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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es war nicht leicht, sich eine bestimmte Meinung über das junge Mädchen zu bilden, welches jetzt in Miß Henleys Zimmer erschien. Wenn es richtig ist, was von dem Geschmack der Türken erzählt wird, daß sie nämlich die Schönheit der weiblichen Gestalt höher schätzen als die des weiblichen Gesichtes, so würde die persönliche Erscheinung von Fanny Mere in Konstantinopel die Anerkennung gefunden haben, die ihr in London nicht zu teil wurde. Von schlanker, aber kräftiger und wohlgebauter Gestalt, zog sie die Augen der Männer und zuweilen auch der Frauen, mit denen sie zusammentraf, auf sich, so lange diese hinter ihr hergingen. Wenn sie aber ihre Schritte beschleunigten und im Vorbeigehen einen Blick in ihr Gesicht warfen, war bei ihnen sofort alles Interesse für Fanny verloren. Maler würden den Mangel in ihrem Gesicht als »Fehlen jeder Farbe« bezeichnet haben. Sie war eine der blondesten hübschen Frauen. Hellblonde Haare, mattblaue Augen ohne jeden Ausdruck und eine Hautfarbe, welche aussah, als ob sie vollständig blutlos wäre, riefen einen Eindruck hervor, welcher ihre Mitmenschen meistens unempfindlich für die Schönheit ihrer Figur machte. Trotzdem war diese eigentümliche Blässe kein Zeichen von schlechter Gesundheit, sie ließ im Gegenteil seltene physische Kraft vermuten. Durch ihre ruhige, höfliche Art und Weise schimmerte, wenn man so sagen darf, ein zu Grund liegendes Selbstbewußtsein durch, welches fähig zu sein schien, in bedenklichen Augenblicken des menschlichen Lebens rasch und furchtlos zu handeln. Im übrigen war jedoch der Ausdruck, den ihr Charakter in ihrem Gesicht fand, ein wesentlich passiver. Da war also ein ruhiges, energisches, junges Weib im Besitz von Eigenschaften, welche sich nicht an der Außenseite zeigten – ob von guten Eigenschaften oder schlechten, das konnte allein die Erfahrung lehren.

Da Iris es unmöglich fand, nach dem ersten Eindruck ein Urteil zu fällen und dadurch zu einem unmittelbaren Entschlusse zu kommen, mochte er nun günstig oder ungünstig für die Fremde ausfallen, begann sie das Gespräch mit der ihr eigenen Freimütigkeit ohne jeden Rückhalt.

»Nehmen Sie sich einen Stuhl, Fanny,« sagte sie, »und lassen Sie uns den Versuch machen, ob wir uns verstehen können. Ich denke, Sie werden mit mir darüber übereinstimmen, daß zwischen uns keine Unklarheit herrschen darf. Sie müssen daher auch wissen, daß Ihre frühere Herrin mir erzählte, warum sie Sie entlassen hat. Es war ihre Pflicht, mir die Wahrheit zu sagen, und es ist meine Pflicht, nicht gegen Sie in ungerechter Weise voreingenommen zu sein nach dem, was ich gehört habe. Bitte, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht weiß und auch nicht zu wissen wünsche, von welcher Art die Versuchung gewesen ist, der Sie –«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, Miß, daß ich Sie unterbreche! Mein Unglück war meine Eitelkeit!«

Ob ihr dieses Bekenntnis schwer wurde oder nicht, war nicht möglich, zu erkennen. Ihre Stimme klang ruhig, ihr Verhalten war bescheiden und höflich wie immer, die Blässe ihres Gesichtes zeigte nicht den geringsten Farbenwechsel. Hatte das Mädchen überhaupt kein Gefühl? Iris fing schon wieder an, zu fürchten, daß sie einen Mißgriff gethan hätte.

»Ich erwarte nicht, daß Sie jetzt näher auf die Sache eingehen,« sagte sie, »und ich frage Sie auch nicht, um Sie irgendwie zu kränken und zu beschämen.«

»Als ich Ihren Brief empfing, Miß, da versuchte ich zuerst, mir klar zu werden, wie ich mich Ihrer Güte würdig zeigen könnte,« antwortete Fanny. »Der eine Weg dazu, der sich mir darbot, war: ich durfte es nicht geschehen lassen, daß Sie besser von mir dächten, als ich verdiente. Wenn einem Mädchen, wie ich bin, zum erstenmale gesagt wird, daß ihre Figur sie für ihr Gesicht entschädige, so fühlt sie sich natürlich durch dieses erste Kompliment, was ihr überhaupt in ihrem ganzen Leben gemacht wurde, sehr geschmeichelt. Meine Entschuldigung, Miß, – und ich habe eine Entschuldigung – ist eine sehr gewöhnliche – ich konnte der Schmeichelei nicht widerstehen. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Iris fing an, ihre Meinung über Fanny zu ändern. Dieses junge Mädchen war jedenfalls keine gewöhnliche Erscheinung. Es gewann in ihren Augen den Anschein, und mehr noch als bloß den Anschein, daß Fanny eine helfende Hand verdiene, denn sie schien wahrheitsliebend und aufrichtig zu sein.

»Ich verstehe Sie und fühle mit Ihnen.«

Nachdem Iris diese Worte als Entgegnung gesagt hatte, änderte sie zartfühlend den Gegenstand des Gespräches.

