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Viele Stunden lang befand sich Sarah Miller in glücklicher Unwissenheit darüber, daß dieselben Räder, die sie ihrem Bestimmungsort zuführten, in der Person Maurice Herveys auch Unglück und Verderben mit sich führten. Die Reisegefährten sahen einander erst am nächsten Morgen, als der Zug schon von Paris abgefahren war. Sarah war, sobald sie sich an Bord des Dampfers befand, der von Dover nach Calais fährt, unsichtbar geworden. Die Ueberfahrt war stürmisch gewesen und die Seekrankheit versteht es, auch einen tief in Gedanken versunkenen Geist in die Gegenwart zurückzurufen. Sarah hatte während der Ueberfahrt sehr gelitten und suchte, sobald sie sich wieder im Eisenbahnzug befand, Erholung und Ruhe im Schlummer. Auch Hervey, der durchaus nichts überstürzen und seine Anwesenheit nicht vorzeitig verraten wollte, hatte sich der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen.
Aber einige Zeit, nachdem der Zug Paris verlassen hatte, trat Sarah aus ihrem bequemen Coupé in den langen, schmalen Gang des Wagens hinaus und traf dort mit Maurice Hervey zusammen. Er rauchte und betrachtete die vorüberfliegende Landschaft durch die Fenster an der Seite des schmalen Ganges. Er drehte sich um, sah Sarah an und lachte in grausamer Freude, als er ihr Entsetzen und ihre Ueberraschung bemerkte.
»Sie!« stöhnte sie, »Sie sind mir gefolgt!«
»Auf jedem Schritt, teure Sarah, seit Sie meine bescheidene Wohnung verlassen haben.«
Sie wandte sich um und ging wieder in das eben verlassene Coupé zurück; Hervey folgte ihr und warf sich auf den Sitz nächst der Thüre. Der Zug war nicht sehr besetzt und die Coupés klein, so kam es, daß die beiden allein blieben.
Es war bezeichnend für den grausamen Charakter dieses Mannes, daß er sich über die Qual freute, die er der Frau während der Dauer ihrer Reise dadurch bereiten wollte, daß er ihr seine unwillkommene Gesellschaft aufdrängte.
»Ja, ja, Sarah,« sagte er höhnisch, »ich bin Ihnen gefolgt und werde nicht von Ihrer Seite weichen, bis Sie mich zu meiner geliebten Gattin geleitet haben. Diesmal brauchen Sie nicht an ein Entwischen zu denken; um Ihnen weitere Mühe zu sparen, kann ich Ihnen gleich mitteilen, daß ich weiß, daß Sie nach München reisen. Welch kluge Frau Sie sind, Sarah, ich bin Ihnen so sehr verbunden.«
Sie rang krampfhaft die Hände, dann verhüllte sie stöhnend ihr Gesicht. Sie hatte nach bestem Wissen und Willen gehandelt, und doch hatte dieses Mannes List sie besiegt. Sie, die Leib und Seele für ihre geliebte Herrin dahingegeben hätte, verursachte ihr nur neue Leiden, neue Qualen!
»Na, Sarah,« sagte Hervey, »das Spiel ist verloren, Sie müssen sich schon darein finden. Aber seien Sie nicht langweilig! Stopfen Sie mir lieber hier meine Pfeife, ich kann den rechten Arm noch nicht brauchen.«
Sie beachtete diese Aufforderung gar nicht; plötzlich erhob sie aber den Kopf, sah ihn an und sprach mit leiser, feierlicher Stimme: »Lassen Sie sich warnen! Noch einmal sage ich Ihnen, lassen Sie sich warnen, solange es Zeit ist. Verlassen Sie diesen Zug auf der nächsten Station. Fliehen Sie, dieweil Sie es noch können.«
Er lachte verächtlich. »Das ist Ihnen ja selbst nicht Ernst!« entgegnete er.
