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In Blacktown beehrte Maurice Hervey keinen Gasthof mit seiner Kundschaft. Er setzte vermutlich nicht viel Vertrauen in die Fähigkeit der Blacktowner Gasthöfe, ihm solche Leckerbissen zu liefern, wie er sie nach einer so langen und gezwungenen Enthaltung zu beanspruchen sich berechtigt fühlte. Vielleicht sehnte er sich auch nach der Stille und der Ruhe, die man gewöhnlich in einem Privathause zu finden hofft. Nach kurzem Suchen fand er dann auch ein gut möbliertes Schlaf- und Wohnzimmer mit hübscher Aussicht. Das Haus, in dem er gemietet hatte, lag in einer guten Straße und war durch allerlei Schicksalsschläge von einem eleganten Privathaus zu seiner jetzigen Stellung als Logierhaus herabgesunken. Nachdem Hervey die Forderung der Wirtin, an die sich natürlich noch eine endlose Reihe Extraauslagen anhängte, bewilligt hatte, bat er, man möchte ihm ein Mittagessen bereiten. Dies bedeutete natürlich Hammelrippchen – unvorbereitete Mittagessen in derartigen Häusern sind ja immer gleichbedeutend mit Hammelrippchen. Hervey wünschte die seinen ausdrücklich gebraten und nicht gekocht. Während dieselben zubereitet wurden, ging Hervey zu einem Weinhändler, von dem er sich sechs Flaschen Whiskey ins Haus schicken ließ, welches Anzeichen eines längeren Aufenthaltes das Herz der Hauswirtin erfreute. Mit Hilfe von Whiskey, heißem Wasser, Zucker und Cigarren, verbrachte der neue Mietsherr einen ganz angenehmen Abend.
Morgens machte er einen Ausfall. Wie jeder Fremde, der Blacktown besucht, schien auch er geneigt, die Naturschönheiten der Vorstädte zu bewundern. Die Vermieterin, die ihn für einen hübschen, angenehmen, offenherzigen Herrn hielt, gab ihm eine ganze Liste von Sehenswürdigkeiten an, aber sobald er aus dem Hause getreten war, erkundigte er sich nach dem Wege nach Oakbury und erfuhr, daß ihn ein angenehmer Spaziergang von einer Stunde an diesen bevorzugten Ort bringen werde. Da das Wetter schön aber kalt war, beschloß er, zu Fuß zu gehen. Bald hatte er Kaufläden und Häuser hinter sich gelassen und schritt eine breite, weiße Landstraße entlang, die sich zwischen grünen Rasenflächen dahinzog, und stand nach etwa drei Viertelstunden vor der Thüre des Wirtshauses zum »Roten Löwen« in Oakbury.
Er trat in die Schenke, ließ sich Branntwein und heißes Wasser geben und begann, während er sich eine Cigarre ansteckte, ein lustiges Gespräch mit dem Roten Löwen und dessen Löwin. Der Rote Löwe war ein recht leutseliges, gesprächiges Tier, das, sobald es merkte, daß der fremde Gast nicht unzugänglich sei, sich in dessen Nähe setzte und die Bedienung der anderen Gäste der Löwin allein überließ.
Hervey stellte verschiedene Fragen über die Nachbarschaft an den Wirt und erhielt die wertvollsten Mitteilungen über die Bewohner dieses oder jenes Hauses. Er war eben im Begriff, die Unterhaltung vorsichtig auf das zu bringen, was er wissen wollte, als man das Geräusch von Rädern vernahm und der Löwe, nachdem er einen Blick durch das Fenster geworfen hatte, seine Pfeife weglegte und hinausging. Hervey sah durch das Fenster zwei große Herren, die ernst und traurig mit dem Wirte sprachen, der ihnen ehrerbietig zuhörte, sich aber nicht ganz wohl bei der Sache zu fühlen schien.
»Was ist denn los, Joe?« fragte die Löwin etwas ängstlich, als ihr Gatte wieder ins Zimmer trat.
»Sie sagen, das letzte Bierfaß sei zwei Tage zu früh leer geworden, deshalb könne es nicht voll gewesen sein. Sie kümmern sich auch um jede Kleinigkeit.«
»Unsinn,« sagte die Löwin und schüttelte den Kopf, »es wird jemand dahinter gegangen sein, ihre Dienstboten sind auch nicht besser als die anderer Leute.«
»Wer sind sie?« fragte Hervey.
»Die Herren Talberts von Hazlewood House,« entgegnete die Wirtin mit einem gewissen Lächeln, das bei vielen Leuten unwillkürlich zum Vorschein kam, wenn die Namen der Talberts genannt wurden.
Hervey trat ans Fenster und sah dem Wagen nach, der rasch davonfuhr.
»Reiche Leute vermutlich,« sagte er.
