Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Scharfsinnige Bemerkungen schätzt man in der Geschichte ebensosehr, als netterzählte Tatsachen. Man hat Recht; verlängern sie gleich die Geschichte, so beweisen sie doch den Geist des Verfassers. Diesem Grundsatz zufolge kann man es für erlaubt halten, über Neadarnens Verfassung ein paar flüchtige Betrachtungen anzustellen.
Jedes Frauenzimmer, das behauptet: sie würde an ihrer Stelle keine Unruhe empfunden haben, ist entweder Heuchlerin oder eine von denen, für die es sich nicht ziemt, die Gefahren der Gelegenheit kennen zu lernen und die sich ihnen immer ohne Nachdenken überlassen haben. Der Gedanke ist vielleicht nicht ganz deutlich; dies ist aber für den Leser um so besser; er wird das Vergnügen haben, ihn nach seinem Gefallen zu erklären. Selten befindet sich eine Frau von Welt wider ihren Willen in einem für sie gefährlichen Fall; ihrer Tugend wird nie durch die Umstände Gewalt angetan; und wiewohl man mehr denn Eine hat sagen hören, daß sie ihrem Liebhaber das Stelldichein, bei dem ihre Tugend unterlag, nicht gegeben haben würde, wenn sie nicht geglaubt hätte, sich mit Ehren herauszuziehen, so kann man doch glauben, daß sie, was erfolgen würde, recht gut wußte. Hier ist der Beweis davon. Ein Mann, dem man eine jener unschuldigen Begegnungen bewilligt, darf davon keinen unziemlichen Gebrauch machen; er ist sonst fast unwiderbringlich mit der tugendhaften Schönen entzweit. Die Frauenzimmer haben der Rettungsquellen für ihre Tugend viel; die Gewohnheit, worin sie leben, ihre Regungen zu bemänteln und jenes Prinzip von Wohlanständigkeit und Stolz, das sie erstickt; unsere Blödigkeit und Ehrfurcht für sie und die Ungewißheit, worin wir uns fast immer befinden, zu wissen, wie sie über uns denken, schließlich die Furcht, ihnen zu mißfallen, machen gemeinhin die Waffen jener furchtbaren Tugend aus, die uns überwältigt. Überdenkt man die Ideen der Freuden der Liebe etwas, so unterdrücken sie unfehlbar die Ideen der Vorurteile im Herzen. Von selbst kann ein Frauenzimmer nicht bei Bildern verweilen, die ihre Schamhaftigkeit verletzen würden; aber ein Liebhaber darf sich zeigen und gefallen, was nützt also ihre Tugend? Kämpft sie noch, so geschieht es nicht, um sie zu retten, sie würde zu viel dabei verlieren. Allein man muß mit Ehren sich ergeben, seiner Schwäche einen Anstrich von Größe geben, man muß, mit einem Wort, auf anständige Art fallen und sich nachdenkend über seine Niederlage bei sich selbst zu entschuldigen wissen. Wenige Frauenzimmer gestehen diese Wahrheit ein, demungeachtet aber ist und bleibt sie ganz ausgemacht. Neadarne hatte keine Zeit, ihre Tugend leuchten zu lassen, die die angegriffenen Damen gemeiniglich mehr oder weniger zu gebrauchen pflegen, je nachdem ihre Sprödigkeit, Würde und Vorstellung beschaffen ist. Man ließ ihr nur einen Tag Zeit; zudem war sie noch nicht gewiß, ob ihr Widerstand bis zum Ende dieses Tages dauern würde. Der Genius war liebenswürdig, ungeduldig, gewohnt zu siegen; er kannte das weibliche Herz; wußte aus allem Nutzen zu ziehen und dergleichen Art Leute sind außerordentlich gefährlich. Sie wissen den günstigen Augenblick herbeizuführen, und irren sich darin nie. Zwar wurde sie durch die Leidenschaft verteidigt, die sie für Tanzai empfand; aber es war selbst höchst zuträglich für diese Leidenschaft, derselben entgegen zu handeln; dies ließ sich noch um so mehr entschuldigen, da ihr Gemahl nie erfahren konnte, was auf der Insel vorgefallen war. Wieviel Gründe sich zu ergeben! endlich war nur ein einziger Abhaltungsgrund da und noch dazu nur ein scheinbarer. Wie viele von denen, welche die Prinzessin tadeln, würden lange nicht so viele Gründe anführen können! Diesem Räsonnement zufolge, das zur Hälfte hätte kürzer sein können, war die Prinzessin während der Zeit, daß Schonkilje sie führte, in ihrem Innern nicht ohne Aufwallung. Sie gingen durch eine unermeßliche Reihe von Zimmern, die noch mehr durch Geschmack als durch Pracht sich auszeichneten, wiewohl letztere ganz ausnehmend war. Aus dem Palast kam man in allerliebste Gärten. Alles was die Kunst nur Regelmäßiges und Schimmerndes ersinnen kann, vereinigte sich hier mit den einfachsten Schönheiten der Natur. Man sah von der einen Seite wilde Grotten und Bäche, deren friedliches Gemurmel zur sanftesten Ruhe oder zu den zärtlichsten Freuden luden. Von der anderen Seite waren unabsehliche Kaskaden, prächtige Lusthäuser, Bildsäulen von hohem Wert. Dort verirrte man sich auf den krumm gewundenen, unebenen Gängen eines Gebüsches, das seine Unregelmäßigkeit nur noch anmutiger machte. Hier erblickte man Bogengänge und Hecken von erstaunlicher Höhe sorgfältig unter Zirkel und Schere gehalten, die einen bequemern aber minder wollüstigen Spaziergang darboten. Blumenbeete entzückten durch die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Blumen, womit sie geschmückt waren. Flora schien hier auf ewig ihren Sitz genommen zu haben, und Zephir fand sie hier so schön, daß es nach den Liebkosungen, die er ihr unablässig erwies, den Anschein gewann, als hätte er seiner Unbeständigkeit auf immer entsagt. Vögel von allen Geschlechtern belebten die Gärten. Die Turteltaube mischte ihre zärtlichen Akzente unter die lebhaften und leichten Gesänge des Kanarienvogels und der Nachtigall. Reizende Nymphen schwebten in Tänzen. Schäfer sangen von einer Liebe, die, wiewohl immer glücklich, demungeachtet nicht minder treu war. Kurz, alles in diesen wonnevollen Gebüschen tönte von Liebe, stellte sie den. Augen dar, alles flößte sie dem Herzen ein und man schien sie gleichsam mit der Luft dieses Zauberaufenthalts in sich zu ziehen. Die Wollust, die mitten in diesem Garten thronte, ordnete selbst die Vergnügungen an, und goß über sie jenen so schmeichlerischen Reiz aus, den sie ohne dieselbe nicht haben. Amoretten krönten die Göttin mit Blumen und trieben die mutwilligsten Spiele um sie her.
