Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX.
Über die Arme-Leute-Literatur und die armen Leute selbst

Wir haben heutzutage seltsame Begriffe über die Lehre der menschlichen Verbrüderung. Trotz allem Humanitarismus verstehen wir sie nicht ganz recht, geschweige denn, dass wir sie ausüben. Es ist nicht absonderlich undemokratisch, wenn Einer seinen Diener die Treppen hinunterwirft; es mag unrecht sein, aber undemokratisch ist es nicht. Bis zu einem gewissen Grade liegt ein Bekenntnis der Gleichheit darin: man begegnet seinem Diener corps à corps und gewährt ihm sozusagen das Privilegium eines Duells. Es ist nicht undemokratisch, wenn auch etwas unvernünftig, zuviel von seinem Diener zu erwarten und auseinander zu sein vor Erstaunen, dass er weit hinter dem göttlichen Maasse zurücksteht. Undemokratisch und unbrüderlich ist nur derjenige, welcher solche Anforderungen nicht an ihn stellt. Undemokratisch und unbrüderlich ist nur der so beliebte humanitäre Satz: »man muss von den niederen Schichten nicht zu viel verlangen.« Alles in Allem betrachtet, kann man ohne zu grosse Übertreibung sagen, dass nur die Gewohnheit, seinen Diener nicht die Treppen hinunterzuwerfen, unbrüderlich und undemokratisch ist.

Nur weil die moderne Welt so wenig in Fühlung mit dem demokratischen Gefühle ist, nur deshalb scheint diese Behauptung des Ernstes zu entbehren. Demokratie ist nicht Philanthropie, und nicht einmal Altruismus oder soziale Reform. Demokratie fusst nicht auf Mitleid mit dem gemeinen Mann, sondern auf Verehrung des gemeinen Mannes, oder wenn Sie wollen, auf Furcht vor ihm. Sie beschützt den Menschen, nicht weil er elend, sondern weil er sublime ist. Was sie so sehr beanstandet, ist weniger, dass er Sklave, als dass er nicht König ist, denn der Demokratie Traum ist der der ersten römischen Republik, d. h. eine Nation von Königen zu sein. Das Demokratischste auf dieser Welt ist gleich nach einer echten Republik der hereditäre Despotismus. Ich meine damit einen Despotismus, unter welchem weder von Geist, noch speziellem Geeignetsein für einen bestimmten Posten die Rede ist. Rationeller Despotismus, der auf Wahl beruht, war stets der Fluch der Menschheit. Mit ihm kam stets ein eingebildeter Fant ans Ruder, der den gemeinen Mann missverstand und falsch regierte und absolut keinen Respekt für ihn hatte. Aber unrationeller Despotismus ist und war immer demokratisch, weil er den gemeinen Mann zum König machte. Die schlimmste Form von Sklaverei ist das sogenannte Cäsarentum, oder die Ernennung eines kühnen glänzenden Despoten, unter dem Vorwand, dass er sich dazu eigne. Denn das heisst soviel, als dass Menschen einen Repräsentanten wählen, der sie nicht repräsentiert. Der gemeine Mann traute einem Georg III., oder Wilhelm IV., weil diese gewöhnlich waren und ihn verstehen konnten. Die Masse vertraut sich einem gewöhnlichen Manne an, weil sie sich selbst traut. Aber sie vertraut sich auch einem grossen Manne an, weil sie in sich selbst das Vertrauen verlor. Der Heroen-Kultus blühte daher stets zu einer Zeit, in welcher die Menschen schwach und feige waren. Wir hören von einem Helden nur zu Zeiten, in welchen all die übrigen Menschen schwach und minderwertig waren.