»Reich genug, aber so eigen!« sagte die Löwin, die den Vorwurf des schlechten Maßes noch nicht verschmerzt hatte.
»Geizig?« fragte Hervey.
»Na, sie sind wohl genau,« sagte der Löwe, »das heißt, sie wollen für einen Schilling eines Schillings Wert haben.«
»Das wollen wir alle. Geben Sie es auch mir jetzt. Zwei Gläser – eines für mich und eines für Sie!«
Der Löwe lachte und füllte die Gläser. Hervey stellte noch einige geschickte Fragen in betreff der Talberts und hatte bald alles erfahren, was überhaupt zu erfahren war. Es war recht gut, daß die Brüder die Schilderung ihrer Eigenheiten nicht mit anhören konnten – sie hätten sonst wahrscheinlich ihr Bier nicht mehr aus dem »Roten Löwen« bezogen.
»Es sind eigentümliche Kameraden,« sagte der Wirt. »Sie werden es kaum glauben wollen! Vor einem oder zwei Tagen fuhren sie auf der Straße an mir vorbei; Herr Talbert kutschierte und Herr Herbert saß neben ihm. Es goß wie mit Kübeln; plötzlich halten die Herren vor ihrer Hecke, Herr Herbert steigt ab, nimmt die Peitsche und schlägt wie wütend in die Hecke hinein. Ich laufe hinzu, weil ich denke, es ist etwas geschehen. Was ist los? Er haut mit der Peitsche so lange nach einem Stückchen Papier, das in die Hecke geflogen ist, bis es herausfällt, und sein Bruder läßt sich unterdessen geduldig voll regnen.«
Hervey zeigte sich sehr belustigt und forschte den Wirt weiter aus; bald wußte er alles von Beatrice, dem Kinde, von der Frau Miller, von Whittaker und so weiter. Als er die Geschichte von der geheimnisvollen Ankunft des Jungen hörte, zeigte sein Gesicht trotz seiner großen Selbstbeherrschung die äußerste Ueberraschung. Er stand auf und verabschiedete sich von dem »Roten Löwen«. Die Geschichte, die er soeben gehört hatte, mußte ihn in einem noch nicht dagewesenen Grade angezogen haben, denn er vergaß tatsächlich seinen Brandy mit Wasser auszutrinken – was als eine dem Erzählertalent des Wirtes dargebrachte Huldigung anzusehen ist.
Sobald Hervey die Schenke verlassen hatte, bog er in einen einsamen Seitenweg ein. Hier, wo er unbeobachtet war, ließ er seiner Freude freien Lauf; er rieb sich die Hände und lachte laut auf, aber sein Lachen hatte einen grausamen Klang und um seinen Mund spielte ein grausamer Zug. Seine Augen erglänzten vor Bosheit und Schadenfreude.
»Welches Glück!« rief er aus. »Welches Glück! Ich durchschaue alles! Es war ein kluger Streich! Jetzt hab' ich sie! Jetzt hab' ich sie!«
Er beruhigte sich, kehrte auf die Landstraße zurück und schlug den Weg nach Hazlewood House ein. Er betrachtete es sich von allen Seiten und sagte: »Geld, Geld genug!« Dann ging er an das Thor und blieb zögernd stehen, als ob er beabsichtigte, einen Besuch in dem Hause abzustatten; wenn dem so war, so gab er indes den Gedanken wieder auf.
»Nein,« sagte er und wandte sich ab. »Es muß ein neuer Umstand in Betracht gezogen werden. Es hat keine Eile, ich will alles ruhig überlegen.«
So schritt er nachdenklich auf der Straße nach Blacktown zurück. Plötzlich wurde er durch näher kommende Stimmen aus seinem Sinnen aufgeschreckt, er sah eine Frau und ein Kind sich entgegenkommen. Es war Frau Miller, die das herrliche Wetter zu einem Spaziergang mit Harry benutzt hatte. Er blieb stehen und sah sie an.
Hervey sah heute so ganz anders aus, als damals, wo ihn Frau Miller in Portland hinter dem Gitter erblickt hatte, daß sie ihn erst gar nicht erkannte. Er war jetzt modern gekleidet, und hätte es seinen Zwecken entsprochen, so hätte er die Frau im Vorbeigehen mit dem Ellbogen berühren und doch über seine Entlassung in Unwissenheit lassen können. Da dies jedoch nicht seine Absicht war, so blieb er stehen und ließ sie ganz herankommen. Natürlich schlug sie die Augen auf und erkannte sofort die Wahrheit.
