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Vierunddreißigstes Kapitel.
Es war kein Traum

Carruthers kam eines Morgens früh, wie es seine Gewohnheit war, zu Beatrice. Nun er einsah, daß er sich mit der Stellung begnügen müsse, die er künftig Beatrice gegenüber allein einnehmen konnte, sah er auch keinen Grund mehr, nicht jeden möglichen Augenblick in Beatrices Gesellschaft zu verbringen. Es wäre abgeschmackt, zu sagen, er habe sich in sein Schicksal ergeben. Niemand ergibt sich in sein Schicksal. Man ist nur gezwungen, sich seiner Tyrannei zu fügen – das ist alles.

Natürlich waren sowohl Frank als Beatrice unglücklich. Innerlich fühlten sie sich so elend, als ein sentimentales Schulmädchen es unter diesen Verhältnissen nur von ihnen erwarten kann. Aber trotzdem waren sie nicht so unglücklich, als sie sich einbildeten. Zwei junge Liebende, die durch das Geschick getrennt werden – ohne Hoffnung, daß je auch nur der leiseste Hoffnungsschimmer die Nacht ihrer Zukunft erhelle – können nicht vollständig elend und unglücklich sein, solange sie wissen, daß sie einander lieben, solange sie einander sehen und miteinander – wenn auch nur von gleichgültigen Gegenständen – reden können. Sie haben doch wenigstens den Trost des gemeinschaftlichen Unglücks und der gemeinschaftlichen Liebe. Frank und Beatrice hätten die Richtigkeit dieser Behauptung zwar bestritten – sie ist deshalb aber nicht weniger wahr.

An jenem Morgen ließ Beatrice ihren Jungen unter der Obhut des lächelnden bayerischen Dienstmädchens zurück und machte mit Frank einen Spaziergang. Es war ein schöner Maimorgen – anderswo vielleicht schöner, als in dem trockenen, staubigen München und seiner ebenen, trockenen Umgebung. Einige Zeit wanderten sie schweigend und ohne bestimmtes Ziel nebeneinander hin. Dann unterbrach Carruthers das Schweigen mit der Frage: »Wann werden Sie zur Abreise nach England bereit sein, Beatrice?«

Sie antwortete nicht auf diese Frage.

»Beatrice, lassen Sie sich von mir raten in dieser Sache,« bat er ernst und zärtlich.

»Ja, ich will Ihrem Rate folgen. Ich will mich ganz von Ihnen leiten lassen. Ich habe mich lange genug selbst geleitet – und Sie sehen, wohin mich das geführt hat.«

Ihre Augen füllten sich mit Thränen. Tiefes Erbarmen bewegte sein Herz. Er war so machtlos, ihr zu helfen, er konnte so wenig für sie thun.

»Was raten Sie mir? Was soll ich thun?« fragte sie.

»Ich meine, wir sollten direkt nach England und nach Oakbury gehen. Ich werde Sie begleiten und, falls Sie es wünschen, Horace und Herbert alles mitteilen.«

»Und was werden diese sagen und thun? Sie werden mich aus ihrem Hause weisen –«

Frank lächelte traurig. »Liebe Beatrice,« sagte er, »können Sie sich denken, daß Horace und Herbert auch nur einen Hund, der Schutz bei ihnen sucht, aus ihrer Thür jagten – vorausgesetzt natürlich, daß er nicht schmutzig ist?«

»Ach, Frank, ich habe aber im Schmutz gelebt, Jahre voll Schmutz liegen auf mir; er ist nicht mehr abzuwaschen, Frank.«

Frank suchte, wie es einem Manne zukam, sie zu trösten, so gut es anging; er versuchte, ihr zu beweisen, daß sie zu schwarz sehe. Sie schüttelte aber leise den Kopf und sagte traurig: »Es kommt immer wieder auf den einen Wunsch hinaus: Wenn man doch das Geschehene ungeschehen machen könnte.«

»Ja,« sagte Frank, »das ist schon der Schmerzensschrei des ersten Menschen gewesen und wird auch der des letzten sein.«

Sie schwiegen eine Weile beide; dann sagte Beatrice, sie wolle München verlassen, sobald Sarah zurückgekommen sei: »Aber sie ist ja in London,« entgegnete Frank, »wir können ihr telegraphieren, sie solle dort auf uns warten.«

»Gewiß könnten wir dies, aber ich habe ihre Adresse nicht; sie ist zu der Freundin gegangen, die meine Briefe besorgte, aber da Sarah dieselben immer selbst überschrieb, kenne ich ihre Adresse nicht.«

»Und sie verhandelt mit diesem Manne,« sagte Frank bitter, »sie ist bevollmächtigt, Sie von diesem Menschen ausbeuten zu lassen!«

»Geld ist nichts. Er kann alles haben, was er will, wenn er mich nur nicht mehr belästigt.«

Carruthers biß auf seine Lippen. Das Geld hatte als solches keinen Wert für ihn, aber er wurde wütend bei dem Gedanken, daß dieser Verbrecher ein üppiges Leben führen werde auf Kosten der Frau, die er so tief gekränkt hatte. Er glaubte aber, daß es Hervey nicht ganz so wohl gehen werde, wenn die Talberts erst in der Sache mitreden würden.

