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Fünfunddreißigstes Kapitel.
Wieder die alten Freunde

Frank sah Beatrice auch am nächsten Tage nicht; er ging zweimal hin und das zweite Mal ließ sie ihm sagen, er möchte erst morgen wieder kommen. Sie war nicht krank, aber sie wollte allein sein. So verbrachte Herr Carruthers, der sich in einer wunderbaren, unbeschreiblichen Gemütsverfassung befand, diesen Tag mit einsamen Streifzügen durch München.

Am anderen Morgen ging er hin und wurde zugelassen. Er fand Beatrice allein. Sie sah bleich, aber schön aus. Er nahm sofort eine Veränderung in ihrem Wesen wahr. Eine gewisse anmutige Schüchternheit verlieh dem Mädchen, das er bisher stets so ruhig und sicher gesehen hatte, einen neuen Reiz. Es mag sein, daß auch Beatrice eine leichte Veränderung bei Carruthers beobachtete.

»Erzählen Sie mir alles,« sagte sie nach der ersten Begrüßung leise.

Er erzählte ihr alles; er berichtete ihr, wie der Mann vor einigen Tagen auf dem Bahnkörper gefunden und nach München und in den Wartesaal gebracht worden sei. Er teilte ihr auch die Anordnungen mit, die er selbst getroffen, und daß er gestern an seinem Grabe gestanden habe.

Beatrice hörte ihm, ohne ihn zu unterbrechen, zu. Als er zu Ende war, blieb sie in Gedanken versunken. Frank beobachtete sie schweigend.

»Aber wie kam er denn auf die Bahnstrecke?« fragte sie endlich.

»Niemand kann es sagen,« antwortete Frank kopfschüttelnd; »es kann ein Unglücksfall, aber auch ein Selbstmord vorliegen; nach der Lage, in der er gefunden worden ist, neigen die Behörden zu der letzteren Annahme. Er hatte viel Geld bei sich; ich weiß nicht, wieviel, das läßt sich in solchen Fällen nie genau feststellen. Jedenfalls weiß niemand, wie es gekommen ist.«

Frank sprach die Wahrheit. Niemand wußte es. Die Fahrbillets waren den Reisenden lange vor München abgenommen worden und Hervey und Sarah konnten mit den anderen Reisenden ausgestiegen sein. Der nach München eingeschriebene Koffer Sarahs lag ruhig im Gepäckzimmer: ihre Handtasche war zu den in den Wagen liegen gebliebenen Gegenständen gebracht worden; vielleicht hätte einer der Schaffner die Leiche als die eines der Reisenden erkannt, falls er sie gesehen hätte, aber ehe der Blitzzug aus Konstantinopel zurück war, lag Hervey schon unter der Erde.

»Was brachte ihn nach München?« fragte Beatrice. »Wie konnte er wissen, daß ich hier bin? Er muß Sarah gesehen haben,« fuhr sie fort, ihre Frage selbst beantwortend. »Von ihr muß er erfahren haben, wo ich bin. Aber warum schrieb sie mir nicht, warum teilte sie es mir nicht mit? Es muß ihr irgend ein Unfall zugestoßen sein. Ich wollte, sie wäre zurück.«

»Wollen Sie sein Grab besuchen?« fragte Frank nach einer Pause. Beatrice zuckte zusammen.

»Nein,« antwortete sie, »ich glaube nicht – außer wenn Sie es für sehr unweiblich halten würden, daß ich nicht hingehen will.«

»Nein,« sagte Frank, »ich sehe keinen zwingenden Grund dazu.«

»Was sollte ich an seinem Grabe thun?« fragte Beatrice sanft und sinnend. »Man geht zu einem Grabe, um dort zu weinen. Ich könnte nicht weinen. Wenn man viele Jahre lang Tag und Nacht eine Last mit sich herumgeschleppt hat und wird plötzlich von ihr befreit, dann weint man nicht, sondern dann freut man sich. Frank, ich will mit solchen Empfindungen nicht an einem Grabe stehen. Ich will ihm vergeben; mehr kann ich nicht thun.«

