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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Harry lernt ein neues Wort

Seit Jahren hatte Beatrice kaum ein Fünftel ihres Einkommens aufgebraucht, und mit der ihnen eigenen Pünktlichkeit hatten die Brüder bis zu dem Zeitpunkt, wo sie zu ihnen zog, den Ueberschuß stets vorteilhaft für sie angelegt, so daß sich ihr Vermögen um ein Bedeutendes vermehrt hatte. Im letzten Jahre hatte Beatrice indessen gebeten, die überschüssigen Summen auf der Bank in Blacktown liegen zu lassen, so daß sie sich eines großen Saldos bei ihrem Banquier erfreute. Horace hatte noch an Weihnachten vergeblich versucht, Beatrice das Unpraktische ihres Verfahrens klar zu machen; sie wollte das Geld noch einige Zeit unfruchtbar auf der »Alten Bank« in Blacktown lassen.

»Aber du machst unseren Freunden« – einige der Teilhaber der Bank waren in der Nachbarschaft ansässig – »ein ganz ansehnliches jährliches Geschenk; du bezahlst ihnen einen ihrer Commis,« sagte Horace eindringlich.

»Vielleicht war Herr Stephens deshalb neulich so liebenswürdig gegen mich,« lautete Beatrices fröhliche Antwort.

»Ach Unsinn! Das ist ein Nichts für sie. Aber warum sollen sie dein Geld umsonst haben und es zu sieben oder acht Prozent ausleihen?«

Beatrice konnte keinen Grund angeben, sie sagte einfach, daß es noch eine Weile bleiben solle, wie es sei.

Die Brüder begriffen diese Laune des Mädchens nicht und besannen sich schließlich darüber, ob sie vielleicht eine große Schenkung an ein Spital machen oder die Pfarrkirche restaurieren lassen wolle. Immerhin aber lag das Geld müßig und konnte jede Minute erhoben werden. Wenn Horaces Erklärung über die Art und Weise, in welcher sich die Banquiers ein Vermögen machen, richtig war, so mußte die Seite in dem in rotes Schafleder gebundenen Hauptbuch, welche den Namen »Beatrice Clauson« an der Spitze trug, für die Herren Furlong, Stephens etc. einen befriedigenden Anblick gewährt haben.

Unter den Kassierern der alten Blacktowner Bank zeichnete sich ein junger Mann durch ganz besondere Zierlichkeit und Eleganz aus. Er war einer der wenigen Menschen in der Welt, die an ihrem richtigen Platze sind. Er konnte Goldstücke, unendlich viel Goldstücke mit fabelhafter Geschwindigkeit und mit der unfehlbaren Sicherheit eines Chronometers zählen; er entdeckte wie durch Eingebung eine schlechte Note oder eine gefälschte Anweisung; er »stand« ein falsches Goldstück wie ein Jagdhund ein Wild. Er war als Kassierer sein Gewicht in Gold wert und verdiente wohl eine Beförderung – hoffentlich ist sie ihm unterdessen auch zu teil geworden.

Dieser vorzügliche junge Mann wurde eines Morgens – die Bank war eben erst geöffnet worden – durch eine Frau in lebhafte Aufregung versetzt. Dieselbe reichte ihm eine Anweisung auf tausend Pfund, die von »Beatrice Clauson« ausgestellt war, zahlbar an »mich selbst« oder den »Inhaber«, über den breiten Mahagonizahltisch hin. Für ihn, der nicht zur »Gesellschaft« gehörte, war Beatrice Clauson nur ein Name, kein Begriff; von ihm aus konnte sie alt oder jung, schön oder häßlich sein, solange nur ihr Guthaben den Betrag der Anweisung deckte. Da er aber ein denkender junger Mann war, schien es ihm ungewöhnlich und auffallend, daß eine Dame sich einen Check von tausend Pfund so schlechtweg auszahlen lassen wolle.

Ehe daher unser Kassierer die übliche Frage »Wie wünschen Sie es zu haben?« stellte, warf er einen ausdrucksvollen, aber nicht beleidigenden Blick auf die Ueberbringerin des Checks. Alles, was er entdecken konnte, bestand darin, daß eine große, schwarzgekleidete Frau von unbestimmtem Alter vor ihm stand. Nichts verriet ihm, ob sie »Selbst« oder »Inhaber« sei.

Er lehnte sich über den Zahltisch und fragte sie in der höflichsten Weise, ob sie Fräulein Clauson sei.