Sie sprach kein Wort weiter, sondern sank in ihre Ecke zurück, und keine Frage, keine Herausforderung Herveys vermochte ihr Schweigen zu brechen. Stunden auf Stunden verrannen; Sarah Miller rührte sich nicht; aber in ihr tobten und schwirrten die Gedanken in wirrem Durcheinander; nur der eine Gedanke trat aus dem Wirrwarr immer wieder klar hervor: Sie führte diesen Mann zu ihrer Herrin!
Seit sie London verlassen hatte, war weder Speise noch Trank über ihre Lippen gekommen; jedes Bedürfnis zu essen oder zu trinken war verschwunden, als sie Maurice Hervey erblickt hatte. Ihre Hände brannten wie Feuer, in ihren Adern glühte das Fieber, ein dicker Nebel schien sich immer enger um sie zu schließen, der alles um sie her verhüllte, bis auf das Gesicht ihres Quälers. So enteilten die Stunden.
Hervey ließ sich sein Essen in das Coupé bringen und stärkte sich in kurzen Zwischenräumen auch mit Brandy und Wasser, wozu er Cigarren rauchte, über deren Beschaffenheit er beharrlich schimpfte. Ab und zu stand er auf und ging in den schmalen Gang hinaus, um seine Glieder ein wenig zu recken und zu strecken, aber er behielt das arme Weib scharf im Auge. Nicht eine Sekunde ließ seine Wachsamkeit nach; ab und zu schleuderte er seiner Gefährtin eine höhnische Bemerkung zu, die diese in ihrer Verzweiflung nicht zu bemerken schien: ihre Hände wurden immer heißer, ihre Pulse gingen immer schneller.
Die Sonne ging unter, die Dämmerung schwand dahin; die Lampen wurden angesteckt. Jede Stunde, jede Minute brachte Beatrice den neuen Kummer näher und näher. Lange ehe ein neuer Tag anbrach, würde der Zug München erreichen. Dieser Gedanke trieb das bleiche Weib dem Wahnsinn in die Arme.
Bald nachdem der Zug Stuttgart verlassen hatte, wollte der Schaffner die Betten zurecht machen, doch Sarah hatte kein Bedürfnis, sich zur Ruhe zu legen, und auch Hervey beschränkte sich darauf, aufs neue Branntwein zu bestellen.
Wieder blieben die Reisenden allein. In weniger als fünf Stunden mußte die Reise zu Ende sein.
Da plötzlich zuckte eine Eingebung durch des Weibes gestörten Geist – diese Eingebung machte ihr alles klar. Ihre Augen leuchteten in irrem, unheimlichem Glanz. Sie sah, oder glaubte wenigstens zu sehen, wozu all dies führen sollte. Gottes Hand lenkte alles.
Hatte sie nicht einen Traum geträumt, in dem Maurice Hervey auch eine Rolle gespielt hatte! Hatte sie nicht schon, als sie ihn zum erstenmal sah, auf seiner Stirne gelesen, daß seine Tage gezählt seien? Wußte sie nicht ebenso sicher, daß Beatrice in dieser und jener Welt glücklich werden sollte, als sie überzeugt war, daß sie selbst im voraus zur ewigen Verdammnis bestimmt worden sei? Die Stunde der Befreiung nahte; die Eingebung, die ihr sagte, daß ihr Werk von Erfolg gekrönt sein würde, konnte nicht von einem Lügengeiste ausgegangen sein. Gottes Hand hatte sichtbar eingegriffen. Er hatte Hervey diese Reise unternehmen und sein Wort brechen und so das Schicksal herausfordern lassen, was durch die furchtbaren Worte angekündigt wurde, auf die sein Finger glücklicherweise gedeutet hatte. Diese Reise, die mit betrügerischer Absicht und Gottes Warnung zum Trotz begonnen worden war, würde Hervey nie zu Ende bringen.
Sie las in dem Lichte ihres wilden Glaubens Gottes Willen so deutlich, als ob er in feurigen Buchstaben niedergeschrieben gewesen wäre.
Wenn die Grenzlinie zwischen Fanatismus und Wahnsinn in dem Geiste der armen Frau noch nicht ganz zerstört war, so war sie doch schon verwischt und schwach und undeutlich geworden. Sie befand sich am Rande des Wahnsinns und die Methode, die manchmal in demselben liegt, zeigte sich auch bei ihr und trat an die Stelle der sonstigen geistigen Fähigkeiten.