»Niemand könnte mehr von Ihnen verlangen.«

»Man soll nur Gutes von den Toten reden,« fuhr Beatrice immer in derselben sinnenden, träumerischen Weise fort. »Frank, ich weiß nichts Gutes, von dem ich sprechen könnte. Ich habe ihn einige Wochen lang geliebt oder zu lieben geglaubt, aber das war vor Jahren, vor vielen Jahren. Alles, was ich thun kann, ist, nichts Schlechtes von ihm zu sagen, ihm vergeben und ihn zu vergessen suchen, nun er tot ist.«

Zum erstenmal traten Thränen in ihre Augen. Beide schwiegen lange Zeit. Beatrice und Frank standen einander gegenüber. Er ergriff ihre Hände und hielt sie fest.

»Beatrice – Liebling,« flüsterte er, »erinnerst du dich in unserer neuen Welt noch der Worte, die du in diesem Zimmer sprachst, als wir gar keine Hoffnung auf Glück mehr hatten. Liebste, alles hat sich geändert. Ein neues Leben hat für uns begonnen. Beatrice, willst du jene Worte noch einmal sagen, willst du in der neuen Welt, die sich für uns aufgethan hat, wiederholen, was du in der alten gesagt hast?«

Ihr Haupt neigte sich und eine tiefe Röte überzog allmählich ihr bleiches Antlitz. Dann blickte sie wieder auf und die grauen Augen sahen fest in die seinen. »Ich lasse Sie einen Augenblick allein,« flüsterte sie, zog ihre Hände zurück und verließ das Zimmer.

In weniger als einer Minute kehrte sie mit ihrem Knaben zurück. Sie hielt denselben an der Hand und blieb mit ihm vor Carruthers stehen.

Er verstand sie; er zog den Knaben in seine Arme, legte ihm die Hand aufs Haupt und sah mit ernstem Lächeln Beatrice an.

»Liebste,« sagte er, »mag uns der Himmel Kinder schenken oder nicht, dieser Knabe wird mir stets sein wie mein eigener Sohn. Er soll sich nie nach seinem unbekannten Vater sehnen, soll nie erfahren, solange ich es hindern kann, daß Schande dieses Vaters Namen bedeckt.«

Er hob das Kind auf und küßte es und Harry schlang seine runden Aermchen um Carruthers' Hals, mit dem er sich schon längst befreundet hatte. Beatrice beobachtete die beiden lächelnd.

Carruthers machte sich sanft von dem Knaben los und breitete seine Arme nach Beatrice aus, die ihr Haupt an seine Schulter lehnte und Thränen des Glückes vergoß. Er flüsterte ihr heiße Liebesworte zu und küßte sie wieder und wieder, was Harry mit Verwunderung sah und sich durchaus nicht erklären konnte. Endlich erinnerten sie sich seiner Anwesenheit und Beatrice übergab ihn wieder seiner bayerischen Pflegerin, was er sehr übel vermerkte.

Sie waren glücklich oder wenigstens Frank war es; doch dämpfte der Gedanke, daß nur der Tod ihnen zum Glück geholfen, jeden lauteren Ausbruch der Freude.

Nachdem ihr Frank einige hundertmal mitgeteilt hatte, daß und wie sehr er sie liebe, kniete Beatrice neben ihm nieder und ergriff seine Hand.

»Frank, geliebter Frank,« flüsterte sie, »wirst du mir nie aus der Vergangenheit einen Vorwurf machen? Ich war schlecht und unwahr, aber, Geliebter, ich habe furchtbar dadurch gelitten. Du sollst meine innersten Gedanken kennen. Ich will dir ein wahres, treues Weib sein. Aber, wenn ich je glauben müßte, daß du um der Vergangenheit willen an mir zweifeltest, Frank, dann würde ich sterben – sterben.«