»Nein, mein Herr,« antwortete sie kurz. Da sie nichts weiter sagte, blieb die Sache, wie sie vorher war.

Zweimal schon hatte der Kassierer die Frage nach der Geldsorte, in der sie den Betrag des Checks ausbezahlt zu haben wünschte, auf den Lippen, zweimal unterdrückte er sie wieder. Er zögerte. Seine Ahnung, daß mit der Anweisung etwas nicht in Ordnung sei, war nicht sehr stark, aber andererseits war seine Findigkeit so bekannt und so allgemein anerkannt, daß er es schon wagen durfte, diesem Ruhme vielleicht eine kleine Scharte beizubringen, die nichts war im Vergleich mit dem Beifall und dem Ruhm, den er sich möglicherweise erringen konnte. Dazu kam noch, daß er »Inhaber« ängstliche Blicke auf die Uhr werfen sah. Das gab den Ausschlag.

Er beschloß, die Sache den Häuptern der Firma vorzutragen und bat die Frau, einen Augenblick zu warten; dann wies er den neben ihm beschäftigten Commis an, sie im Auge zu behalten und ging mit dem Check in der Hand zu seinen Vorgesetzten. – Ein derartiges Mißtrauen ist ansteckend, und daher kam es gewiß, daß man plötzlich auch die Unterschrift nicht in Ordnung fand. Des Kassierers Brust schwoll vor Stolz. Die Häupter des Geschäfts lächelten Beifall. Der junge Mann kehrte an die Kasse zurück und sagte: »Verzeihen Sie, bei so großen Summen, die von Fremden erhoben werden, pflegen wir immer Erkundigungen einzuziehen.« Während er sprach, richtete er seinen Adlerblick fest auf die Frau. Diese geriet in sichtliche Verlegenheit und antwortete eine oder zwei Sekunden lang nicht, und während dieses Augenblicks war der Kassierer ein stolzer junger Mann. Die Zeichen der Schuld waren da. Er hatte der Bank tausend Pfund gerettet und war im Begriff, den Schuldigen zu fassen. Sein eigener Wert mußte in den Augen der Firma bedeutend steigen. Glücklicher Kassierer!

»Wollen Sie vielleicht lieber zu Fräulein Clauson hinausgehen und selbst mit ihr reden? Ich verstehe von derartigen Dingen nichts,« sagte die vermeintliche Verbrecherin.

Das war ein furchtbarer Schlag, aber noch war Hoffnung vorhanden. Wenn ein Betrug beabsichtigt war, konnte das Fräulein Clauson draußen eine Mitschuldige sein.

Da Beatrice nie auf der Bank gewesen war, konnte der Kassierer ihre Identität nicht selbst feststellen. Er teilte den Stand der Dinge seinen Prinzipalen mit und ärgerte sich, daß das beifällige Lächeln auf deren Lippen erlosch.

Daraufhin nahm Herr Stephens, ein feiner, höflicher alter Herr, ein Typus aus der alten Schule, durch und durch Tory, wie es eigentlich alle Banquiers sein müßten, seinen Hut und schlenderte zur Hausthüre hinaus. Richtig saß denn auch hier Beatrice mit ihrem goldlockigen Knaben in einem Wagen. Herr Stephens bezeigte mit gewandter, wenn auch nicht vom Christentum, so doch vom Handelsgebrauch gebilligter Heuchelei eine große, übermäßige Ueberraschung und Freude beim Anblick Beatrices.

Er sagte ihr einiges Schmeichelhafte über ihr gutes Aussehen – alte Herren seines Schlages steifen sich darauf, jeder jungen Dame Schmeicheleien zu sagen. Er erkundigte sich nach seinen ausgezeichneten Freunden und Nachbarn und bemerkte, daß die Tage schon wieder anfingen, länger zu werden. Er tätschelte den kleinen Knaben auf den Kopf, wünschte Fräulein Clauson einen angenehmen Tag und schlenderte in die Bank zurück.

Herr Stephens sprach nicht mit dem Kassierer, aber er gab ihm im Vorbeigehen einen Wink, und endlich fragte dieser Sarah Miller, wie sie das Geld haben wolle. Sie wünschte fünfhundert Pfund in Papier, die sie in ihr Kleid einknöpfte, und fünfhundert in Gold, die sie in die Tasche steckte, so daß sie ihr bei jedem Schritte schwer ans Bein schlugen und dadurch verkündigten, daß sie noch vorhanden seien. Dann nahm sie ihren Platz im Wagen wieder ein und nun fuhren sie nach dem Bahnhofe von Blacktown.