»Lassen Sie mich jetzt hören, in welcher Lage Sie sich gegenwärtig befinden,« fuhr sie fort. »Sind Ihre Eltern noch am Leben?«

»Mein Vater und meine Mutter sind tot, Miß.«

»Haben Sie noch sonstige Verwandte?«

»Sie sind alle so arm, daß sie vollkommen außer stande sind, für mich etwas zu thun. Ich habe meine Ehre verloren – und ich muß mir jetzt selbst helfen.«

»Angenommen nun, es gelänge Ihnen nicht, eine andere Stelle zu finden,« entgegnete Iris.

»Es könnte leicht möglich sein, Miß.«

»Wie wollen Sie sich dann helfen?«

»Ich kann das Gleiche thun, was so viele andere Mädchen schon gethan haben.«

»Was soll das heißen?«

»Einige von uns verhungern als Nähterinnen, einige treiben sich auf den Straßen herum, einige enden ihr elendes Leben im Wasser. Wenn es für mich keine andere Aussicht mehr gibt, dann werde ich wohl auch diesen Weg gehen,« sagte das arme Mädchen so ruhig, als ob sie von einer Aussicht, die sich ihr eröffnet hätte, spräche. »Es wird niemand geben, der mich betrauert – und der Tod durch Ertränken soll, wie ich gelesen habe, kein sehr schmerzvoller sein.«

»Sie thun mir weh, Fanny,« sagte sie, »ich zum Beispiel würde darüber traurig sein!«

»Ich danke Ihnen, Miß!«

»Und dann überlegen Sie sich doch,« fuhr Iris fort, »es könnten sich ja auch noch in der Zukunft günstige Gelegenheiten darbieten, welche Sie jetzt nur noch nicht sehen. Sie sprechen von dem, was Sie gelesen haben, und ich habe schon bemerkt, wie klar und richtig Sie sich ausdrücken. Sie müssen eine gute Erziehung genossen haben; war es in der Schule oder zu Hause?«

»Ich habe einstens eine Schule besucht,« antwortete Fanny nicht ganz bereitwillig.

»Eine Privatschule?«

»Ja.«

Diese kurze Antwort warnte Iris, vorsichtig zu sein.

»Schulerinnerungen,« sagte sie, gutgelaunt, »sind nicht immer die angenehmsten in unserem Leben. Ich habe damit vielleicht einen Gegenstand berührt, der Ihnen unangenehm ist?«

»Ja, Miß. Sie sind damit auf eines meiner vielen Mißgeschicke gekommen; so lange meine Mutter lebte, war sie meine Lehrerin. Nach ihrem Tode schickte mich mein Vater in eine Schule. Als er Bankerott machte, war ich gezwungen, dieselbe wieder zu verlassen, gerade als ich eigentlich erst anfing, zu lernen und am Lernen Geschmack zu finden. Außerdem hatten die anderen Mädchen auch in Erfahrung gebracht, daß ich wegging, weil keine Mittel zu Hause mehr vorhanden waren, um das Schulgeld zu bezahlen – und das kränkte mich sehr. Es gibt noch vieles, was ich Ihnen von der Zeit erzählen könnte, aber ich habe allen Grund, meine Schulerinnerungen zu hassen. Ich darf auch jetzt die Erinnerung an die hinter mir liegenden traurigen Tage meines Lebens nicht von neuem auffrischen, da Sie mir durch Ihre Güte Gelegenheit geben wollen, sie ganz zu vergessen.«

Alles dieses wurde so einfach und bescheiden gesagt und verfehlte nicht, auf Iris Eindruck zu machen. Nach einem kurzen Stillschweigen sagte sie:

»Können Sie erraten, Fanny, woran ich jetzt denke?«

»Nein, Miß.«

»Ich habe mir soeben eine Frage vorgelegt. Wenn ich Sie nun in meinen Dienst nehmen wollte, würde ich es wohl jemals zu bereuen haben?«

Für den ersten Augenblick bemächtigte sich Fannys eine heftige Erregung. Die Stimme versagte ihr bei dem Versuche zu sprechen.

Iris fuhr fort:

»Sie sollen den Platz eines Mädchens einnehmen, welches jahrelang bei mir gewesen ist – ein gutes, liebes Wesen, das mich nur verlassen hat, weil sie krank war. Ich darf nicht zu viel von Ihnen erwarten: ich kann nicht hoffen, daß Sie mir das sein werden, was mir Rhoda Bennet gewesen ist.«

Fanny hatte sich jetzt wieder gefaßt.

»Ist es vielleicht möglich,« fragte sie, »daß ich Rhoda Bennet einmal sehen und sprechen kann?«

»Warum wollen Sie das?«

»Sie haben sie gern. Miß, das ist der eine Grund.«

»Und der andere?«

»Rhoda Bennet soll mir dabei helfen, daß ich Sie so bediene, wie ich Sie bedienen möchte; sie kann mir vielleicht Mut machen zu dem Versuche, ihrem Beispiele zu folgen.«

Fanny hielt inne und preßte die Hände heftig gegen einander; der Gedanke, welcher in ihr lebendig geworden war, zwang sie, zu sprechen.

»Es ist so leicht,« sagte sie, »Dankbarkeit zu fühlen, und so schwer, sie zu beweisen!«

»Kommen Sie zu mir,« antwortete ihre neue Herrin, »und beweisen Sie es morgen.«

Von einem mitleidigen Gefühle bewegt, sprach Iris diese Worte, welche einem unglücklichen Mädchen die verlorene Ehre und die dadurch verscherzte Stellung wieder gaben.


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