nicht krumm schlagen ließ, sodaß Bellert sofort sagte, das sei der richtige Nagel.
Ich mußte einen besonders großen Hammer holen, und fand einen, den der Schmied unten im Hause nicht gebrauchen konnte, weil er ihm zu schwer war.
Mit zwei Händen hielt ich den Nagel fest, und als Bellert zugeschlagen hatte, da wußte ich, daß ich die nächsten drei Monate auch einen äußerlichen Grund hatte, nicht zu arbeiten.
Meine Frau, die mir die Hände verband, meinte, sie sei nur neugierig, was nunmehr kommen werde. Aber Bellert bewies hier seine großartige Geistesüberlegenheit. Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, erklärte er, er habe das vorausgesehen. So würde es natürlich niemals gehen, und das beste sei schon, das ganze Schloß aus der Tür herauszuschrauben. Dann sei es eine Kleinigkeit, die Tür zu öffnen.
Schleunigst schafften wir alles herbei, was eine entfernte oder auch gar keine Ähnlichkeit mit einem Schraubenzieher hatte. Einige Schrauben gingen los, die meisten aber blieben sitzen, im Gegenteil sie bohrten sich unter Bellerts Händen erst ordentlich in das Holz hinein.
Der Boden war mit zerbrochenen Werkzeugen bedeckt, und meine Frau holte mit schwerem Herzen das letzte herbei, ein prachtvolles Taschenmesser mit siebzehn Klingen, ein Meisterwerk der Solinger Stahlindustrie. Mein Großvater Habakuk hatte es mir auf dem Sterbebette vermacht und mich verflucht für den Fall, daß ich es jemals schlecht behandeln würde.
Was für ein ausgezeichnetes Messer es war, das merkten wir jetzt erst, denn auch die hartnäckigsten Schrauben gingen nunmehr heraus, wenn auch auf jede Schraube drei zerbrochene Klingen kamen. Zuletzt hing das Schloß nur noch an einem Fetzen Haut, und Bellert brachte sich, als er die letzte Klinge zerbrach, eine tiefe Wunde bei. Er lief ins Wohnzimmer, um sich zu verbinden, und auf dem Teppich sieht man noch heute die Flecken.
Wir konnten die Türe jetzt mit Leichtigkeit öffnen, nur daß wir dabei ein größeres Stück Mauer mitnahmen. Meine Frau aber, statt sich über unsern Erfolg zu freuen, wurde wütend und warf das Schloß in einem weiten Bogen zum Fenster hinaus. Mit dem Gerippe des Messers aber, das sie dann in die Hand nahm, wollte sie wohl mich treffen, aber sie warf es in den Spiegel, wodurch dieser für sein ganzes Leben verunstaltet wurde.
Ehe ich noch Zeit hatte, über ihre Ungeschicklichkeit meine Freude zu äußern, geschah etwas, was uns die Haare zu Berge trieb.
Draußen auf der Straße erhob sich ein solcher Lärm, wie man ihn nicht einmal in einer Oper für möglich gehalten hätte. Hunde, Schutzleute, alte Weiber schrieen, bellten und brüllten durcheinander, und das Volk jauchzte Hurra, als ob ein Denkmal eingeweiht würde.
Jetzt konnte man wieder einmal sehen, wie boshaft dieses Türschloß war.
Wer wie ich früher Hundefänger gewesen ist, weiß, welch ein Unterschied zwischen einzelnen dieser Tiere besteht. Wenn ein gebildeter Hund aus vornehmer Familie irgend etwas mit einem Schutzmann zu tun hat, dann geht er, schon um kein Aufsehen zu erregen, ruhig mit zur Wache, legitimiert sich dort und wird mit einer Verbeugung entlassen. Aber ein Beamter sollte es einmal wagen, einen ganz gewöhnlichen Köter, einen schmierigen, struppigen Gesellen, der grade vom letzten Mülleimer kommt, zu arretieren – so ein rasseloses Tier ist imstande, die hohe Obrigkeit anzubeißen. Auf jeden Fall gibt es dabei einen Landfriedensbruch, indem sich sämtliche vierbeinigen Lumpen aus dem ganzen Viertel hineinmengen und den Gefangenen zu befreien trachten.