Der hereditäre Despotismus ist somit seinem Wesen nach demokratisch, weil er seine Führer aufs Geratewohl wählt. Wenn er nicht gerade zugibt, dass jeder Mensch nicht regieren kann, so sagt er doch, dass irgendein Mensch zum Regieren sich eigne; und diese Auffassung ist fast ebenso demokratisch. Hereditäre Aristokratie ist bedeutend schlimmer und gefährlicher, weil unter der Menge der Aristokraten ein paar kluge Köpfe sein können, die Aristokratie daher leicht den Anschein einer intellektuellen Aristokratie erhalten kann, und wir kraft dieser paar klugen Männer eine Aristokratie des Geistes innerhalb der sozialen Aristokratie bekommen. Die paar Klugen werden über die Menge der Aristokraten kraft ihres Verstandes herrschen und über das Land, kraft ihres Aristokratentums. Dank diesem doppelt falschen Spiel werden Millionen von Ebenbildern Gottes, die glücklicherweise für ihre Frauen und Kinder weder als Gentlemen, noch als geistvolle Männer auf die Welt kamen, von einem Manne wie Balfour repräsentiert, der viel zu sehr ein Gentleman ist, um nur als klug, und viel zu klug ist, um nur als Gentleman zu gelten. Aber sogar die hereditäre Aristokratie entfaltet, wie durch Zufall, manchmal fundamental-demokratische Eigenschaften, die sonst nur dem hereditären Despotismus eigen sind. Es ist amüsant, zu sehen, was für verzweifelte Anstrengungen gemacht werden, um zu beweisen, dass im House of Lords kluge geistvolle Männer sitzen. Etwas muss zu ihrer Verteidigung gesagt werden, obwohl ihre Verehrer dies ungern zugeben, nämlich dass das House of Lords fast nur (und hierin liegt seine Stärke), aus nichtssagenden dummen Herren besteht. Und es liesse sich in der Tat zur Verteidigung dieser sonst nicht zu verteidigenden Gemeinschaft geltend machen, dass die klugen Köpfe im House of Commons, die ihre Macht ihrer Klugheit verdanken, von den mittelmässigen Lords, die ihre Macht einem Zufall verdanken, letzten Endes im Zaum gehalten werden. Freilich lässt sich diese Behauptung widerlegen, und man kann nur zur Antwort geben, dass das House of Lords längst kein solches mehr ist, sondern ein Haus von Geschäfts- und Finanzleuten, dass die Majorität des Adels überhaupt ihre Stimme nicht abgibt und das Feld den Stutzern und Spezialisten und verrückten alten Herren mit ihren Steckenpferden überlässt.

Aber trotz aller dieser Nachteile repräsentiert das House of Lords dennoch in gewissen Momenten das Land. Z. B. als alle englischen Lords gegen Gladstones zweite Home Rule-Vorlage stimmten. Diejenigen, die da sagten, dass sie das englische Volk vertraten, sagten die Wahrheit. Alle diese lieben alten Herren, die zufällig als Peers auf die Welt kamen, waren die Gegner aller jener lieben alten Herren, die zufällig als arme Teufel oder einfache Bürger auf die Welt kamen. Dieser Mob von Peers repräsentierte in der Tat das englische Volk, d. h. sie waren ehrlich, ignorant, leicht aufgeregt und fast alle einstimmig und sichtlich im Unrecht. Die rationelle Demokratie bringt natürlich des Volkes Willen besser zum Ausdruck, als diese zufällig vererbte Methode. Sollen wir ein demokratisches System haben, so lasst es vernünftig sein. Sollen wir aber eine Oligarchie haben, so lasst sie unvernünftig sein. Dann wenigstens werden Männer am Steuer sitzen.

Aber nicht nur das demokratische System oder die demokratische Philosophie wird die Demokratie fördern, sondern vor allem das demokratische Gefühl. Dieses ist wie alle elementaren und unentbehrlichen Dinge stets schwer zu beschreiben und in unserer aufgeklärten Zeit doppelt schwer, aus dem einfachen Grund, weil es besonders schwer auffindig zu machen ist. Es besteht in einer gewissen instinktiven Attitüde gegenüber den Dingen im allgemeinen: es besteht darin, Alles, was die Menschen eint, unsagbar wichtig, alles, was sie voneinander unterscheidet (wie blosse Intelligenz), fast unsagbar unwichtig zu finden. Wir können es am ehesten mit dem schnellen Überblick vergleichen, den wir vom Leben, in wichtigen Momenten, angesichts von Tod und Gefahren gewinnen. Gesetzt der Fall, wir machen die erschreckende Entdeckung: es liegt ein Toter unter dem Sofa. Wir werden schwerlich sagen: »es liegt ein toter Mann, der sehr vornehm ist, unter dem Sofa.« So sagen wir: »ein Toter lag unter dem Sofa.« Wir sagen: »es ist eine Frau ins Wasser gefallen.« Wir sagen nicht: »eine hochgebildete Frau fiel ins Wasser.« Es wird keinem Menschen einfallen, zu sagen: »es liegen die Überreste eines klardenkenden Menschen im Küchengarten.« Und niemand wird sagen: »wenn Sie nicht eilen und ihn zurückhalten, so wird dieser mit so viel musikalischem Sinn begabte Herr vom Felsen herunterfallen.« Aber dieses Gefühl, diese Auffassung von Leben und Tod, die uns stets umgibt, ist gewissen Menschen angeboren; sie haben es zu jeder Zeit, an jedem Ort. Der heilige Franz von Assisi hatte es. Walt Whitman hatte es. Wir können schwerlich verlangen, dass es die grosse Menge in demselben herrlichen Grade besitzt. Aber die eine hat es mehr als die andere; eine Zivilisation mehr als die andere. Niemand besass es wohl in höherem Grade als die ersten Jünger des heiligen Franz von Assisi, niemand besass es vielleicht in geringerem Grade als unsere heutige Zivilisation.