Nun es ihr durch göttliche Eingebung klar geworden war, warum es diesem Manne gestattet worden, ihrer Spur zu folgen und sich kurze Zeit seines Sieges zu freuen, war sie begierig, auf welche Weise die göttliche Hand eingreifen würde. Sie wartete auf den Augenblick, in dem ihm durch irgend eine, anscheinend irdische, Begebenheit der Becher der Siegesfreude von den Lippen gerissen würde. Sie wartete und wartete, doch die Stunden enteilten und immer noch ereignete sich nichts; doch ihren Glauben vermochte nichts zu erschüttern und sie war überzeugt, daß noch im letzten Augenblick die Erlösung kommen müsse.
Ein oder zweimal blickte sie auf den Mann ihr gegenüber und jedesmal schien ihr das verhängnisvolle Zeichen auf seiner Stirne deutlicher hervorzutreten. Sie hatte kein Mitleid mit ihm und doch empfand sie ein gewisses Weh bei dem Gedanken, daß er, ein Mitmensch, schon in der allernächsten Zeit an dem für ihn bestimmten Orte liegen würde und dort liegen bleiben müßte in Zeit und Ewigkeit!
Im Laufe der Zeit trat der Wahnsinn – wenn man es so nennen darf – von dem sie befallen worden, immer ausgesprochener hervor. Trotz ihres Anspruchs auf Ueberlegenheit ist, bei Licht betrachtet, die Seele doch nur der Sklave des Körpers; sie kann das Joch wohl eine Weile lang abschütteln, aber bälder oder später wird sie unfehlbar seinen Druck empfinden. Ueberanstrengung und Mangel an Nahrung vollendeten, was die Verzweiflung begonnen hatte. Doch ihr selbst schien es, daß sie nie klarer gesehen, nie richtiger gedacht habe, als in diesem Augenblick, in dem ihr Geist über das Erträgliche hinaus angespannt war.
Wie würde Gott handeln? Würde der Todesstreich diesen Mann treffen, während er hier saß? Würde sich etwas Entsetzliches begeben? Würde der ganze Eisenbahnzug verunglücken? Sobald dieser Gedanke in ihr aufgestiegen war, begann sie bei jedem Stoß der Räder zu erbeben und glaubte, der Augenblick sei gekommen.
Nein! Dies konnte doch nicht die Absicht des Allmächtigen sein. Für so unbarmherzig sie auch, nach der Lehre ihres Glaubens, den hielt, zu dem sie ihre Gebete emporsandte, so machte ihr doch ihr Gerechtigkeitssinn die Annahme unmöglich, daß Gott so viele Menschenleben opfern wolle, nur um Maurice Hervey zu vernichten. Sie mußte warten, geduldig und gläubig warten, und Gottes Wege nicht zu ergründen suchen! Aber die Frist wurde immer kürzer.
Plötzlich fiel sie auf die Kniee nieder und flehte zu Gott, er möge alles klar machen vor ihr und der Qual der Ungewißheit ein Ende bereiten. Hervey sah ihr zu und lachte hell auf: »So ist's recht, Sarah! Vernachlässigen Sie nur Ihre religiösen Pflichten nie! Ich fürchte nur, Sie werden sich aus Ihrer gegenwärtigen Lage nicht herausbeten können; aber Sie können's immerhin versuchen. Probieren geht über Studieren!«
Der Klang seiner Stimme gab ihren Gedanken eine andere Wendung.
In diesem Augenblick ward ihr Gebet erhört und alles klar vor dem Auge ihres Geistes. Die Wolken, die sie umgeben hatten, zerrissen oder, wenn man lieber will, schlossen sich so fest um sie, daß nichts sie mehr zu durchbrechen vermochte.
Noch immer lag sie betend auf den Knieen und starrte den frevelnden Sprecher an.
In diesem Augenblick erschrak er über den Ausdruck ihres Gesichtes trotz der Verachtung, die er für ihre religiösen Schrullen hatte. Und wohl hatte er Grund, zu erschrecken!
