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Achtundzwanzigstes Kapitel.
»Ich kann dies Leben nicht weiter leben.«

Beatrice befand sich in München; in München mit seinen schönen Straßen, herrlichen Statuen, alten und neuen Palästen, Museen und Bildergalerien; in München, das sich kühn in einer offenen Ebene aufgepflanzt hat, weil es weiß, daß es ohne Scheu sehen lassen kann, was an und in ihm ist.

Beatrice wußte selbst nicht recht, warum sie gerade die Hauptstadt Bayerns zu ihrem Zufluchtsort erwählt hatte. Von London aus hatte sie ihren Onkeln wahrheitsgemäß geschrieben, daß sie über ihren künftigen Aufenthaltsort noch unschlüssig sei. Sie hätte damals ebensogut nach Paris, Brüssel, Wien oder Berlin wie nach München gehen können.

Sie entschied sich aus verschiedenen Gründen für Deutschland. Sie glaubte, wie die meisten Engländer – ob mit Recht oder Unrecht, wollen wir dahingestellt sein lassen – eine schutzlose, nicht ganz unschöne Frau sei in einer deutschen Stadt weniger Belästigungen ausgesetzt, als in einer französischen. Nebenbei glaubte sie auch besser deutsch als französisch zu können. Sie hatte sich von der wissenschaftlichen Strenge dieser Sprache so angezogen gefühlt, daß sie dieselbe gründlich studiert und es auch so weit gebracht hatte, deutsche Klassiker mit einer gewissen Leichtigkeit zu lesen. Sie glaubte, sie spreche geläufig genug deutsch, um eine gewöhnliche Unterhaltung führen zu können. Ach! Sie war nur eine der vielen, die erst, wenn Kehllaute, zusammengesetzte Hauptwörter und trennbare Partizipien wie Hagelkörner um ihre Ohren sausen, merken, welch ein Betrug die vielgerühmte phonetische Aussprache ist und wie viele Jahre man braucht, um sich inmitten der elefantenartigen Luftsprünge dieser Sprache wohl zu fühlen. Nichtsdestoweniger hatte sie wegen dieser und anderer Gründe sich für Deutschland entschieden.

Da die kleine Gesellschaft von Blacktown abgereist war, ohne irgend etwas mitzunehmen, außer der Hauptsache, dem Gelde, mußten noch eine Reihe notwendiger Einkäufe in London gemacht werden. Alles wurde jedoch so rasch besorgt, daß Beatrice noch den Abendzug benutzen und in der Nacht mit ihren Schützlingen über den Kanal fahren konnte. Dann erst atmete sie wieder leichter; in London war sie immer von der Furcht gequält gewesen, Hervey könne sie verfolgen und finden; sobald sie außerhalb Englands war, fühlte sie sich sicher.

Beatrice war indessen nicht aus Angst vor der Entdeckung ihrer unklugen Heirat und der Folgen derselben geflohen, obgleich sie gerne jährlich eine große Summe bezahlt hätte, solange ihr Gatte sie in Frieden ließ und das Geheimnis bewahrte. Gerne würde sie ein Abkommen getroffen haben, das es ihr erspart hätte, sich als Frau eines Schurken bekennen zu müssen. Gerne hätte sie alles gethan, was in ihrer Macht stand, um ihrem Vater, ihren Onkeln und ihren Freunden den Kummer zu ersparen, den ihnen eine Entdeckung jedenfalls bereiten mußte. Doch deshalb war sie nicht entflohen; ihr einziger Zweck war, ihr Kind vor dem Manne zu retten, der sein Vater war.

Sie glaubte, daß das Gesetz ihm den Knaben zuspreche; sie wußte, daß er Schurke genug war, ihr denselben durch Gewalt oder List zu entreißen, und hatte er erst das Kind in Händen, so war sie ihm ganz preisgegeben. Um wieder in den Besitz des einzigen Wesens zu kommen, das ihr geblieben war, das sie lieben konnte und durfte, hätte sie sich jeder, auch der demütigendsten Bedingung fügen müssen. Die Flucht gewährte ihr Aufschub und Zeit zur Ueberlegung; dies schien der einfachste und leichteste Ausweg, und so entschied sie sich für denselben.

Auf dem Festland reisten sie langsam und hielten sich oftmals auf, bis sie endlich an dem Ort ihrer Bestimmung – in München anlangten. Die Stadt schien ihren Zwecken ganz entsprechend; Beatrice mietete eine möblierte Wohnung und ein gutmütiges, flinkes, bayerisches Dienstmädchen und begann nun das ruhige Leben, das sie in den Briefen an ihre Onkel geschildert hatte.