So vielen einladenden Gegenständen konnte Neadarne unmöglich widerstehen, und sie empfand, so sehr sich ihr Herz dagegen empörte, jene Regung der Zärtlichkeit, die die Sinne verwirrt und sie zu weit größerer Unordnung vorbereitet. Schonkilje, der sogleich wahrnahm, was in ihrer Seele vorging, sah sie mit Augen an, worin sich seine Begierden so gut malten, daß die Prinzessin, die ihren Glanz nicht ertragen konnte, so verwirrt und fassungslos ward und so sanft seufzte, daß Schonkilje ihr in dem Augenblick ein Boskett zeigen wollte, das auf ihrem Wege lag. In Gedanken vertieft, wie sie war, ließ sich Neadarne dahin führen. Wie sie sich aber dem Boskett nahte, fand sie es so düster, und nun ihre Augen auf den Genius wendend, erkennend, daß er liebeglühend war, kam sie wieder zu sich und weigerte sich mit dürren Worten, in das Gebüsch zu treten. Schonkilje, der wohl wußte, daß es an einem Tage mehr dergleichen Augenblicke gibt und einsah, daß dieser für ihn vorüber war, drang nicht weiter in sie, sondern führte sie dahin, wo die Nymphen und Schäfer die anmutigsten Tänze hielten. Neadarne sah ihnen eifrig zu, als ein Mensch mit unglaublicher Geschwindigkeit vom äußersten Ende des Gartens mit Radschlägen und Purzelbaumschießen angelaufen kam, sich in den Tanz warf und ihn in Unordnung brachte. An dieser Verrichtung erkannte die Prinzessin sofort Scholuchern, da sie aber dem Genius das Interesse verbergen wollte, das sie an ihm nahm, sagte sie: dieser Mensch hat sich eine sonderbare Art von Tanz gemacht. – Er tanzt nicht so zu seinem Vergnügen, antwortete Schonkilje. – Ich glaube schwerlich, daß es zu dem Eurigen geschieht, versetzte Neadarne. – Ihr kennt diesen Springer nicht, antwortete Schonkilje, es ist der talentvollste Mensch von der Welt und er könnte zugleich der glücklichste sein, wenn er sich nicht dadurch meinen Zorn zugezogen hätte, daß er mir das Herz einer Fee entriß, die ich anbetete. Zu menschlich, ihn zu grausamen Strafen zu verdammen, habe ich mich damit begnügt, ihn stets in meinem Garten zu behalten, wo seine Beschäftigung in Erfüllung der Pönitenz besteht, die Ihr ihn machen seht.
Ach! gnädiger Herr, rief Neadarne, geruht seine Strafe auf eine Zeitlang aufzuheben. – Nähere Dich, Unglücklicher, sagte der Genius zu Scholuchern, wage es, die Augen jetzt gegen Deinen Herrn aufzuheben. Geh in den Palast und tu Dein Äußerstes, dem himmlischen Gegenstand, der es sich gefallen lassen will, an diesen Orten Befehle zu erteilen, die Zeit zu kürzen. Scholuchern antwortete nur durch eine tiefe Verbeugung und ging nach dem Palast. Beim Weggehen machte er noch einige Purzelbäume, so groß ist die Macht der Gewohnheit! Neadarne konnte, indem sie dem Genius dankte, nicht umhin, ihn anzusehen, und fand ihn so weit dem Scholuchern überlegen, wiewohl der Letztere liebenswürdig war, daß sie die Zwickelbart des Eigensinns beschuldigte, Schonkiljens Zärtlichkeit nicht erwidert zu haben. Sie war sogar auf dem Punkte, den Letztern so schön zu finden, als Tanzai, ohne daß diese Vergleichung von Folgen für sie gewesen wäre; sie konnte sogar nicht ohne Seufzen an ihren Gemahl denken und befestigte sich mehr denn je in dem Entschluß, ihm treu zu sein, als man meldete, daß die Tafel gedeckt sei. Der Leser wird wohl die Güte haben, sowohl zu seiner als auch zu des Autors Gemächlichkeit sich mit Eins aus dem Garten in den Eßsaal zu versetzen, um so mehr, da er dabei nichts verlieren kann.