Genau betrachtet, zeigt heutzutage Alles diesen prinzipiell undemokratischen Stempel. Was Moral und Religion betrifft, müssen wir vom rein abstrakten Standpunkt sagen, dass die Sünden der gebildeten Klasse so gross, wenn nicht grösser sind, als die Sünden der Armen und Unwissenden. Aber in der Praxis besteht der grosse Unterschied zwischen der mittelalterlichen Ethik und der unseren darin, dass wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Sünden der Unwissenden gerichtet haben, während wir rundweg leugnen, dass die Sünden der gebildeten Klasse überhaupt Sünden sind. Wir reden immer von der Sünde des unmässigen Trinkens, weil es auf der Hand liegt, dass der Arme ihr leichter unterliegt als der Reiche. Aber wir reden nie von der Sünde des Stolzes, weil wir genau wissen, dass der Reiche darin mehr sündigt als der Arme. Wir sind immer schnell bereit, einen Menschen zum Heiligen oder zum Propheten zu erheben, wenn er die armen Leute aufsucht und ihnen gute Lehren erteilt. Aber die mittelalterliche Idee eines Heiligen ist grundverschieden von dieser Auffassung. Der mittelalterliche Prophet war ein ungebildeter Mann, der sich in die grossen Häuser begab und den Gebildeten gute Ratschläge gab. Die alten Tyrannen waren unverschämt und anmassend genug, die Armen zu unterdrücken und zu vernichten, aber nicht so anmassend, ihnen etwas vorpredigen zu wollen. Der Gentleman unterdrückte die armen Leute: aber die Armen predigten den Reichen. Und ebenso undemokratisch, wie wir in Glaubens- und Moralsachen sind, sind wir es in unserer ganzen Haltung im real-politischen Leben. Dass wir kein besonders demokratischer Staat sind, beweist schon der eine Umstand, dass wir uns beständig fragen, was wir mit den Armen anfangen sollen. Wären wir demokratisch, so fragten wir uns, was sie mit uns anfangen sollen. Unsere Regierung fragt sich beständig: was für Gesetze sollen wir machen? Ein rein demokratischer Staat würde sich fragen: welchen Gesetzen können wir folgen? Ein rein demokratischer Staat existierte wohl nie. Aber die feudalen Zeiten waren insofern demokratisch, als sie ganz genau wussten, dass die Gesetze, die sie machten, auch auf die Gesetzgeber anwendbar sein würden. Wer ein Luxusgesetz übertrat, wurde gewiss seines eigenen Luxus beraubt. Wer sich des Hochverrats schuldig machte, musste es mit dem Tode büssen. Aber alle modernen Gesetze betreffen die regierten Klassen, doch nicht die Regierenden selbst. Wir haben Wirtshausgesetze, aber keine Luxusgesetze, d. h. wir haben Gesetze gegen die Gastfreundschaft und Tafelfreuden der Armen, aber keine gegen die Gastmähler der Reichen. Wir haben Gesetze gegen die Blasphemie, d. h. gegen die rohe und beleidigende Ausdrucksweise, die nur von ganz gemeinen Menschen geführt wird. Aber wir haben keine Gesetze gegen die Heresie, d. h. gegen die intellektuelle Vergiftung einer Unzahl von Menschen, die nur von einem, in reicher und vornehmer Stellung stehen den Menschen verübt werden kann. Das Übel des aristokratischen Systems ist nicht, dass es zu unvermeidlichen Strafen oder Leiden führt, sondern dass es Alles in die Hände von Menschen legt, die sämtlich Strafen auferlegen können, ohne sie je selbst erdulden zu müssen. Das macht sie, ob nun ihre Absichten in ihren Augen gut oder schlecht sind, stets gleich frivol. Ich behaupte keineswegs, dass die regierende Klasse im heutigen England egoistisch ist: wenn sie will, ist sie märchenhaft altruistisch. Ich will nur sagen: wenn sie allgemeine Gesetze macht, schliesst sie sich selbst ganz davon aus.