Diese Briefe wurden an eine Freundin von Frau Miller nach London gesandt und von derselben dort zur Post gebracht. Beatrice fürchtete zwar, diese Briefe könnten durch irgend einen Zufall an ihr zum Verräter werden, allein sie schickte sie doch ab, weil es ihr gar zu unfreundlich geschienen hätte, ihre Onkel ganz ohne Nachricht zu lassen. An ihren Vater schrieb sie nicht; sie wußte, daß ihn ihr Thun und Lassen nicht ernstlich bekümmerte und daß jede an ihren Vater geschriebene Zeile, Lady Clausons boshaften Bemerkungen ausgesetzt gewesen wäre. Sie verließ sich darauf, daß Horace und Herbert ihrem Vater das Nötige mitteilen würden.

Beatrice machte wenig oder gar keine zufälligen Bekanntschaften. Es gibt Leute, die dies nie thun. Gerade wie es Männer gibt, die kein anderer Mann um Feuer bitten würde, so gibt es Frauen, denen andere Frauen nie entgegenkommen würden. Beatrice mit ihrem zurückhaltenden, aber höflichen Wesen, ihren klassischen Zügen und ihrem feinen Benehmen brachte jedem die Ueberzeugung bei, daß sie einem Staat gleiche, dessen Grenzen ohne vollgültigen Paß nicht überschritten werden dürfen. Ihre einzige Gesellschaft bestand also aus ihrem Knaben und ihrer treuen Sklavin, Frau Miller.

Man kann eine Mutter nicht tadeln, die trotz der zärtlichsten Liebe zu ihrem Kinde findet, daß dessen beständige und ausschließliche Gesellschaft nicht alle Anregung von außen ersetzen kann. Wie treu und verständig eine Dienerin auch sein mag, so kann die Herrin doch mit ruhigem Gewissen sich nach einer weiteren Gefährtin sehnen.

Auf diese Weise gestaltete sich Beatrices Leben so trübe und farblos wie möglich, und im Vergleich damit erschien ihr das frühere eintönige Leben in Hazlewood House voll Abwechselung und Zerstreuung.

Sie hatte wohl ihre Bücher und ihre Musik, aber niemand, mit dem sie über die ersteren sprechen konnte, und keinen, der der letzteren lauschen wollte. Sie nahm bei einem der zahllosen Künstler, die sich in dem großen Mittelpunkt des Kunstlebens aufhielten, Malstunde, aber dies war nur ein Mittel, ihr die Zeit zu verkürzen, und sie wurde von keinem höheren Ehrgeiz getrieben. Sie hatte auch ihre Gedanken, aber diese suchte sie so gut wie möglich zurückzudrängen und zu unterdrücken. Sie hatte nichts, auf das sie mit Freude zurücksehen, nichts, auf das sie mit Hoffnung vorwärts blicken konnte. Sie erinnerte sich oft an Carruthers' so fest ausgesprochene Behauptung, daß sie, trotz ihrer Art sich zu geben, ihren eigenen Traum von Glück haben müsse; und sie seufzte tief auf bei dem Gedanken, daß ihr jetzt das Leben weniger als je irgend eine Freude in Aussicht stelle, von der sie auch nur zu träumen wagen durfte.

Eines Nachmittags saß Beatrice allein in tiefen Gedanken in einem Zimmer, das sie ihr Atelier nannte. Sie hatte gerade einen jener regelmäßigen Briefe an ihre Onkel beendet; er lag adressiert, aber noch offen vor ihr. Sie kämpfte mit der Versuchung, Frank einen Gruß zu senden; sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er sie für kalt und herzlos halten müsse. Sollte sie ihrem Briefe noch eine Zeile beisetzen oder sollte sie an ihn selbst schreiben? Aber was konnte sie ihm sagen? Nichts, gar nichts! Hatte er bis jetzt die Wahrheit noch nicht erfahren, so mußte jede Botschaft von ihr, auch die förmlichste, aufs neue Hoffnungen erwecken, die nie verwirklicht werden konnten. Armer Frank! Warum mußte er sie auch lieben? Warum liebte sie ihn? Doch nein, sie war glücklich, daß sie ihn liebte, daß sie überhaupt noch die Fähigkeit zu lieben und zu vertrauen besaß. Hoffnungslos wie diese Liebe war, freute sie sich doch, einen Mann wie Frank, lieben zu können. Aber sie durfte ihm keinen Gruß, keine Nachricht schicken.