So war es auch hier gewesen. Ein älterer Schutzmann mit einem dicken Bauch und ein anderer noch ohne Bauch, jedenfalls ein Anfänger, hatten solch einen zerlumpten Köter verhaftet, weil er es gewagt hatte, jene feine junge Hündin, die sogar einer Gräfin gehörte, zu belästigen.
Natürlich wehrte sich der Arrestant, wälzte sich auf der Erde herum und vollführte einen so gemeinen Lärm, daß sämtliche Strolche aus der Umgegend herbeieilten und die Beamten anbellten. Und das Publikum ließ, wie es bei solchen Gelegenheiten leider öfters geschieht, die Obrigkeit ohne jede Hilfe, ja es freute sich sogar offensichtlich ihrer Bedrängnis. Doch die Schutzleute waren fest entschlossen, der Ordnung zum Siege zu verhelfen, sie hatten ihren Köter gepackt und ließen ihn nicht mehr los.
In diesem Augenblick kam das Türschloß durch die Luft geflogen und fuhr mit einer genialen Sicherheit dem dicken Schutzmann gegen den Bauch.
Ich weiß nicht, was der Schutzmann in diesem Augenblick dachte – Schutzleute denken im allgemeinen nicht, sie haben ihre Instruktion – aber nach dem Schrei, den er ausstieß, muß er sich für einen russischen Großfürsten und das Türschloß für eine Bombe gehalten haben. Er brach unter der Wucht des nihilistischen Attentats vollständig zusammen und riß im Fallen noch seinen Kollegen ohne Bauch mit zu Boden. Ihr Sturz besiegelte den Untergang der ganzen Regierung, die Anarchie siegte, und das Volk, ich wollte sagen, die Hunde brüllten aus Leibeskräften Hurra.
Alles schrie und freute sich, und dem dicken Schutzmann war es so elend zumute, daß er nicht einmal mehr Protokolle machen konnte. Erst einige hinzueilende Kollegen besorgten dies ausgiebig.
Das Türschloß aber wurde zum Polizeipräsidium gebracht und dort später von einer Gelehrtenkommission untersucht.
Und daraus entstand ein großer Streit unter den Koryphäen der Wissenschaft, der noch heute tobt. Es haben sich zwei Hauptparteien gebildet.
Die eine folgt der Theorie des berühmten Astronomen, Professor Luigi Deliri, der durch äußerst subtile Berechnung den haarscharfen Beweis führte, daß das Projektil in einem Winkel von vierundzwanzig Grad im Schatten aus einem Dachfenster uns grade gegenüber geschleudert worden war. Die andere Partei besteht meistens aus Medizinern. Sie ist der Ansicht, daß eine im Keller gelegene Metzgerei der Tatort war, weil an dem Geschoß Ochsenblut klebte.
Und ich glaube, die Mediziner haben recht, wenigstens mit dem Ochsenblut, weil sich doch Fritz Bellert tief in die Hand geschnitten hatte, und die Gelehrten wissen müssen, was der für Blut besitzt.
Ob es dem Gastwirt in Dietz auch so gegangen ist, weiß ich nicht. Der Mann interessierte mich, aber ich konnte das Resultat seiner Arbeit nicht abwarten, ich war nicht auf einen mehrwöchentlichen Aufenthalt eingerichtet. Doch das habe ich mir vorgenommen, wenn ich noch einmal in die Gegend komme, will ich ihn besuchen, vielleicht sitzt er noch heute mit Zange und Hammer an seinem Bierapparat.
Gegen neun Uhr kam ich wohlbehalten in dem alten Limburg an und kehrte im Gasthaus zur Wackelburg ein, das ich allen Reisenden bestens empfehle. Ich bitte aber, sich bei einem Besuch auf mich zu berufen, da mir der Wirt zwanzig Mark gegeben und mir noch mehr versprochen hat, wenn meine Reklame Erfolg hat.