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Achtundzwanzigstes Kapitel

Iris brauchte sich nur daran zu erinnern, in welcher Weise sie und Hugh die Erwartungen ihres Vaters getäuscht hatten, um die Notwendigkeit zu begreifen, Hugh Mountjoys Nebenbuhler von einem Besuche in Mr. Henleys Hause auf jeden Fall abzuhalten.

Sie schrieb daher sofort an Lord Harry in das Hotel, welches Mr. Vimpany genannt hatte, und beschwor ihn, ja nicht an einen Besuch in ihres Vaters Hause zu denken. Da sie aber ganz genau wußte, daß er auf einer persönlichen Verständigung bestehen würde, so versprach sie, ihm wiederholt zu schreiben, und schlug sogar eine Zusammenkunft außerhalb des Hauses vor.

Am nächsten Tage hatte sich Iris vorgenommen, nach Mußwell Hill zu fahren, um Rhoda zu besuchen, wie sie es fast jede Woche that. Starker Regen jedoch zwang sie, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Erst am dritten Tage klärte sich der Himmel auf, und das Wetter wurde wieder angenehm. An einem sonnigen Herbstmorgen ließ sie, da eine herrliche, erfrischende Luft wehte, den offenen Wagen anspannen. Da sie bemerkte, daß Fanny Mere, während sie ihr beim Anziehen behilflich war, blässer als gewöhnlich aussah, sagte sie in dem freundlichen Ton, den sie ihren Untergebenen gegenüber anzuschlagen pflegte:

»Sie sehen aus, als ob Ihnen eine Fahrt in die frische Luft auch gut thun würde? Sie sollen daher mit mir auf das Gut fahren und können bei dieser Gelegenheit Rhoda Bennet sehen.«

Als sie vor dem Hause anhielten, erschien die Frau des Pächters in Begleitung eines Herrn vor der Thüre. Iris erkannte sofort den Arzt des Ortes.

»Sie sind doch nicht etwa wegen Rhoda Bennet hier?« fragte sie.

Der Doktor berichtete, daß wieder eine der nervösen Störungen eingetreten sei, an denen das junge Mädchen litt. Wie er sagte, hinge das hauptsächlich mit dem Wetter zusammen. Er habe ihr vor allem anbefohlen, sich vor jeder Aufregung zu hüten. Rhoda war so weit auf dem Wege der Besserung vorgeschritten, daß sie auf seine Anordnung hin im Garten spazieren gehen sollte. Er fürchtete auch nicht, daß der Empfang von Besuchen sie allzu sehr angreifen würde in ihrem gegenwärtigen Zustande, nur sollte man sie nicht zu viel sprechen lassen. Da sich ihm einmal die Gelegenheit dargeboten, wolle er noch eine Bitte auszusprechen wagen. Rhoda wäre nach seiner Ansicht für diese Jahreszeit nicht warm genug gekleidet, und eine schwere Erkältung könne sich eine Person von ihrer Konstitution sehr leicht holen.

Iris trat in das Pächterhaus ein; Fanny Mere sollte unter den obwaltenden Umständen im Wagen auf sie warten.

Nach einer Abwesenheit von kaum zehn Minuten kam Miß Henley aus dem Hause zurück. Als sie in das Pächterhaus eingetreten war, hatte sie einen schönen Mantel von Sealskin getragen; als sie wieder heraus kam, war an seine Stelle ein ganz gewöhnlicher Umhang aus schwarzem Tuch getreten. Iris bemerkte sofort den Ausdruck lebhaften Erstaunens in Fannys Gesicht und brach in ein fröhliches Lachen aus.

»Nun, wie gefalle ich Ihnen in meinem neuen Mantel?« fragte sie.

Fanny sah nichts Lächerliches in dem Opfer des Sealskinmantels.