Natürlich schloß er sie in seine Arme und schwur, sie sei die süßeste, treueste, edelste Frau unter der Sonne – was übrigens ein jeder in einer ähnlichen Lage zu schwören pflegt. Dann verließ er sie auf einige Stunden, weil jedes das Bedürfnis fühlte, über das Geschehene nachzudenken. Als er später am Tage wiederkam, begannen die beiden ihre Pläne für die Zukunft zu besprechen. Beatrice war sehr besorgt um Frau Miller und machte sich Vorwürfe, daß sie sich ihre Adresse in London nicht hatte geben lassen. Sie beschlossen, noch eine Woche in München auf Nachrichten von Sarah zu warten und dann nach London zu reisen. Als dies abgemacht war, sagte Carruthers: »Höre, Beatrice, wir reisen miteinander zurück und deine Sache ist jetzt auch die meine. Wir haben aber denen zu begegnen, die ein Recht haben, Erklärungen über deine Abwesenheit von dir zu verlangen. Es gibt aber ein Recht, das alle anderen Rechte in den Schatten stellt. Liebste, laß uns als Mann und Frau zurückkehren.«

Sie errötete. »Ach Frank, so bald!«

»Bald? Beatrice, es ist schon länger als fünf Jahre her, daß dieser Mann für dich tot ist. Er starb mit deiner Liebe zu ihm.«

»Es ist wahr, es ist wahr,« flüsterte sie, »er starb damals, nicht jetzt.«

»Ich verlange dies nicht aus selbstsüchtigen Gründen, sondern weil es besser für dich ist, mein Liebling.«

»Es soll sein, wie du willst, mein Geliebter, mein Herr, ich habe keinen anderen Willen, als den deinen. Oh, Frank, solange wir nicht mehr getrennt werden, solange ich weiß, daß du für immer mein bist, kann ich allem trotzen.«

So wurden sie also in München getraut. Warum auch nicht? Wer war denn dieser tote Mann, daß er hätte zwischen ihnen stehen sollen? Was hatte er denn gethan, daß er berücksichtigt werden sollte? Daß sie aufrichtig sagte, sie vergebe ihm – daß sie nicht schlecht von ihm sprach, war alles, ja sogar mehr, als man billigerweise von der Frau verlangen konnte, die er in noch niedrigerer, noch härterer Weise betrogen hatte, als letzteres Wort für gewöhnlich besagt, wenn es auf die Beziehungen zwischen Schurken und Frauen angewandt wird. War er nicht noch in dem Augenblicke, in dem er vom Tode ereilt war, auf dem Wege zu ihr, um ihr neues Leid anzuthun? Maurice Hervey sei vor einer Woche gestorben? Nein, der Mann, den sie als Maurice Hervey gekannt hatte, war schon vor Jahren gestorben, in dem Augenblick, in dem er seine Maske hatte fallen und Beatrice hatte sehen lassen, was unter derselben verborgen war. Beatrice und Frank waren vermählt. Sie fanden ein englisches Kindermädchen, das mit ihnen in die Heimat reisen und den Jungen besorgen wollte. Nach Ablauf der bestimmten Zeit langten sie wohlbehalten in London an, wo sie sofort auf der Polizei Nachforschungen nach Sarah Miller anstellten, um die Beatrice in größter Sorge war. Nach der Beschreibung, die sie von der Frau gaben, stellte sich bald heraus, daß diese auf eine unbekannte Frau passe, die in dem Asyl für arme Geisteskranke untergebracht worden sei. Sie fuhren sofort in die Irrenanstalt, wo man ihnen die Kleider zeigte, welche die Frau an dem Tage ihres Eintritts in die Anstalt getragen hatte und welche Beatrice sofort erkannte. Frank zweifelte keinen Augenblick an der Richtigkeit der Sache. Das Wesen der Kinderfrau in einer gewissen Nacht hatte ihn dies Ende voraussehen lassen. Er sagte dies Beatrice. Sie war außer sich vor Schmerz.