Nur die Angst, das Kind zu erschrecken, hielt Frau Miller davon ab, einen Angstschrei auszustoßen, als sie in das triumphierende, höhnische Gesicht vor sich blickte. So atmete sie nur tief auf und starrte den Mann, den sie vor sich sah, an, als ob er ein Geist gewesen wäre. Dann beugte sie sich zu dem Kinde hinab und sagte: »Lauf zu, lauf zu, so schnell du kannst.« Der Knabe gehorchte. Hervey suchte ihn nicht zurückzuhalten, aber er drehte sich um und folgte ihm mit den Augen. Dann wandte er sich wieder zu Frau Miller, die einige Schritte an ihm vorbeigegangen war und sich so vor ihn stellte, als ob sie ihm den Weg nach Hazlewood House mit ihrem Leibe versperren wollte. Sie hatte sich nun von ihrem ersten Schrecken erholt und blickte ihn nicht sowohl mit Angst, als mit Haß und Trotz an.
»Was haben Sie hier zu suchen?« fragte sie heftig.
»Meine liebe Sarah,« sagte der Mann höhnisch, »wie können Sie so fragen! Nach dem lebhaften Anteil, den Sie an meiner Entlassung nahmen, ist es doch nur natürlich, daß ich Sie so bald wie möglich aufsuche.«
»Und nun Sie mich gefunden haben?«
»Meine arme Sarah, können Sie es nicht erraten? Wissen Sie nicht mehr, nach was ich mich, wie ich Ihnen ja sagte, sehnte, als Sie letzten Sommer die Güte hatten, mich zu besuchen? Ich bin zu Ihnen gekommen, um jemand anders zu finden.«
»Sie ist Hunderte von Meilen entfernt von hier. Sie werden sie niemals wieder sehen.«
Ihr Mut sank schon, während sie die Lüge aussprach, denn sie sah an dem Aufleuchten seiner Augen, daß sie vergeblich log. Er lachte wie jemand, der einen lustigen Spaß erlebt.
»Sie niemals wieder sehen,« sagte er, »ich bin untröstlich. Man trifft sich aber auch manchmal zufällig. Sie sind wohl nicht geneigt, mir irgend eine Mitteilung zu machen oder zu verkaufen?«
»Eher beiße ich mir die Zunge ab.«
»O du fromme und getreue Magd! Dann nutzt auch das Fragen nichts. Aber wie ist es denn mit Ihnen selbst, Sarah? Haben Sie eine gute Stelle?«
»Das geht Sie nichts an.« Wieder lachte er höhnisch.
»Ich würde mich freuen, wenn Sie eine recht gute Stelle hätten, Sarah; eine leichte Stelle, wie es für Ihr Alter paßt, denn Sie sind recht alt geworden.«
Sie antwortete nicht. Wieder ertönte sein Hohngelächter. Er deutete auf den goldhaarigen Knaben, der in einiger Entfernung stehen geblieben war und verwundert auf seine Beschützerin wartete.
»Sie sind wohl Kinderfrau?«
»Ja, ich bin Kinderfrau.«
»Und das ist wohl einer Ihrer Pfleglinge? Wohl der jüngste? Denken Sie, ich habe mir oft einen solchen Jungen gewünscht, Sarah. Ich glaube, daß der Keim zu allen häuslichen Tugenden in mir liegt. Was halten Sie davon, Sarah?«
»Ihr Herz ist schwarz wie die Sünde,« brach sie leidenschaftlich los. »Wollte Gott, Sie wären im Zuchthaus gestorben! Es war all die Jahre her mein tägliches Gebet.«
»Und hat doch nichts genutzt – das Gebet des Gerechten! Es muß da droben nicht alles in Ordnung sein, Sarah. Aber ich will Ihnen böse Wünsche mit guten vergelten. Ich kenne mich in der Nachbarschaft aus, und wenn ich eine Stelle für Sie zu wählen hätte, so wäre diese bei zwei ledigen Herren, Namens Talbert, die mit einer schönen unverheirateten Nichte, die Beatrice Clauson heißt, in Hazlewood House leben. Was wäre das für eine schöne Stelle für Sie, Sarah!«
Bisher hatte er mit ihr gespielt, wie die Katze mit der Maus. Nun aber zeigte er seine Krallen und sie sah, daß er alles wußte, was sie so sorgsam zu verbergen suchte. Sie stöhnte, aber kämpfte nicht mehr.
»Sie werden Geld nehmen?« fragte sie.
»O ja, Sarah, ich werde Geld nehmen.«
»Und fortgehen, ohne fernerhin zu stören? Sagen Sie mir, wo ich Sie morgen finden kann. Ich will kommen und alles in Ordnung bringen.«
»O nein, durchaus nicht. Ihre Einmischung wird nicht gewünscht, Sarah.« Sie stampfte heftig mit dem Fuß.