»Ich darf nicht wagen,« entgegnete sie ernst, »meine Meinung darüber zu äußern!«

»Jedenfalls,« fuhr Iris fort, »können Sie nicht menschlich fühlen, wenn der Wechsel in meiner Kleidung Ihr Erstaunen und Ihre Mißbilligung erregt. Ich fand Rhoda Bennet im Garten, vor der kalten Luft durch dieses häßliche, dünne Ding nur notdürftig geschützt. Nach dem, was der Doktor mir gesagt hatte, war es höchste Zeit, daß ich meine Autorität geltend machte. Ich bestand darauf, mit Rhoda den Mantel zu tauschen. Sie machte zuerst den Versuch, sich zu sträuben, die arme Kleine, sie kennt mich aber von früher her, und so hatte ich meinen Willen. Es thut mir sehr leid, daß Sie Rhoda nicht sehen konnten, aber Sie sollen, sobald sie wieder gesund ist, die Gelegenheit haben. Sehen Sie gern eine schöne Aussicht? Nun gut, dann wollen wir einen andern Weg auf unserer Rückfahrt benützen. Nach Hause!« rief sie dem Kutscher zu, »über Highgate Hampstead!«

Fannys Augen ruhten auf dem unscheinbaren Mantel mit einem wohlbegründeten Mißtrauen gegen dieses Kleidungsstück, welches doch keinesfalls einen genügenden Schutz gegen die Witterung bieten konnte. Sie erlaubte sich daher zu bemerken, daß ihre Herrin das Fehlen des warmen Mantels, welchen sie auf Rhodas Schultern zurückgelassen hatte, in dem offenen Wagen bald genug empfindlich spüren würde.

Iris suchte sie darüber zu beruhigen.

Währenddessen hatten sie schon Highgate passirt und näherten sich jenem Wege, welcher in gerader Linie über den hohen Bergrücken von Hampstead Heath führt. Iris mußte jetzt doch selbst zugeben, daß sie die Kälte empfinde.

»Sie müssen eine gute Fußgängerin sein,« sagte sie, indem sie die feste Gestalt ihres Mädchens mit einem Blick überflog. »Bewegung ist das einzige, was mich wieder warm machen wird. Was meinen Sie, wollen wir zu Fuß den Heimweg beendigen?«

Fanny war sofort bereit, ihre Herrin zu begleiten. Der Wagen wurde vorausgeschickt, und die beiden Mädchen traten ihre Fußwanderung an.

Als sie an dem Gasthof des Ortes, welcher den Namen »die Spanier« führte, vorbei kamen, standen zwei Frauen an der Gartenthüre, welche Iris neugierig betrachteten und lachten. Ein paar Schritte weiter, trafen sie mit einem jungen Burschen zusammen; auch er sah sich die jungen Damen aufmerksam an und legte seine Hand spöttisch an seine Mütze, während er einen lauten Freudenpfiff ertönen ließ.

»Ich scheine diese Leute zu amüsiren!« sagte Iris. »Was sehen sie denn eigentlich an mir?«

Fanny strengte sich an, ihren Ernst zu bewahren, was ihr aber doch nicht vollkommen gelang, und antwortete:

»Verzeihen Sie, Miß, ich glaube, die Leute bemerken alle den Unterschied zwischen Ihrem schönen Hut und Ihrem abgetragenen Mantel.«

Leute von erregbarem Temperament fürchten nicht leicht etwas mehr als die Lächerlichkeit.

Iris brauste auf.

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt,« fragte sie scharf, »bevor ich den Wagen verließ? Wie kann ich denn so weiter gehen, wenn jedermann über mich lacht?«

Sie hielt inne, überlegte einen Augenblick und bog dann von der Landstraße nach rechts ab auf eine schöne Gruppe von Tannenbäumen zu, welche den berühmten Aussichtspunkt jener Gegend überragen.