»Arme, arme Sarah,« sagte sie, »sie war nie wahnsinnig, solange sie bei mir war, ich konnte sie immer beruhigen. Ach, Frank, sie war jahrelang meine rechte Hand; sie stand mir bei, sie suchte mich zu schützen – du weißt nicht, wie sehr sie mich geliebt hat.«

Nein, Frank wußte es nicht, und auch seine Gattin wird nie wissen, wie sehr jene Frau sie geliebt und was sie um ihretwillen gethan hat!

Beatrice sprach mit dem Arzt und wollte Sarah sehen. Der Arzt erklärte Sarahs Krankheit für den düstersten, unheilbarsten, religiösen Wahnsinn und ließ Beatrice nicht zu ihr, weil die Kranke schon bei Nennung des Namens in furchtbare Aufregung geraten sei; sie habe ihr Gesicht nach der Wand gedreht und unzweideutige Zeichen des Widerwillens gegeben. Frank zog Beatrice beiseite.

»Mein liebes Kind,« flüsterte er, »du kannst dich drauf verlassen, sie hat jenen Mann gesehen, das Wort ›München‹ ist ihr entfallen, und sie wußte ihn auf dem Wege zu dir. Der Gedanke, dir Kummer bereitet zu haben, war für ihren armen Kopf zu viel. Deshalb will sie dich nicht sehen.«

Daraufhin bat Beatrice den Arzt, noch einmal zu Sarah zu gehen und ihr zu sagen, ihre Herrin sei verheiratet und glücklich. Er willfahrte ihrem Wunsche, allein der Erfolg war derart, daß er einen Besuch aufs strengste verbot. Er sagte, es sei eine der häufigsten Erscheinungen bei derartigem Wahnsinn, daß der Kranke sich mit Widerwillen von denen abwendet, die er sonst am heißesten geliebt hatte. So mußte Beatrice betrübt den Versuch aufgeben.

Es blieb ihnen nichts übrig, als Sarah an einen Ort bringen zu lassen, wo sie aufs beste versorgt und liebevoll behandelt wurde. Dort weilt sie noch heute, doch nicht mehr lange; die Aerzte und Wärter wissen wohl, daß die Tage der armen Frau, die achtzehn Stunden von vierundzwanzig auf den Knieen liegt, gezählt sind.

Nachdem sie für Sarah gethan hatten, was sie konnten, wandten sich Frank und Beatrice wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Niemand von Beatrices Angehörigen wußte, daß sie in London war. Frank erfuhr in dem Gasthofe, in dem die Talberts abzusteigen pflegten, daß dieselben erst in der kommenden Woche in London erwartet wurden. So fuhren Herr und Frau Carruthers nebst dem Jungen und der neuen Kinderfrau nach Blacktown.

*

Horace und Herbert Talbert kehrten eines Tages von einer Spazierfahrt nach Hause zurück und waren nicht wenig überrascht, auf der Vortreppe ihres Hauses einen kleinen Knaben zu sehen, der sich da sonnte mit einer Miene, als ob ganz Hazlewood House sein unbeschränktes Eigentum sei.

Kein Wunder, daß die Talberts möglichst rasch ausstiegen, um zu erfahren, was diese Erscheinung bedeute.

Der Verlust der goldenen Locken machte Harry für den ersten Augenblick unkenntlich. Als sie jedoch näher traten und der kleine Junge mit seinen lachenden blauen Augen zu ihnen aufsah und ihnen sein Gesichtchen zum Kusse entgegenhielt, da dämmerte ihnen die Wahrheit herauf.

»Es ist Beatrices Junge,« sagte Herbert.

»Er ist es,« sagte Horace feierlich. Um ganz sicher zu gehen, fragten sie ihn, wer er sei und woher er komme.

Er teilte ihnen mit, daß er »Mutters schöner Junge« sei, und focht mit seinen Armen in der Luft, um ihnen begreiflich zu machen, daß er von weiter her komme, als sein Köpfchen fassen konnte. Dann begann er wieder mit seinen freundlichen Vertraulichkeiten und hielt sein Gesicht in einer Weise in die Höhe, die deutlich zeigte, daß er erwartete, geküßt zu werden. Er war so dringlich, daß sie ihm willfahrten. Herbert beugte sich zu ihm hinab und küßte ihn. Horace, der bemerkt hatte, daß der Anblick, den sein Bruder bei dieser Gelegenheit bot, nicht ganz würdig war, hob den kleinen Schlingel zu sich in die Höhe und küßte ihn ebenfalls. Dann gingen sie ins Haus, um zu hören, wer gekommen war.