Ja, sie weiß jetzt alles. Sie weiß, warum sie lebt, sie weiß, daß sie wie Judith und Jael dazu bestimmt ist, eine entsetzliche That zu vollführen. Schon Jahrtausende vor ihrer Geburt ist sie, Sarah Miller, von Gott dazu bestimmt worden, diesen Mann aus dem Wege zu räumen, der sich dem Glück eines der Erwählten entgegenstellt! Mit wirrem Geist, der nur für diesen einen furchtbaren Gedanken noch Raum hatte, erhob sich das Weib von ihren Knieen und nahm ihren Sitz wieder ein.
Ja, alles ermöglicht ihr, wie sie glaubt, die Ausführung der Absichten der Vorsehung, die Einsamkeit, die Nacht, die Hilflosigkeit des Mannes sogar – alles erleichtert ihr die Aufgabe! Die Gelegenheit ist da, nur die Mittel zur Ausführung fehlen. Doch diese werden ihr im rechten Augenblicke gegeben werden. Es wird ihr gezeigt werden, wie sie, ein schwaches Weib, einen starken Mann ums Leben bringen soll.
Wenig ahnte Maurice Hervey, der infolge des Genusses von Cigarren und Brandy und der Ermüdung halb schlummernd in einer Ecke lehnte, welche Gedanken die Frau an seiner Seite bewegten! Für ihn war sie nichts als ein hohlköpfiges Geschöpf, das einst sehr viel dazu beigetragen hatte, ihn ins Verderben zu stürzen, für was er sich, wie er mit Recht annahm, in diesem Augenblick gründlich rächte.
Aber wie sollte sie es vollbringen? Die Zeit enteilte und noch war ihr der Weg, den sie zu betreten hatte, nicht vorgezeichnet! Doch sieh! Die Augen des Mannes waren geschlossen! War der rechte Augenblick gekommen? Wenn sie ein Messer hätte, könnte sie es ihm jetzt ins Herz stoßen! Aber sie hat kein Messer, hat nichts, das ihre oder vielmehr Gottes Absicht fördern kann. Doch halt! Hat sie nicht in der Reisetasche eines Mitreisenden eine Pistole gesehen? Ist ihr diese nicht nur gezeigt worden, damit sie das Mittel zur Erfüllung ihrer Sendung finden kann? Wenn dem so ist, wo findet sie die Pistole, wie kann sie sich dieselbe verschaffen? Sie verläßt, von Herveys wachsamen Blicken verfolgt, das Coupé und läuft in dem schmalen Gange, auf den alle Coupéthüren führen, hin und wieder, aber alle Thüren sind verschlossen, alles scheint zu schlafen; sie und ihr Gefährte allein sind wach, und der einzige Ton, den sie vernimmt, ist das Schnauben der Lokomotive und das Geräusch der Räder, die immer weiter rollen durch die Nacht.
Die Frau nimmt ihren alten Platz wieder ein; ein letzter Rest von gesundem Menschenverstand sagt ihr, daß sie sich der Verhaftung und einem Verhör, die Geschichte ihrer geliebten Herrin aber der Oeffentlichkeit preisgibt, wenn sie den Mann auf diese Weise tötet. Nein, sie muß noch eine Weile warten; der Herr hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen, ihr noch nicht deutlich gezeigt, in welcher Weise sie seinen Willen zu erfüllen hat. Ihr Glaube aber weicht und wankt nicht.