»Da läßt sich fürs erste nur das eine thun,« sagte sie, nachdem sie ihre gute Laune wieder gewonnen hatte, »wir müssen meinen schönen Hut mit dem alten Mantel in Einklang zu bringen suchen. Sie werden die Feder und die Spitzen abreißen – wenn Sie wollen, können Sie sie für sich behalten – und dann werde ich wohl vom Kopf bis zum Fuß schäbig genug aussehen. Nein, nein, nicht hier, man kann uns ja von der Straße aus bemerken, und was könnte dann das dumme Volk denken, wenn es sähe, wie Sie die Verzierung von meinem Hute entfernen! Wir wollen dort zwischen das dichte Buschwerk treten, da kann uns niemand sehen.«

Sie waren beinahe den schmalen Pfad hinabgestiegen, der zu dem Platze unter der Tannengruppe führte, als sie durch einen entsetzlichen Anblick aufgehalten wurden.

Nahe bei dem Gesträuch in einer Höhlung lag der regungslose Körper eines Mannes ausgestreckt. Er lag auf der Seite, mit dem Gesicht von ihnen abgekehrt, ein offenes Rasirmesser neben ihm auf dem Boden. Iris bückte sich über den Körper, um das Gesicht zu sehen. Das erste, was sie bemerkte, war Blut, das aus einer klaffenden Wunde an seinem Halse rann. Ihre Augen schlossen sich unwillkürlich, während sie vor diesem furchtbaren Anblick zurückwich. Im nächsten Augenblick öffnete sie sie aber wieder und sah nun in das Gesicht.

Sterbend oder tot, es war das Gesicht Lord Harrys.

Der Schrei, den sie ausstieß, als sie diese gräßliche Entdeckung machte, wurde von zwei Männern vernommen, welche in einiger Entfernung über das Feld gingen. Sie sahen die Frauen und kamen herzugelaufen. Der eine der Männer war ein Arbeiter, der andere, besser gekleidete, sah aus wie ein Aufseher in einer Fabrik. Er war der erste, der den Platz erreichte.

»Grund genug, um entsetzt zu sein, meine Damen,« sagte er höflich, »da scheint, so viel ich sehe, ein Selbstmord vorzuliegen!«

»Um Gottes willen, lassen Sie uns etwas thun, um ihm zu helfen!« rief Iris ganz außer sich. »Ich kenne ihn, ich kenne ihn!«

Fanny allein zeigte sich der Situation gewachsen; sie bat Miß Henley um ihr Taschentuch, nahm ihr eigenes noch dazu und legte einen Verband um die Wunde.

»Fühlen Sie, ob sein Puls noch schlägt!« sagte sie mit ruhiger Fassung zu ihrer Herrin.

Iris glaubte noch einen schwachen Pulsschlag bemerken zu können.

»Wohnt denn kein Doktor hier in der Nähe?« rief sie. »Ist denn kein Wagen aufzutreiben an diesem schrecklichen Orte?«

Der Aufseher hatte in den Taschen des Hingestreckten zwei Briefe gefunden. Iris las auf einem derselben ihren eigenen Namen, der andere trug die Aufschrift: »An die Person, welche meinen Körper findet!« Sie riß das Couvert auf. Der Brief enthielt eine Adreßkarte von Mr. Vimpany, auf welcher mit Bleistift die verzweifelten Worte geschrieben standen: »Bringen Sie meinen Körper in das Haus des Doktors, er soll mich verbrennen oder zerschneiden, wie es ihm beliebt.« Iris zeigte die Karte dem Aufseher.

»Ist das in der Nähe?« fragte sie.

»Ja, Miß,« antwortete der Aufseher, »wir können ihn in kurzer Zeit dorthin bringen, wenn wir nur irgend ein Transportmittel finden!«

Fanny, die noch immer ihre Geistesgegenwart bewahrt hatte, zeigte mit der Hand in die Richtung nach dem Wirtshaus.

»Dort werden wir bekommen, was wir brauchen,« sagte sie.