Das Kind lief ihnen voraus, und hätten sie über seine Persönlichkeit noch irgend welche Zweifel gehegt, so wären dieselben beseitigt worden, als sie den kleinen Kerl die Füße putzen sahen. Kein Kind, das nicht einen Teil seines Lebens in Hazlewood House verbracht hat, ist imstande, seine Füße in so vollkommener Weise abzuputzen, wie er es that.

Whittaker war im Hausflur.

»Wer ist gekommen?« fragte Horace.

»Herr und Frau Carruthers,« lautete die Antwort. Die Talberts sahen einander an, hingen ihre Hüte jeder an seinen Haken und gingen ins Zimmer.

Als sie in das Wohnzimmer traten, stand Frank vor ihnen mit seinem ruhigen, trockenen Lächeln, und Beatrice eilte ihnen entgegen, fiel erst Horace und dann Herbert um den Hals und bat um einen Kuß und um Vergebung. Sie hatte ihnen viel Unannehmlichkeiten und Sorgen verursacht, aber sie war ihrer Schwester Kind, eine echte Talbert, und so widerstanden die beiden nicht und küßten sie.

»Aber ich verstehe nicht,« sagte Horace und schob seine Halsbinde wieder zurecht, »Whittaker sagte doch Herr und Frau –«

»Oh ja,« sagte Frank, »Beatrice und ich sind seit einiger Zeit verheiratet, wir haben in München Hochzeit gehabt und sind erst seit einigen Tagen zurück. Ihr seid die ersten, die wir aufsuchen. Wir dachten, ihr könntet uns für ein paar Tage unterbringen.«

Dieses Gesuch brachte die Talberts zum Bewußtsein ihrer Pflicht als Wirte zurück. Gastfreundschaft über alles. Gewiß das ganze Haus stand dem jungen Paar zur Verfügung, je länger, je lieber. »Aber warum ist denn Beatrice weggelaufen? Doch wohl nicht, um dich zu vermeiden?« fragte Horace.

»Sie sagt nein, aber in solchen Dingen ist man nie sicher.«

»Gewiß hattest du Angst, du müßtest das Kind hergeben,« sagte Horace zu seiner Nichte.

Sie zögerte. »Ja, ich fürchtete, man nehme mir den Knaben weg,« sagte sie.

Horace sah Herbert triumphierend an – er hatte also doch recht gehabt.

Dann schickten sich die Brüder an, Zimmer für ihre Gäste zurecht machen zu lassen, welche Zeit Frank und Beatrice zu einem Gange ins Dorf, zu Sylvanus Mordle benutzten.

Sylvanus strahlte vor Freude, als er die Neuigkeit erfuhr. Nun endlich war er den Druck los, den er bei dem Gedanken an »Katze und Zirkel« noch immer empfunden hatte. Er ergriff von jedem eine Hand.

»Bedaure nur das eine, daß ich diese Hände nicht zusammengefügt habe. Wäre deshalb gerne nach München gereist. Brauche Ihnen nicht zu sagen, warum ich es gerne gethan hätte.«

Er sprach diese Worte mit so herzlichem, aufrichtigem Gefühl, daß ihm Herr und Frau Carruthers die Hände drückten und ihm für seine Glückwünsche dankten.

Nachdem das junge Paar sich wieder von ihm verabschiedet hatte, machte er eine lange, anstrengende Fahrt auf dem Tricycle, aber wie er zu sich selbst sagte, nicht aus Aufregung darüber, daß er Beatrice als Neuvermählte gesehen hatte, sondern um sich auf seine Predigt vorzubereiten.