»Frank,« sagte Beatrice, »ich verspreche Ihnen, daß ich abreisen will, sobald Sarah zurück ist. Bis dahin lassen Sie uns von anderen Dingen reden. Vielleicht können wir nur noch ein oder zwei Tage hier miteinander verleben, ich möchte auf diese Tage zurückblicken können, wie auf Tage der Ruhe vor dem Ausbruch des Sturmes.«

Carruthers verstand sie und zwang sich, in seiner alten heiteren Weise mit ihr zu plaudern. Es war ein falscher Ton in dieser gemachten Heiterkeit, aber Beatrice war ihm dankbar; es lenkte doch ihre Gedanken etwas ab.

Er sprach von den sonderbaren Leuten in seinem Gasthof, von den geputzten jungen Amerikanerinnen, die statt Paris immer »Parrus« sagten, und von all den anderen bekannten Table d'hote-Erscheinungen.

So plauderte Frank immer weiter, aber seine Scherze waren gezwungen.

Sie waren ziellos herumgewandert, ohne darauf zu achten, wohin. »Wollen wir irgendwohin gehen? – In eine der Galerien?« fragte Beatrice.

»Nein, dazu ist das Wetter viel zu schön,« sagte Frank; »wir wollen zur Bavaria gehen.«

Da die Kolossalstatue ziemlich weit entfernt war, nahmen sie eine Droschke und fuhren hinaus. Sie besichtigten die riesige Statue, doch ohne in ihren Kopf hinaufzusteigen, durchschritten die Ruhmeshalle und fragten dann den Kutscher, ob in der Nähe sonst noch etwas zu sehen sei; der Mann antwortete, der große Südkirchhof sei nicht weit.

»Ich liebe die Friedhöfe nicht,« sagte Carruthers.

»Ich sehe sie sehr gerne,« sagte Beatrice und so fuhren sie hin.

Sie wanderten eine Zeitlang schweigend zwischen den fremden Gräbern umher; Beatrice war in schwere, trübe Gedanken versunken, blickte weder nach rechts noch nach links, und Frank hatte nur Augen für sie und schenkte den herrlichsten Grabmälern nur flüchtige Beachtung. Sei es die traurige Umgebung, sei es der Zwang, den er sich bisher Beatrice zuliebe auferlegt hatte, plötzlich erschien ihm sein Kummer unerträglicher als je. Er blickte düster auf den großen Friedhof vor ihm, in dem Tausende den ewigen Schlaf schliefen, die wie er geatmet, gegessen, getrunken, gehofft, gefürchtet, geliebt hatten – und gestorben waren.

»Das,« rief er aus, »das ist das Ende von allem! Das Ende des Ehrgeizes, des Reichtums, der Armut, des Schmerzes und der Freude! Alle, alle kommen dahin! Andere Männer, andere Frauen werden auch über unsere Gräber wandern! Beatrice, Beatrice!« er stieß dies in Verzweiflung hervor, »Beatrice, wir leben nur einmal und unser Leben ist vergällt.«

Tapfer, wie er sich zu Anfang gezeigt, war Carruthers nun doch unter der Last seines Kummers zusammengebrochen.

Beatrice sah ihn mit flehenden, mitleidigen Blicken an, die ihm bis ins Herz drangen.

»Ich war ein Narr – ein schwacher Narr,« sagte er. »Verzeihen Sie mir.«

»Nein, Sie sind klug, Sie haben recht. Ach, wäre ich doch nie geboren.«

»Wir wollen gehen,« sagte Frank, »ich hasse die Ruhestätten der Toten.«

Schweren Herzens, aber Hand in Hand gingen sie nach dem Eingang des Friedhofes zurück. Einige wenige Arbeiter und Müßiggänger, die in der Nähe waren, dachten ohne Zweifel, es sei englische Sitte für einen ausgewachsenen Mann, eine Frau wie ein Kind an der Hand zu führen, oder glaubten sie, die beiden betrauerten einen gemeinsamen Verlust – das thaten sie wirklich!