»Auch das ist ein Teil dessen, was mich meine Thorheit kostet,« sagte sie zu sich selbst, als sie den Brief siegelte. Ihre Augen standen voll Thränen; Frau Miller trat ein und bemerkte ihre Bewegung.

»Mein armer, süßer Liebling,« sagte sie. »Was haben Sie? Doch keinen neuen Kummer?«

»Nein, ist's nicht an dem alten genug?« sagte Beatrice.

Frau Miller blickte sie forschend an. »Sie denken an den Mann, der Sie liebt?« fragte sie sanft.

»Ja,« sagte Beatrice, »ich dachte daran, daß ich vielleicht sein Leben zerstört habe, so gut wie das meine.«

»Nein, nein, meine Liebe. Es wird alles gut werden. Sie werden glücklich sein – er wird glücklich sein.« Um Beatrices Lippen spielte ein hoffnungsloses, trübes Lächeln. »Es wird geschehen – denn es steht geschrieben. Nichts vermag es aufzuhalten oder abzuwenden. Des Herrn Arm reicht weit. Seine Wege –«

Beatrice unterbrach sie sofort. Seit dem Ausbruch, den Sarah in der Bahn gehabt, hatte Beatrice jede Aeußerung des Fanatismus der armen Frau schon im Keim erstickt. »Mein Brief ist fertig,« sagte sie jetzt, »nehmen Sie ihn mit, schicken Sie ihn an Ihre Freundin. Hier sind Couverts.«

Sarah warf einen Blick auf ihre Herrin, die schon wieder in ihre Gedanken versunken war; dann nahm sie zwei Couverts und ein halbes Blatt Briefpapier. Damit ging sie in ein anderes Zimmer, warf hastig ein paar Worte auf das Papier, steckte es in ein Couvert, schrieb die Adresse darauf und schob es mit Beatrices Brief in das Paketchen, das sie an ihre Freundin in London absenden wollte.

Beatrice folgte noch immer dem trüben Gedankengang. Das nach Hause Schreiben hatte sie ganz unglücklich gemacht. Es war jetzt Mai; fast fünf Monate hatte sie dies trübselige Leben geführt und alle in Unwissenheit über ihren Aufenthalt gelassen. Wie lange mußte es so weitergehen? Sie konnte natürlich München verlassen und in eine andere Stadt ziehen; aber was hätte das genutzt? Die äußere Umgebung hat wenig Einfluß auf das innere Glück. Beatrice war jetzt etwas über dreiundzwanzig Jahre alt und sollte schon auf alles irdische Glück verzichten.

In der letzten Zeit waren allerlei Zweifel in ihr aufgestiegen, ob sie auch wirklich den rechten Weg eingeschlagen habe. War es denn wirklich eine unumstößliche Notwendigkeit, daß ihr ganzes Leben durch diese eine thörichte, unbedachte Handlung zerstört werden mußte? Wie wäre es, wenn sie umkehrte und mit festem Griff in die Nesseln faßte, würde der Stich wirklich tödlich sein und brennender, als sie es ertragen konnte? Sie war, wie viele Sterbliche, aus Widersprüchen zusammengesetzt. Sie war klug und thöricht, tapfer und feige, stolz und demütig, je nachdem die Umstände sie beeinflußten. Sie begann dies Verstecken, dies sich Verkriechen zu verabscheuen. Hatte sie nicht Kraft genug, geradeaus zu gehen und dem Schlimmsten zu trotzen? Und was war das Schlimmste? Ihr Kind verlieren! Konnte sie nicht vielleicht an Herbert und Horace schreiben, ihnen alles sagen und sie bitten, ihr den harmlosen Betrug zu vergeben, den sie ausgeübt, und mit dem Mann zu sprechen und möglichst günstige Bedingungen für sie auszumachen? Konnte sie nicht, wenn ihr auf diese Weise Ruhe und Frieden gesichert waren, der Verachtung der Welt die Stirne bieten?

Dann begann sie darüber zu grübeln, ob Hervey die Wahrheit enthüllt habe, ob ihr Vater, Lady Clauson und ihre Onkel wußten, daß sie dieses Mannes Weib sei. Obgleich sie noch eben selbst daran gedacht hatte, die Wahrheit zu gestehen, so war ihr doch der Gedanke fürchterlich, es könne wirklich jemand um ihr Geheimnis wissen – und doch hatten sie es vielleicht alle längst aus Herveys Mund gehört. Dieser Gedanke machte sie fast wahnsinnig. Sie mußte erfahren, ob es der Fall war!