»Sagen Sie mir, was Sie wollen,« rief sie, »oder gehen Sie und thuen Sie Ihr Schlimmstes! Diesmal werden Sie es mit Männern, nicht mit Frauen zu thun haben.«
Sofort war aller Spott bei ihm verschwunden. Er faßte ihr Handgelenk und hielt sie fest; seine Augen bohrten sich in die ihren ein. »Hören Sie, Sie alte Hexe – Sie Katze! Alles, was Sie zu thun haben, ist, eine Bestellung zu überbringen. Gehen Sie sofort zu ihr. Sagen Sie ihr, ich sei hier, frei, mit einer Tasche voll Geld. Sagen Sie ihr, sie solle morgen in meine Wohnung kommen. Ich werde sie bis zwölf Uhr erwarten. Wenn sie nicht auf den Schlag da ist, so komme ich zu ihr, das schwöre ich. Haben Sie mich verstanden? Geben Sie Antwort!«
»Ja, ich verstehe.«
»Hier ist meine Adresse. Nun können Sie gehen und Ihre vernachlässigten Pflichten wieder aufnehmen. Ein süßer kleiner Junge das, Sarah.«
Ohne ein Wort weiter verließ sie ihn; er sah ihr nach und kicherte tückisch. Sie führte den Jungen nach Hause und gab ihm wie geistesabwesend sein Mittagessen; sie selbst aß keinen Bissen. Sie wußte, daß Beatrice um diese Zeit stets in das Kinderzimmer kam, um zu sehen, ob ihr Liebling mit Appetit gegessen habe, deshalb wartete Frau Miller auf sie und suchte sie nicht im Hause. Als die Kinderfrau den erwarteten Schritt vernahm, öffnete sie die Thüre und führte sie in das Schlafzimmer des Kindes nebenan. Beatrice folgte ihr, blickte sie an und wußte sofort, was geschehen war.
»Ist er gekommen?« flüsterte sie und wurde sehr bleich.
Frau Miller warf sich vor ihr auf die Kniee, ergriff ihre Hände und bedeckte dieselben mit Thränen und Küssen.
»Ach mein armer Liebling, mein armer Liebling,« stöhnte sie. »Ja, er ist gekommen, er ist gekommen! Der Herr hat meine Gebete nicht erhört. Ach, meine geliebte Herrin! Möchte er seinen mächtigen Arm ausbreiten und den Kummer fern halten, der Ihnen droht.«
Sie küßte Beatrices Hand; sie schmiegte sich an sie fast wie ein Kind. Ihre Herrin schien ihre Worte kaum zu hören, ihr Thun kaum zu bemerken.
»Es mußte ja kommen,« sagte sie träumerisch. »Ich habe es seit Wochen erwartet. Das Schwert schwebte über meinem Haupte. Ich wußte, daß es fallen mußte. Wo ist er?«
»Er war hier ganz in der Nähe,« sagte Sarah. Sie sah Beatrice zusammenzucken. »Er ist für eine Weile fortgegangen, nur ich habe ihn gesehen. Er hat mir einen Auftrag gegeben! Ach meine Liebe, Sie dürfen auf kein Erbarmen rechnen!«
»Ich erwarte keines und werde auch nicht darum bitten. Was trug er Ihnen auf?«
Frau Miller bestellte alles Wort für Wort und händigte ihr das Papier mit der Adresse ein. »Ich muß hingehen,« sagte Beatrice, »da ist nicht zu helfen. Der Schlag, vor dem ich wie ein Feigling zurückbebte, ist gefallen, die Schande, der ich nicht zu trotzen wagte, ist gekommen. Nun denn, wenn alles bekannt werden muß, so wird doch wenigstens mein Leben von dem Betrug befreit, der es mir seit Jahren zur Last gemacht hat.«
Sie wandte sich ab, ging in die Kinderstube und küßte den Knaben. Plötzlich warf sie der Kinderfrau einen angsterfüllten Blick zu. »Sie haben mit ihm gesprochen,« sagte sie, »hat er auch den Jungen gesehen?«
Frau Miller nickte traurig.
»Aber wußte er – erriet er –?«
»Er sagte nichts. Aber ach, mein armer Liebling, es lag etwas in seinem Wesen, das mich erzittern machte – etwas, das mir sagte, er errate alles.«
»Dann helfe mir Gott!« sagte Beatrice und verließ das Zimmer.
Sie ging in ihr Schlafgemach, wo sie stundenlang eingeschlossen blieb. Ihr ganzes Leben während der letzten fünf Jahre zog an ihrem Geiste vorüber – Jahre, die sie aus einem leichtherzigen, frischen Mädchen in ein trauriges, ernstes Weib verwandelt hatten, in eine Frau, die sich heute teils durch eigene Thorheit, teils durch die Grausamkeit und das Verbrechen eines anderen in einer so schlimmen Lage befand, wie nur jemals ein anderes Weib.