Keines sprach. Er fühlte, daß er diese Lage der Dinge nicht ertragen könne, er war schwächer, als er geglaubt hatte; er wollte sie nach England zurück geleiten, mit diesem Manne unterhandeln, ihre Zukunft sichern – dann wollte, mußte er sie verlassen. Sie sehen, ihre Stimme hören, ihre Hand in der seinen halten und doch wissen, daß er sie nie, nie besitzen würde, war mehr, als er ertragen konnte.

Beatrices Gedanken hatten ungefähr dieselbe Richtung genommen; sie hatte vorausgesehen, daß es so kommen müsse, und dies war der Grund gewesen, weshalb sie die letzten Tage in München gerne so verlebt hätte, daß sie dereinst mit Freude an dieselben zurückdenken konnte. Eine Freundschaft wie die, von der Frank gesprochen, war zwischen ihnen eine Unmöglichkeit.

So fühlten also beide, als sie über den großen Platz nach dem Ausgang des Friedhofes wandelten, daß sie sich vielleicht für ewig lebewohl sagen müßten – was Wunder also, daß ihre Hände sich nicht voneinander trennen mochten!

Als sie sich dem Ausgang näherten, kamen sie an einem Gebäude vorbei, das aussah wie ein Laden und dessen Vorderseite aus großen Glasfenstern bestand. Mehrere Männer und Frauen und einige Kinder standen davor und blickten hinein; die letzteren standen auf den Zehen und drückten ihre Nasen auf die Glasfenster. Frank sah auch hin und der Anblick, der sich ihm bot, war so sonderbar und eigenartig, daß er trotz seiner Erregung stehen blieb.

Innerhalb des Glases lag auf Betten von Immergrün und Blumen etwas, was aussah wie ein Dutzend Puppen von verschiedener Größe, aber alle waren sehr groß für Puppen; sie hatten alle schöne lange Kleider an, die mit Flitter und sonstigen Zieraten ausgeputzt waren, und jede Puppe trug eine groß geschriebene Nummer. Ein wunderbarer Anblick! Carruthers trat näher und entdeckte erst dann die Wahrheit. Es waren tote Kinder! Hier lagen sie in einem Nest von Blättern und Blumen und warteten auf den Begräbnistag.

»Sie sind tot,« rief Carruthers aus und wandte sich zu Beatrice.

»Ja. Ich erinnere mich, gehört zu haben, daß es Sitte ist, sie so auf das Begräbnis warten zu lassen, allein ich hatte es wieder vergessen. Eine entsetzliche Sitte, nicht wahr?«

Ist es eine so entsetzliche Sitte? Wenn sie auch für den Fremden auffallend ist, ist sie deshalb entsetzlicher, als die Sitte, den armen toten Körper tagelang in einem Schlafzimmer liegen zu lassen, bis schließlich der letzte Anblick des geliebten Wesens ein solcher ist, den man zu vergessen bemüht sein muß? Wer hat nicht die qualvollen Tage kennen gelernt, die sonst einem Begräbnis vorangehen? Das traurige, schauerliche Gemach mit der von Karbol, kölnischem Wasser und Blumenduft vermischten Totenluft. Es mag grausam sein, die armen irdischen Ueberreste sofort wegzubringen, aber es ist nicht so grausam, als die Sitte, welche die Gesundheit dem Gefühl zuliebe aufs Spiel setzt.

Ist es eine entsetzliche Sitte? Ist es entsetzlich zu denken, daß der geliebte Tote den Blicken des Publikums frei gegeben werde? Allerdings ist es auf den ersten Blick widerlich zu sehen, wie Frauen Kinder herbeibringen und sie in die Höhe halten, damit sie besser sehen können, was hinter den Glasscheiben liegt. Aber warum sollte der Tote die Blicke seiner Nebenmenschen mehr fürchten, als der Lebende? Warum soll der Lebende lernen, daß man den Anblick des Todes zu fürchten habe? Wir müssen alle sterben und nach dem Zeugnis von Myriaden Grabsteinen gen Himmel ziehen.

Mag der Anblick auch für einen Fremden entsetzlich sein, so ist er doch jedenfalls auch fesselnd. Jeder, der zum erstenmal nach München kommt und zu einem Fenster des Wartesaales hineingeschaut hat, geht auch an die anderen. Beatrice und Frank bildeten keine Ausnahme von der Regel. Der Wartesaal hat mehrere derartige Fenster. Den Kindern zunächst lag der Leichnam eines alten Priesters; er lag auf seiner mit Immergrün bedeckten Bahre und seine kalten Hände hielten das Kruzifix auf dem erstarrten Herzen. Friede war über die wachsbleichen Züge gegossen. War dies so entsetzlich? Dann kam eine alte Frau im Silberhaar. Ruhig und sanft schlummerte sie neben ihrem Nachbarn. Hier ist nur Ruhe, völlige Ruhe, kein Entsetzen.