Doch bald wird das Ende der langen Reise erreicht sein; noch einige Minuten und der Zug fährt in München ein; Hervey, den die Not des Mittels beraubt hat, die Zeit genau zu bestimmen, schlummert halb, aber wie ein Hund, ohne einen Augenblick in seiner Wachsamkeit nachzulassen. Plötzlich ertönt ein lauter, schriller Pfiff. Der Mann fuhr völlig wach in die Höhe und seit vielen Stunden zum erstenmal zuckte der Zweifel durch Sarahs Seele, ob sie auch wirklich den Willen des Herrn richtig verstanden habe. Die Zeit war so kurz. Es war noch so viel – so sehr viel zu vollbringen. Noch immer lag der Pfad vor ihr im Dunklen. Würden ihn die nächsten Augenblicke erhellen? Sie preßt die Hände zusammen, so fest, daß sich die Nägel der Finger tief in das Fleisch eingraben. Sie erhebt sich und willenlos, mechanisch, wie in einem Traume, eilt sie den schmalen Gang entlang, öffnet die Thüre am Ende des Wagens und tritt hinaus. Hervey folgt ihr auf dem Fuße nach, schließt die Thüre hinter sich und der Mann und die Frau stehen allein auf der eisernen Plattform, die sich stets zwischen zwei Eisenbahnwagen befindet.
Der Zug sauste mit ungeminderter Eile dahin. Durch seinen schnellen Lauf verwandelte er die an sich ruhige Luft in einen scharfen Wind. Des Weibes dunkle Haare hatten sich gelöst und flatterten gespenstisch um sie her. Eine große schwarze Gestalt mit bleichem, totenbleichem Antlitz und glühenden Augen starrte sie so beständig nach dem Ort ihrer Bestimmung hin, dem sie der Zug so ungestüm entgegenführte, als ihre Gedanken sich dem Werke zuwandten, zu dessen Ausführung sie, wie sie glaubte, vorherbestimmt war. Die Nacht ist dunkel, der Mond hat sich hinter den Wolken versteckt; in kurzer Entfernung schimmern bereits die Lichter der großen Stadt; Sarah Millers Augen sind fest auf diese Lichter gerichtet; ihre Lippen stammeln unvernehmliche Worte.
Kurze Zeit steht Hervey schweigend neben ihr, dann sagt er: »Es nützt nichts, Sarah. Sie können mir nicht entwischen; ich folge Ihnen überallhin. Seien Sie ausnahmsweise vernünftig und machen Sie mir keine weitere Mühe.«
Auch sie spricht, doch nicht, um auf seine Worte zu antworten.
»Die Glut, die rote Glut!« rief sie mit durchdringender Stimme. »Sieh sie an! Sieh sie an! Weißt du, was das für dich und für mich bedeutet?«
Ehe er die Frage beantworten kann, thut sie es selbst. »Das ist die rote Glut der Hölle!« schreit sie wild, »das ist die Glut des Feuers, das mich und dich erwartet! Das Geschrei! Hörst du das Geschrei der Verdammten?«
Wiederum läßt die Pfeife ihren schrillen Ton durch die Nacht erklingen. Im nächsten Augenblick wären schon die Bremsen auf die großen Räder gefallen. Hervey, geärgert durch das wilde Wesen seiner Gefährtin, sagt barsch und herrisch: »Keinen Unsinn hier!«
Das waren seine letzten Worte. Plötzlich, ohne daß er es voraussehen kann, stürzt sich die Wahnsinnige auf ihn; ihre Arme umklammern ihn mit der ganzen Stärke, die der Irrsinn verleiht; er verliert das Gleichgewicht und taumelt rückwärts. Mit seinem verletzten Arm greift er wild nach dem eisernen Geländer, kann es aber nicht erfassen, stürzt, von den Armen der Frau noch immer umschlungen, über die drei oder vier Stufen rücklings hinab auf den Bahnkörper; sein Angstruf verhallt ungehört.
In einem Augenblicke war alles vorüber; der Zug eilte weiter und ließ eine dunkle Masse hinter sich zurück, die regungslos zwischen den zwei Bahngeleisen liegen blieb. Noch im letzten Augenblick hatte sich der Wille des Herrn Sarah Miller geoffenbart, und noch im Sturze frohlockte sie, daß es ihr vergönnt war, denselben auszuführen.
Noch mehrere Minuten, nachdem der letzte Wagen des Zuges vorbeigefahren war, blieb die dunkle Masse regungslos liegen; dann kam Leben und Bewegung in dieselbe und bei einem Teil wenigstens zeigten sich wieder Spuren des Lebens. Langsam, unter Schmerzen, machte sich Sarah von ihrem Opfer los; sie half sich auf die Kniee und starrte einen Augenblick regungslos in das bleiche Antlitz vor ihr. Ihr wilder Wahnsinn war verflogen und in diesem Augenblick wußte sie kaum, was geschehen war, was sie gethan hatte.