Hier lösten sie Billette nach Paddington und stiegen, weil sie ungestört sein wollten, in ein Damencoupé. Jeder Reisende weiß, daß man meistens die tiefste Einsamkeit in den ausschließlich für den Gebrauch des schönen Geschlechtes bestimmten Gelassen finden kann. Es ist dies eine große Liebenswürdigkeit der Damen gegen das andere Geschlecht, die aber von solchen Männern nicht immer gebührend geschätzt wird, die in zu dreiviertel besetzte Coupés steigen müssen, nachdem sie begehrliche Blicke auf die leeren Plätze im Damencoupé geworfen haben. Der Zug fuhr ab.

Eine Weile saß Beatrice in Gedanken versunken da. Frau Miller, die den Knaben auf dem Schoße hielt, beobachtete ihr Gesicht. Beatrice seufzte, sah auf und traf den Blick ihrer Gefährtin.

»Er wird uns folgen,« sagte sie zitternd.

»Ja, wenn er uns findet. Armer Liebling! Er wird Sie zu Tode hetzen, wenn er kann. Wir wollen wohin gehen, wo es ihm unmöglich ist, uns zu entdecken. Dort wollen wir bleiben, bis er Sie nicht mehr belästigen kann.«

»Ach, wann wird dies der Fall sein?« seufzte Beatrice.

»Wenn er zerschmettert ist, wenn meine Gebete erhört werden. Wenn Sie in sein verblichenes Antlitz blicken und sehen, daß Sie frei sind.«

»Still, still! Wie können Sie es wagen, um eines Menschen Tod zu beten? Mir, die er doch so grenzenlos elend gemacht hat, käme ein solches Gebet nicht über die Lippen.«

»Ach, mein liebes Fräulein, das ist auch etwas anderes. Sie würden für sich selbst beten und das würde der Herr nicht erhören. Ich aber bete nur für Sie und er wird mich hören.«

»Sarah, schweigen Sie,« sagte Beatrice, die dem religiösen Wahn ihrer Dienerin immer streng entgegentrat; allein Frau Millers Erregung hatte nun schon einen solchen Grad erreicht, daß sie selbst durch Beatrices Befehl nicht zum Schweigen zu bringen war.

»Hören Sie,« fuhr sie mit so durchdringender Stimme fort, daß selbst das Kind große, verwunderte Augen machte, »diese Nacht ist mir im Traum ein Zeichen geworden. Ich sah von irgendwo herab und sah mich selbst, so wie ich werden muß, so wie es mir bestimmt ward schon vor der Schöpfung; ich sah mich dort, wo der Wurm nicht stirbt –«

»Meine arme Sarah, seien Sie ruhig!«

»Wo das Feuer nicht erlischt. Ich sah mich selbst und sah ihn; er war ganz nahe bei mir. Gott will ihn treffen und bald, sehr bald.«

Ihre Stimme klang so tief, ihre Augen blickten so wild, daß der kleine Harry bange wurde und zu weinen begann.

»Sie haben das Kind erschreckt,« sagte Beatrice vorwurfsvoll.

Sofort wurde die Frau ruhig. Die Flamme des Fanatismus erlosch auf ihrem Antlitz und plötzlich war sie wieder die sorgsame Kinderfrau.

Der Zug führte die kleine Gesellschaft unterdessen immer weiter fort auf ihrer Flucht.

Flucht, ja, es war Flucht! Herveys Drohung hatte Beatrice getroffen; sie hatte keine Minute daran gezweifelt, daß er sie zwar nicht zwingen könne, mit ihm zu leben, daß er ihr aber das Kind zu entreißen vermöge. Sie beschloß, zu fliehen, jede Spur zu verwischen und den Mann in ihrer Abwesenheit das Schlimmste thun zu lassen. Wenn er den Ihren die Geschichte ihrer Heirat berichtete, so enthob er sie wenigstens der Pein, es selbst thun zu müssen. Sie wußte noch nicht, wohin sie gehen sollte, aber heute nacht wollte sie England verlassen haben.