An jenem Abend war die Tafel in Hazlewood House so geschmackvoll gedeckt, das Tischzeug so glatt und fleckenlos, die Gläser und Karaffen so glänzend, die Weine so tadellos, das Essen so vollkommen wie immer. Frank trug fast allein die Kosten der Unterhaltung. Er sprach so unbefangen von seinen Plänen für die Zukunft, als ob alle seine Angehörigen bei seiner Hochzeit zugegen gewesen wären. Beatrice sprach wenig; sie war glücklich, nur glücklich. Horace fand, daß sich das junge Paar sehr gut benehme.

Beatrice ließ die Herren nach Tisch allein und ging in den Garten. Horace und Herbert ergriffen ihre Gläser und wünschten Frank Glück zu seiner Vermählung. »Womit wir aber nicht sagen wollen,« setzte Horace hinzu, »daß wir mit der Art und Weise eurer Heirat einverstanden seien. Doch werdet ihr ja wohl gute Gründe dafür gehabt haben.«

Die Talberts fühlten, daß sie viel verloren hatten dadurch, daß sie nicht alles hatten überwachen und anordnen können, was mit der Vermählung ihrer Nichte zusammenhing.

»Wir hatten gute Gründe,« sagte Frank.

»Wir glauben aber das Recht zu haben, eine Erklärung von Beatrices wunderlichem Benehmen, ihrer Flucht und ihrem verborgenen Leben zu erwarten.«

»Gewiß,« sagte Herbert, »ganz gewiß.«

So sagte ihnen Frank alles. Da er die Sprache in seiner Gewalt hatte und in ernstem Tone sprach, da er die Kunst verstand, gewisse Schatten heller zu machen und die für seine Klientin günstigen Umstände kräftig hervorzuheben, da er von dem sprechen konnte, was sie erduldet hatte, und so das Mitleid und das Erbarmen seiner Zuhörer anrief, so hätte Beatrice keinen besseren Anwalt ihrer Sache finden können.

Aber Horace! Herbert! Eine ganze Reihe Ausrufungszeichen könnte das entsetzte Staunen nicht schildern, mit dem beide an den Lippen des Erzählers hingen. Erst als Frank längst zu Ende war, fand Horace zuerst die Rede wieder. »Ist das alles wahr?« fragte er atemlos.

»Jedes Wort – das arme Mädchen!« sagte Frank.

»Dann,« sagte Horace mit unerschütterlicher, unfehlbarer Miene, »dann können wir ihr nie verzeihen, sie niemals wiedersehen.«

Er sah Herbert an, als erwarte er das gewohnte Echo, doch diesmal blieb es aus.

Frank stand auf. »Gut, dann ist nichts weiter darüber zu sagen. Ich will meiner Frau sagen, sie solle sich fertig machen. Welches ist der beste Gasthof in Blacktown?«

Das war ein grausamer Stich. Carruthers hatte ganz recht, als er sagte: es gehöre viel dazu, bis die Talberts auch nur einen Hund von ihrer Schwelle stießen.

»Laß uns einen Augenblick Zeit, die Sache zu überlegen und zu besprechen,« sagte Herbert.

»Gut. Ich gehe zu meiner Frau in den Garten; ich kann euch aber nicht mehr als zwanzig Minuten Zeit lassen, weil fast alle unsere Sachen ausgepackt sind und es spät wird.«

Ehe er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal um und sagte mit tiefem Ernst: »Wenn ihr diese Sache besprecht, vergeßt nicht, daß wir einander für immer fremd sein müssen, wenn ihr nicht vergeben könnt. Wenn ihr sie verstoßt, gebt ihr der Welt ein Recht, zu sagen, was sie will. Erinnert euch auch, daß sie mein Weib ist, daß sie euch lieb hat und in diesem Augenblick mit Angst eure Entscheidung erwartet.«

Damit verließ er sie, ging in den Garten, schlang – außer Sehweite des Hauses – seinen Arm um Beatrice und bat sie, guten Mutes zu sein.