Iris gab ihr Zeichen, bei dem verwundeten Mann zu bleiben, und stieg selbst die schlüpferige Anhöhe hinauf: dann lief sie, so rasch sie konnte, nach der Straße zu. Die Männer hatten inzwischen auf Fannys Anweisung den Körper emporgehoben und folgten der Vorangegangenen langsam, indem sie sich einen bequemeren Aufstieg aussuchten. Als Iris die Straße erreicht hatte, fuhr gerade ein vierräderiger Wagen vorbei. Ohne einen Augenblick zu zögern, rief sie den Kutscher an, er möge halten. Er zügelte rasch seine Pferde. Sie sah sich einem einzelnen Herrn gegenüber, welcher aus dem Wagenfenster schaute und aussah, als ob er glaube, eine Dame habe sich mit ihm einen Spaß gemacht. Iris ließ aber dem erzürnten Herrn keine Gelegenheit, seine Gedanken zu äußern. Atemlos, wie sie war, ergriff sie eilig das Wort: »Bitte, verzeihen Sie mir – Sie sitzen allein in dem Wagen – da ist noch Platz für einen Herrn, der tödlich verwundet ist. Er wird sich verbluten, wenn wir nicht bald Hilfe finden. Ein Doktor wohnt hier in der Nähe; bitte, schlagen Sie mir Ihre Hilfe nicht ab!«

Sie blickte zurück, während sie sich fest an der Thüre des Wagens anklammerte, und sah Fanny und die Männer, die langsam herankamen.

»Bringen Sie ihn hieher!« schrie sie laut.

»Daraus wird nichts!« entgegnete der Herr, der im Wagen saß.

Fanny gehorchte jedoch ihrer Herrin, und die Männer gehorchten Fanny.

Iris drehte sich entrüstet nach dem erbarmungslosen Fremden um.

»Ich ersuche Sie um einen Akt christlicher Menschenliebe!« sagte sie. »Wie können Sie, wie dürfen Sie da noch zögern?«

»Fahren Sie weiter!« schrie der Fremde dem Kutscher zu.

»Sie thun es auf Ihre Gefahr!« rief Iris ihrerseits.

Der Kutscher saß schweigend und stumpfsinnig auf seinem Bocke und wartete ruhig ab, was sich ereignen würde.

Langsam näherten sich die Männer, welche den noch immer bewußtlosen Lord Harry trugen. Die Taschentücher um seinen Hals waren mit Blut getränkt. Bei diesem Anblicke überwältigte seine feige, erbärmliche Denkungsweise den Fremden vollständig.

»Lassen Sie mich heraus,« jammerte er, »lassen Sie mich heraus!«

Nachdem so der Wagen zu ihrer Verfügung stand, dankte Iris dem Fremden. Er sah sie mit einem bösen Blicke an und brummte:

»Ich muß Ihnen gestehen, die Sache kommt mir höchst verdächtig vor! Wenn es etwa zur Untersuchung vor Gericht kommt, so will ich nicht in diese Angelegenheit hineingezogen werden. Es sind schon ganz unschuldige Leute aufgehängt worden, wenn der Schein gegen sie war.«

Mit diesen Worten ging er weg und setzte seiner niedrigen Denkungsweise dadurch die Krone auf, daß er das Fahrgeld zu bezahlen vergaß. Der Kutscher stand gerade im Begriff, ihn zu verfolgen, als er in wirksamer Weise davon zurückgehalten wurde. Iris zeigte ihm einen Sovereign. Auf diesen Wink hin sagte er:

»'s ist alles schon gut, Miß. Ich sehe, der arme Herr blutet. Geben Sie nur acht, bitte, daß er meine Wagenkissen nicht verdirbt!«

Der Kutscher war kein gefühlloser Mensch; nachsichtig stellte er sein Eigentum zur Verfügung mit einem schlauen Lächeln.

Iris wendete sich nun an die beiden braven Männer, die in so bereitwilliger Weise ihr geholfen hatten, und sagte ihnen in herzlichen Worten Lebewohl und ihren Dank, dem sie einen klingenden Ausdruck beifügte. Die beiden Männer vergessen es ihr Lebtag nicht.

Fanny war schon in den Wagen gestiegen und hielt den Körper Lord Harrys in ihren Armen. Iris folgte ihr. Der Kutscher fuhr vorsichtig nach der Wohnung Mr. Vimpanys.


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