Wir sind in Dingen der Religion undemokratisch: unsere Bemühungen, die Armen zu »heben«, beweisen es. Wir sind undemokratisch, in unserer Art zu regieren: unsere naiven Anstrengungen, die Armen gut zu regieren, beweisen es. Aber das undemokratischste an uns ist die Literatur: die Flut von Romanen über die armen Leute, und die ernsten Studien über diese, die uns alle Monate von den Verlegern zuströmen, beweisen es zur Genüge. Und je moderner ein Buch, desto sicherer kann man sein, dass es jedes demokratischen Gefühles bar ist.

Ein armer Mensch ist ein Mensch, der nicht viel Geld hat. Diese Beschreibung mag einfach und unnütz genug scheinen. Angesichts der herrschenden Meinung aber ist diese genaue Beschreibung keineswegs unnütz. Viele unserer Realisten und Soziologen reden von dem Armen, als wäre er ein Seepolyp oder ein Krokodil. Man braucht die Psychologie der Armut ebensowenig zu studieren, als die Psychologie des Zornes, der Eitelkeit oder der Sinnlichkeit. Es muss Einer wissen, wie es dem beleidigten Menschen zumute ist, nicht weil er selbst beleidigt wurde, sondern weil er ein Mensch ist. Und aus demselben Grunde soll er wissen, wie es dem Armen zumute ist, nicht, weil er selbst arm, sondern weil er ein Mensch ist. Was ich also vor Allem an dem Schriftsteller auszusetzen habe, der die Armut beschreibt, ist, dass er sein Thema studiert hat. Ein Demokrat brauchte dies nicht: er begreift den Armen ohne spezielles Studium.

Man hat die religiöse, politische und soziale Sucht, die verrufensten und schmutzigsten Gässchen aufzusuchen, zur Genüge diskreditiert; am verächtlichsten ist aber sicherlich jene, die aus künstlerischen Motiven geschieht. Von dem religiösen Eiferer setzt man wenigstens voraus, dass er sich für den Lumpenhändler interessiert, weil er ein Mensch ist; der Politiker bringt ihm ein unbestimmtes und perverses Interesse entgegen, weil er ein Bürger ist; nur der armselige Schriftsteller interessiert sich für den Lumpenhändler eben nur, weil er ein Lumpenhändler ist. Trotzdem ist sein Geschäft, solange er nur Eindrücke sammeln, oder in anderen Worten die Natur kopieren will, wenn auch öde, so doch ehrlich. Aber wenn er bemüht ist, uns begreiflich zu machen, dass er uns das innerste geistige Mark des Lumpenhändlers, seine trüben Laster, seine zarten Tugenden beschreiben will, so müssen wir ihm erwidern, dass seine Anmassung albern ist, und ihn daran erinnern, dass er ein Journalist ist und weiter nichts. Er hat viel weniger psychologische Autorität als der törichte Missionar. Denn er ist im buchstäblichen und wörtlichen Sinne ein Journalist, während der Missionar ein Eternalist ist. Der Missionar gibt wenigstens vor, eine Auffassung von einer dauernden Menschheit zu haben, während des Journalisten Auffassung nur von einem Tage zum anderen geht. Der Missionar kommt und sagt dem Armen, dass er das Los aller Menschen teilt. Der Journalist erhebt seine Stimme, um den Menschen zu erzählen, wie verschieden der Arme von allen Anderen ist.