Sie war unverletzt geblieben; der Mann, auf den sie gefallen war, hatte die Haupterschütterung durch den Sturz erlitten; sein Kopf war auf den Kiesgrund der Bahnlinie schwer aufgeschlagen, und Hervey lag regungslos, ohne Bewußtsein vor der Frau. War er tot?
Dies war die einzige Frage, die sich Sarah stellte, als ihre Gedanken wieder die fürchterliche Richtung einschlugen, in die sie ihr religiöser Fanatismus gedrängt hatte. Sie empfand in diesem Augenblick keine Reue, keinen Schrecken, wohl aber ward sie von der Angst ergriffen, das Werk sei noch nicht vollbracht, sie habe ihre Sendung noch nicht erfüllt. Sie beugte sich herab auf den hingestreckten Mann und legte ihre Wange an seinen Mund.
Er atmet noch! Sie fühlt seinen Atem an ihrer Wange. Sie legt ihre Hand auf sein Herz und fühlt deutlich, daß es noch immer schlägt! Mit einem wilden, verzweifelten Schrei springt sie auf ihre Füße. Es ist ihr nicht gelungen! Er atmet und wird wieder zu sich kommen! Noch ist das Werk nicht vollbracht!
Sie starrt hinaus in die finstere Nacht. Sie weiß selbst nicht, was ihre Blicke verlangend suchen, vielleicht ein Stück Eisen, einen Stein, der ihr beweisen würde, daß die Hand, die sie auf dem schrecklichen Pfad so weit geführt, sich nicht von ihr zurückgezogen hat; aber sie findet nichts, gar nichts, was sie aus ihrer Not erretten kann.
Da plötzlich bewegt sich langsam, von dem Bahnhof her, ein rotes Licht und kommt näher und näher! Ihr Herz erbebt in wilder Freude bei diesem Anblick. Jetzt thut sich der Weg vor ihr auf, der Weg, der zum Ziele führt! Die letzte Eingebung war ihr geworden!
Sie schiebt die Hände unter die Schultern des Mannes und zieht ihn mit fast übermenschlicher Kraft auf das Geleise, dem heranfahrenden Zuge gerade in den Weg. Er stöhnt ein oder zweimal auf, bleibt aber besinnungslos und regungslos.
Das rote Licht kam näher, immer näher; der Mann lag still und rührte sich nicht. Die Frau wand sich, nachdem sie ihr unheimliches Werk vollbracht hatte, ihr schwarzes Tuch fest um den Kopf, sank auf ihre Kniee nieder und wartete und durchlebte ein Jahrhundert in jeder Sekunde.
Sie hörte und sah, wie das metallene Ungeheuer endlich vorüberfuhr, dann hörte und sah sie nichts mehr. Sie erhob sich schaudernd; ohne noch einen Blick auf ihr Opfer zu werfen, schritt sie über die Geleise, stieg die Böschung hinab und verlor sich in der Nacht. Sie hatte, wie sie glaubte, die ihr zugeteilte Aufgabe erfüllt. Maurice Hervey stand nicht länger mehr zwischen Beatrice und dem Glück!
Der arme Kerl war von der Maschine, welche Viehwagen von einem Nebengeleise abholen sollte, gerade entzweigeschnitten worden. Der Lokomotivführer hatte ein leichtes Hindernis gefühlt und sich die Stelle gemerkt; er ließ auf dem Rückweg den Zug an derselben halten und wußte nun, was den kurzen Stoß verursacht hatte, wußte, daß in jenem Augenblick ein Menschenleben vernichtet worden war.
Der Körper wurde aufgehoben, in einen der Viehwagen gelegt und so auf den Bahnhof von München befördert, von wo er an den Ort gebracht wurde, der zur Aufnahme unbekannter Menschen, die eines gewaltsamen oder plötzlichen Todes sterben, bestimmt ist.