Sie dachte sehnsüchtig an das Leben in Hazlewood House zurück, an Horace und Herbert, an den alten Whittaker und die übrige Dienerschaft, an Sylvanus Mordle, der sie auch geliebt, an die wohlgemeinten, ehrlichen Huldigungen Purtons, und dann dachte sie mehr als an alle anderen an Frank Carruthers.

Und Frank? Ob er es wußte? Und wenn er es wußte, was dachte er dann wohl von ihr? Würde er ihrem Andenken fluchen? Ach, für ihre Liebe gab es jedenfalls keine Hoffnung auf bessere Zeiten!

Bei diesem Gedanken brach Beatrice zusammen, sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte und schluchzte bitterlich. Als Sarah von der Post zurückkam, fand sie ihre Herrin so und kniete neben ihr nieder, weinte mit ihr und suchte sie zu trösten.

»Ich kann dies Leben nicht weiter leben!« schluchzte Beatrice. »Ich kann es nicht länger ertragen!«

»Mein armer Liebling!« sagte die Frau und ihre harten Züge wurden mitleidsvoll und weich, als sie das braune Haar ihrer schönen Herrin streichelte.

»Ich kann es nicht länger ertragen,« wiederholte Beatrice nochmals, »ich will heim schreiben und den Meinen alles sagen; ich will ihnen sagen, welches Unrecht ich begangen habe und welches Leid man mir zugefügt hat. – Doch nein,« rief sie aufspringend, »ich kann es nicht thun, ich kann nicht! Es muß doch noch einen anderen Ausweg geben! Er ist habgierig, ich will ihm alles, alles geben, was ich habe, wenn er nur mich und das Kind in Frieden läßt.«

»Lassen Sie mich nach England reisen und ihn aufsuchen,« sagte Sarah. »Ja,« fuhr sie fort, als sie Beatrices Verwunderung sah, »lassen Sie mich gehen! So schlecht er ist, so kann er mir doch nichts anhaben. Ach, meine geliebte Herrin, lassen Sie mich gehen. Ich kann hören, was er verlangt und ihm das schriftliche Versprechen abnehmen, Sie in Ruhe zu lassen. Lassen Sie mich dies für Sie thun! Um der Liebe willen, die ich zu Ihnen habe, bitte ich Sie darum. Lassen Sie mich morgen, lassen Sie mich heute noch gehen!«

Beatrice überlegte. Bei genauerer Betrachtung schien der Gedanke nicht unausführbar zu sein; Sarah war durchaus nicht dumm, sie konnte ganz gut allein nach England reisen und hören, was dieser Mann verlangte – warum sollte sie es ihr nicht gestatten?

Frau Miller schien wie auf Nadeln zu sitzen vor Ungeduld. »Sagen Sie, daß ich gehen darf,« flüsterte sie.

»Ich will darüber nachdenken, schicke den Jungen zu mir, ich kann besser denken, wenn ich ihn in meinen Armen halte.«

So wurde das »geschorene Lamm«, wie man ihn jetzt nannte, zu seiner Mutter gebracht, und während des ganzen Nachmittags zog Beatrice Frau Millers Vorschlag in Erwägung. Je mehr sie überlegte, je mehr fühlte sie sich geneigt, ihre Zustimmung zu geben.

Am Abend erteilte sie Sarah die Erlaubnis, den nächsten Tag abzureisen. Sie gab ihr eine Menge Anweisungen, die sie nicht überschreiten sollte. Sie sollte Hervey suchen und hören, was er verlange; sie sollte fest bleiben und ihm in erster Linie klar machen, daß er eine Trennungsurkunde unterzeichnen und auf alle Ansprüche auf den Knaben verzichten müsse. Frau Miller nickte finster; es war keine Gefahr vorhanden, daß sie zu mild vorgehen würde.

»Nehmen Sie viel Geld mit,« sagte Beatrice, »geben Sie ihm, soviel er will, und machen Sie ihm begreiflich, daß ich nur mein Kind, nicht mein Geld vor ihm retten wollte – das letztere kann er immer haben.«

So war es also abgemacht. Frau Miller lag die halbe Nacht auf ihren Knieen. Sie war allein, weil Harry ebenso oft bei seiner Mutter wie bei seiner Wärterin schlief, und konnte also ihre Gebete ungestört gen Himmel senden.

Wenn je ein Fanatiker mit dem höchsten Wesen gerungen hat, so war es Sarah Miller in dieser Nacht. Um was flehte sie so inbrünstig? Vielleicht ist es besser, nicht danach zu fragen und mit der Versicherung zufrieden zu sein, daß sie um Beatrices Glück betete.


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