Wenn die modernen Romane, die uns einen Einblick in die armen Stadtviertel gewähren, wenn die Romane eines Arthur Morrison oder die ausgezeichneten Erzählungen eines Somerset Maugham sensationell sein wollen, so kann ich nur sagen, dass sie sich ein edles und vernünftiges Ziel gesetzt und es erreicht haben. Eine Sensation, ein geistiger Shock hat wie der Kontakt mit kaltem Wasser etwas Belebendes und Erfrischendes; und die Menschen werden unzweifelhaft neben anderen Formen die Sensation auch in der Form des Studiums seltsamer Altertümer entfernter oder fremder Völker suchen. Im 12. Jahrhundert erhielten die Menschen die Sensation, wenn sie von den Menschen in Afrika mit den Hundsköpfen lasen. Im 20. Jahrhundert, wenn sie von den Buren mit Schweinsköpfen lasen. Man muss zugeben, dass die Menschen des 20. Jahrhunderts mit einer weit grösseren Leichtgläubigkeit ausgestattet waren. Denn es ist uns nicht bekannt, dass die Menschen im 12. Jahrhundert einen blutigen Krieg unternahmen, um die merkwürdige Kopfform der Afrikaner zu ändern. Aber es mag sein, dass wir, nachdem all diese Ungeheuer aus der populären Mythologie verschwanden, berechtigt sind und es für unsere Literatur notwendig ist, dass wir an die schrecklichen und haarigen Eastender glauben, damit unser kindlicher Glaube an äussere Wunder nicht untergehe. Aber das Mittelalter betrachtete mit viel mehr gesundem Menschenverstand, als wir ihm zutrauen, die Naturgeschichte im Grunde als eine Art Scherz; ihm war die Seele das Wichtige. Und während sie eine Naturgeschichte der Menschen mit den Hundsköpfen hatten, prätendierten sie nicht, eine Psychologie dieser Menschen zu haben. Sie erklärten nicht, dass sie die Seele der Hundsköpfigen kannten, oder ihre intimsten Geheimnisse, oder ihr himmlisches Sinnen teilten. Sie schrieben keine Romane über die Rasse, die halb Mensch und halb Hund war, und fügten ihr nicht die morbidesten alten und neuen Absurditäten bei. Es mag angehen, Menschen als Ungeheuer darzustellen, wenn man dabei die Absicht hat, die Leser aufzurütteln, denn das ist eine christliche Tat. Aber es ist unerlaubt, die Menschen so zu schildern, als hielten sie sich selbst für Ungeheuer. Kurzum, unsere Arme-Leute-Literatur mag als ästhetische Romanschreiberei ihre Berechtigung haben, unverteidigbar ist sie jedoch als geistiges Faktum. Ein enormes Hindernis steht ihrer Aktualität im Wege. Die Leute, welche sie schreiben und lesen, gehören der Mittelklasse oder oberen Klasse an; auf jeden Fall wird sie von den sogenannten Gebildeten gelesen. Die Tatsache aber, dass diese Bücher das Leben der Armen schildern, wie der Reiche es auffasst, ist ein Beweis dafür, dass es das Leben, welches der Arme führt, unmöglich sein kann. Wenn der Reiche die untersten Klassen schildert, lässt er sie eine rauhe, rohe und schwerfällige Sprache führen. Aber wenn die Armen Romane über uns, über Sie und mich verfassen würden, so Hessen sie uns in einem affektierten, gezierten und schrillen Ton sprechen, wie wir ihn von einer Herzogin in einer dreiaktigen Posse hören. Der Arme-Leute-Romancier erzielt seine Haupteffekte damit, dass er dem Leser Details bringt, die ihm fremd sind; aber diese Details können seiner Natur unmöglich fremdartig an sich sein. Sie können der Seele, die der Schriftsteller angeblich studiert hat, unmöglich fremd sein. Er erzielt seine Effekte, indem er die schmutzigen Fabriken und die schmutzigen Schenken in ein gleiches Grau hüllt. Aber für die Typen, die er dort angeblich studiert, ist der Unterschied zwischen einer Fabriksstätte und einer Schenke so gross, wie für den Mann aus dem Mittelstand der Nachtdienst im Bureau und ein Abendessen im Restaurant Pagani. Der Arme-Leute-Schriftsteller begnügt sich klarzumachen, dass in seiner bestimmten studierten Klasse eine Pickelaxt schmutzig aussieht und ein Zinngefäss ebenso. Aber der Mann, den er zum Gegenstand seines Studiums macht, sieht den Unterschied zwischen einem Zinngefäss und einer Axt so gut wie ein Kommis den Unterschied zwischen einem Handbuch und einer Luxusausgabe. Das Chiaroscuro des Lebens ist verloren, denn das grelle Licht und der Schatten sind verschwommen zu einem sanften Grau. Aber das grelle Licht und der Schatten sind in dieser Menschensphäre ebensowenig grau, wie sie es in jeder anderen sind. Der Mann, der die Freuden der armen Leute wirklich zum Ausdruck bringen könnte, ist auch der, der sie zu teilen vermöchte. Diese Bücher schildern, wie gesagt, keineswegs die Psychologie der Armut, sondern die Psychologie des Reichtums und Wohllebens im Kontakt gebracht mit der Armut. Sie sind keine Schilderung der armen Stadtviertel, sondern nur eine sehr dunkle und schreckliche Beschreibung derjenigen, die dort hinabsteigen.