Im nächsten Fenster lag ein junges Mädchen mit abgezehrtem Antlitz; sie war an der Schwindsucht gestorben und sah aus, als ob sie gerne gestorben wäre. Hier fühlte man wohl Teilnahme für die so früh Geschiedene, aber kein Entsetzen.

Und so war es bis zum Schlusse.

Frank und Beatrice wandten sich zum Gehen; es war Frank, als ob dieser Anblick einen würdigen Schluß für ihren Ausflug bilde. Sie gingen langsam und schweigend weiter. Doch sie hatten noch nicht alles gesehen.

In einem Zimmer, gerade am Eingang, so daß die Kommenden und Gehenden ihn bemerken mußten, lag der Körper eines Mannes; er lag nicht in duftende Blumen gebettet, sondern auf einer schlichten, hölzernen Bahre; es war ja niemand da, der die Kosten für ein Lager von Immergrün für ihn bezahlt hätte. Ein schwarzes Tuch verhüllte den Körper und das bleiche Antlitz war gegen das Fenster gerichtet.

Und Frank sah das bleiche Gesicht und erkannte es – auch Beatrice sah das bleiche Gesicht und erkannte es. Sie griff nach Franks Arm, wollte sprechen, brachte aber nur einen kurzen Schrei hervor und sank bewußtlos zur Erde. Carruthers hob sie auf, trug sie in den Wagen und hieß den Kutscher nach Hause fahren.

Beatrice kam wieder zur Besinnung. Sie sah Frank verwirrt an. »Ich habe geträumt – es war nur ein Traum!« sagte sie flüsternd.

»Es war kein Traum,« sagte Frank mit heiserer, bebender Stimme. Kein Wort weiter wurde gesprochen, bis sie an Beatrices Wohnung angekommen waren. Frank wollte sie hinauf begleiten. Sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Gehen Sie zurück, gehen Sie zurück,« flüsterte sie. »Sie werden sich nach allem erkundigen, alles erfahren, nicht wahr?«

Er fuhr nach dem Kirchhof zurück. Er war tief bewegt. Dieser Mann, der zwischen ihm und seinem Glück gestanden hatte, war tot! Es konnte nicht sein! Derartiges ereignet sich im wirklichen Leben ja nicht! Eine zufällige Aehnlichkeit mußte Beatrice und ihn irre geleitet haben.

Kann man Carruthers, der nie einem Nebenmenschen den Tod gewünscht hatte, tadeln, daß er bei diesem Gedanken zitterte?

Sie hatten sich nicht getäuscht; Carruthers war in das Zimmer geführt worden, hatte den Körper unbedeckt gesehen und hatte die Binde in Augenschein genommen, die man von dem gebrochenen Arm entfernt hatte. Als er auf den toten Mann vor sich blickte, war es ihm, als ob er die Stimme der sonderbaren Dienerin wiederum vernehme, die ihn einst in so wilden Worten beschworen hatte, auf Beatrice zu warten. Ihre Prophezeiung hatte sich erfüllt; ihr wunderbarer Glaube hatte sie nicht betrogen.

Er blickte lange auf das bleiche Antlitz. Kein Mitleid außer dem, das ein gewaltsamer Tod stets erregt, zog ein in sein Herz. Doch immerhin hatte der Mann, der hier vor ihm lag, einst Beatrices Liebe besessen und könnte, wenn er gewollt hätte, noch jetzt von ihr geliebt sein. Wie wunderbar erschien dies alles. Endlich wandte er sich ab. – Er hatte viele Fragen zu beantworten; er stellte die Persönlichkeit des Toten fest; es war Maurice Hervey, ein Künstler. Weiter konnte er keine Auskunft geben, weder über den Toten noch über dessen Familienverhältnisse; er hatte ihn nur ganz oberflächlich gekannt. Dann sorgte er dafür, daß der Leichnam in einen anderen Wartesaal gebracht und ordentlich aufgebahrt wurde, und ordnete das Begräbnis an; er bestellte einen Grabstein mit den Buchstaben M. H. Man sagte ihm, das Begräbnis müsse am nächsten Morgen stattfinden. Dann kehrte er zu Beatrice zurück. Sie wollte ihn nicht sehen; er hinterließ ihr einige Zeilen mit der Nachricht, daß alles besorgt sei. Am nächsten Tag stand er an Maurice Herveys Grabe.


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