Der kleine Knabe zog auf der Reise, wie überall, wo er erschien, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, und so sehr dies auch der Mutter schmeichelte, so sehr beunruhigte es Frau Miller, die nach der ersten Station, auf der eine junge Frau ihren Gatten aus dem Wartsaal herbeigeholt hatte, um ihm das goldlockige Kinderköpfchen am Fenster des Coupés zu zeigen, zu Beatrice sagte: »Es muß geschehen, es muß geschehen.«

Beatrice hatte jetzt den Jungen auf dem Schoß und drückte ihn fest an sich: »Ich kann es nicht,« sagte sie.

»Da kann man uns über die ganze Welt verfolgen,« entgegnete Frau Miller traurig.

»O Sarah, es ist zu grausam – zu grausam. Wir können es aufbinden und feststecken.«

Dabei wand sie Harrys sonnige Locken zusammen und befestigte sie mit einer Haarnadel auf dem Scheitel und zog dann die Mütze darüber, und der Knabe sah komisch genug aus mit den aufwärts wachsenden Haaren.

Und noch hübscher sah er einen Augenblick später aus, als er die Mütze ab- und den Knoten aufschüttelte, so daß die goldene Wolke wieder herabfiel. Er hielt die Sache für einen lustigen Zeitvertreib und es wiederholte sich oft, sehr oft; für den Knaben war es ein neues Spiel, aber Beatrice sah schüchtern ihre Dienerin an, die unheilverkündend den Kopf schüttelte und sagte: »Wir werden überallhin verfolgt werden. Bald ist er groß, dann muß es doch geschnitten werden. Trotzen Sie jetzt nicht der Gefahr. Solches Haar findet man in den drei Königreichen nicht wieder.«

Wunderbar, daß eine Frau, die so fest an das unabänderliche Fatum glaubt, doch so berechnend und umsichtig war.

Beatrice küßte die weiche, sonnige Wolke und sagte, ebendeshalb sei es eine Sünde. Sarah nahm ohne ein Wort weiter eine blanke Schere und einen großen Bogen Zeitungspapier, schnitt in die Mitte desselben eine runde Oeffnung und zog es dem höchlich belustigten Jungen über den Kopf. Beatrice wandte sich ab, um ihre Thränen zu verbergen.

»Halten Sie die Ecken fest, Fräulein,« sagte Sarah. Beatrice faßte mit zitternden Händen und abgewandten Augen zwei derselben. Das grausame Werk begann.

Erbarmungslos wie die Schere der Atropos fuhr die Sarahs durch die goldenen Locken, und die glitzernden, weichen Haare fielen auf die ausgebreiteten Blätter des »Standard« herab. Nie zuvor hatten die Spalten dieser einflußreichen Zeitung so sonnig geglänzt! Klip, klip machte die Schere und hatte in fünf Minuten das Werk vollbracht. Beatrice schluchzte; sie las alle die goldenen Fäden zusammen und küßte sie und packte sie sorgfältig ein, um sie aufzubewahren. Sie drückte ihren entstellten Liebling krampfhaft an ihre Brust.

»Ach, mein armer kleiner Junge!« weinte sie, »mein kleines geschorenes Lamm! Ach, es war grausam, zu grausam! Eine schlechte, grausame Mutter bin ich für dich, mein Liebling!« Sie liebkoste den Jungen und beweinte den Verlust seiner Locken, den er selbst übrigens mit großer Befriedigung hinnahm – es war ja etwas Neues und Kinder lieben das Neue. – Plötzlich wurde Beatrice ganz lebendig. »Mutter,« sagte sie, »Mutter! Höre, mein Liebling, und sage mir nach: ›Mutter, Mutter, Mutter!‹«

Er lächelte lieblich, warf seine rosigen Lippen auf und brachte eine für den ersten Versuch sehr annehmbare Nachahmung hervor.

Ueber Beatrices Wangen strömten Thränen herab. Sie küßte den Knaben leidenschaftlich. »Sage es noch einmal – sage es immer,« rief sie, »Mutter, Mutter, Mutter!«

Der kleine Selbstherrscher war gerade guter Laune und willfahrte dem Gesuch, und auf dem ganzen Wege nach London lehrte Beatrice ihren Knaben dies neue Wort und machte ihm sogar begreiflich, daß er dies künftig zu einer Person sagen müsse, die seine stammelnden Lippen bisher nur als Bea – Bea, oder etwas Aehnliches bezeichnet hatten.

Die Freude, die ihr seine Bereitwilligkeit, das neue Wort zu lernen, bereitete, hielt sie beinahe schadlos für den Kummer, den ihr die ruchlose That der Schere bereitet hatte.


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