Wir haben zahlreiche Beispiele dafür, wie wenig diese realistischen Schriftsteller in Fühlung sind mit den Typen, die sie sich zu schildern bemühen. Und sie sind es hauptsächlich deshalb nicht, weil sie realistisch sind. Die Armen haben viele Fehler, aber realistisch sind die Armen nie. Die Armen sind von Grund auf melodramatisch und romantisch; sie alle glauben an hohe moralische Plattheiten und Abschreibeheft-Geschwätz; das ist wohl der Endsinn jenes grossen Wortes: »Selig sind die Armen.« Selig sind die Armen, denn sie gestalten das Leben immer zu einem Melodram oder trachten, es dazu zu gestalten. Ein paar unschuldige Lehrmeister und Philanthropen (denn sogar Philanthropen können unschuldig sein) haben sich sehr erstaunt gezeigt, weil die grosse Masse die Schauerromane den wissenschaftlichen Abhandlungen und das Melodrama den Problemstücken vorzieht. Aber der Grund ist sehr einfach. Die realistische Erzählung ist sicherlich künstlerischer als die melodramatische. Wenn Sie eine feine geschickte Durchführung lieben, so ist sie in der realistischen Erzählung weit eher zu finden als im Melodram. Die realistischen Erzählungen haben in bezug auf Frische, Licht und Ornamentik viel vor dem Melodram voraus. Aber jedes Melodram hat wenigstens den einen Vorzug vor der realistischen Erzählung: es gleicht mehr dem Leben. Es gleicht mehr den Menschen, besonders den armen Menschen. Gewiss ist es banal und unkünstlerisch, wenn das arme Weib im Volks-Stück ausruft: »Glauben Sie, ich werde mein eigenes Kind verkaufen?« Aber die armen Frauen in Battersea High Road sagen das und sie sagen es bei jeder Gelegenheit; man kann es wie ein Gemurmel die ganze Strasse lang vernehmen. Es ist altbacken und schwach, natürlich, wenn sich der Arbeiter des Volks-Stückes vor seinem Arbeitgeber in die Brust wirft und sagt: »Ich bin ein ganzer Mann.« Aber der Arbeiter spricht so, er sagt es zwei-, dreimal im Tag. Es ist vielleicht langweilig, wenn die armen Leute auf der Bühne melodramatisch werden, aber es ist so, weil sie draussen auf der Strasse stets melodramatisch sind. Das Drama langweilt, wenn es langweilt, nur deshalb, weil es zu genau nach dem Leben ist. Etwas wie dasselbe Problem finden wir in den Schulknabengeschichten. Kiplings »Stalky and Co.« ist viel unterhaltlicher (wenn von Unterhaltung die Rede sein soll), als des verstorbenen Dekans Farrars »Eric«, oder »Little by Little.« Aber »Eric« ist eine wahre Schulknabengeschichte. Denn das wahre Leben, die wahre Kindheit ist voll von den Begebenheiten aus »Erics« Erzählung, voll von Dünkel, Dummheit, grausamer Frömmigkeit, voll von einem steten, wenn auch schwachen Anlauf zum Heroischen, kurzum, voll von Melodramatik. Und wenn wir den Armen wirklich helfen und unserer Hilfe einen festen Grund legen wollen, so lasst uns nicht realistisch sein und ihr Leben nur von aussen betrachten. Lasst uns melodramatisch werden und ihr Leben und Treiben miterleben. Der Schriftsteller soll nicht sein Notizbuch herausziehen und sagen: »Ich bin ein Sachverständiger.« Nein, er soll den Arbeiter im Volks-Stück nachahmen. Er soll sich in die Brust werfen und sagen: »Ich bin ein ganzer Mann.«


 << zurück weiter >>