Es waren noch keine zwanzig Minuten vergangen, als schon Whittaker kam und bat, die Herrschaften möchten zum Thee kommen.

Frank lächelte und führte die zitternde Beatrice ins Haus. Kaum hatte der Diener das Zimmer verlassen, so begann Horace feierlich: »Meine liebe Beatrice, wenn du und Frank euren Aufenthalt bis morgen in acht Tagen verlängern würdet, könnten wir einige Freunde zum Essen bitten; die Zeit ist zwar kurz, aber die Umstände entschuldigen dies gewiß.«

Carruthers lächelte befriedigt. Er wußte, daß in Anbetracht dessen, wer der Sprecher war, die rücksichtsvollen, zart gewählten Worte nicht nur bedeuteten, daß die Brüder der Schuldigen vergeben und nicht mehr über ihre Missethaten reden wollten, sondern daß sie auch der Welt nötigen Falls zeigen würden, daß sie auf ihrer Seite stünden. Es war ein Sieg. Die Sache war gewonnen und es wurde nicht mehr darüber gesprochen; nur konnte sich Beatrice nicht enthalten, einige Thränen auf Horaces tadellosen Hemdeinsatz fallen zu lassen und einige Zeit Herberts Hand in der ihren zu halten.

Natürlich mußte auch Sir Maingay alles erfahren, und somit auch Lady Clauson. Es war für diese Dame sehr befriedigend, sagen zu können, daß dieses Mädchen also doch »etwas Ehrloses gethan habe«; da sie aber viel auf die Ehre der Familie ihres Gatten gibt, wird sie die Freude darüber, daß sie Beatrices Charakter immer so richtig beurteilt hat, bei sich behalten.

Auch andere Leute in Oakbury werden ein gut Teil darüber hören, ihre Köpfe schütteln und klatschen. Aber glücklicher- oder unglücklicherweise wird sich das Leben von Herrn und Frau Carruthers nicht unter den Familien »von Stellung« abspielen, und so wird sie auch solcher Klatsch wenig berühren. Sie werden in der großen Welt von London leben und Frank Carruthers wird – oder wird vielleicht auch nicht – ein berühmter Mann werden. Auf jeden Fall wird er aber ein glücklicher sein.

Und Beatrice? Beatrice wird einen Kreis von Freunden um sich bilden. Weder sie noch Frank machen ein Geheimnis daraus, daß sie zweimal verheiratet war und daß der kleine Harry ihr Kind aus erster Ehe ist. Und sollte man auch eines Tages die Köpfe zusammenstecken und zischeln, sie habe sich aus nur ihr bekannten Gründen jahrelang für unverheiratet ausgegeben, als sie längst Frau und Mutter gewesen, was hat das zu bedeuten? Es ist besser, als sich für eine Frau auszugeben, wenn man ledig ist.

Die Gesellschaft ist wie eine Katze, angenehm und freundlich, wenn man sie in der rechten Richtung streichelt. Frank und Beatrice sind reich, gastfrei, gütig, hübsch und jung und Frank hat Aussicht, ein berühmter Mann zu werden. In solchen Fällen sind die guten Freunde nachsichtig und kümmern sich nicht viel um die Vergangenheit. Außerdem kann jeder, der Frau Carruthers' Vergangenheit nachforscht, alles erfahren, was zu erfahren ist.

Nein – nicht alles – das Mittel nicht, durch welches sie glücklich geworden ist. Das ist nur einer bekannt, einer bleichen, wildblickenden Frau, deren hagere Züge jeden Tag noch hagerer werden, deren Zustand Tag für Tag hoffnungsloser wird. Nur sie, das Opfer des trostlosesten Glaubens, den die Welt bis jetzt gekannt hat – doppelt trostlos, weil er logisch und unwiderlegbar ist – nur sie allein weiß, auf welche Weise Beatrices Freiheit und Glück gesichert worden ist.

Aber sie wird sterben und an die Stätte gehen, die für sie bereitet ist; sie wird sterben und das Geheimnis mit sich nehmen.

 

Ende.

 


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