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In einer Hinsicht bringt die schlechte Literatur uns mehr Gewinn als die gute. Die gute Literatur offenbart uns die Gesinnung eines Menschen, die schlechte die Gesinnung vieler. Ein guter Roman bringt uns die Wahrheit über eine Persönlichkeit, ein schlechter Roman die Wahrheit über dessen Autor; ja mehr noch: die Wahrheit über dessen Leser. Und je zynischer und unmoralischer die Beweggründe des Schriftstellers sind, desto klarer sehen wir in seine Karten. Das unehrenhafteste Buch ist das ehrlichste öffentliche Dokument. Ein ehrliches Buch spricht für die Einfachheit eines bestimmten Menschen: das unehrliche verlogene Buch für die Einfalt der Menschheit. Die pedantischen Entscheidungen und endgültigen Aufstellungen der Menschen finden wir in alten Statuten und Schriftwerken; aber die fundamentalen Voraussetzungen der Menschen, ihre unermüdliche Energie, die finden wir in der schrecklichen Zehn- und Zwanzig-Pfennig-Literatur. Deshalb lernt der wirklich kultivierte Mensch heutzutage von den guten Büchern nur eins: nämlich sie zu schätzen, während er aus den schlechten Büchern erfahren kann, wie man Länder regiert und einen Überblick über die menschliche Landkarte gewinnt. Einen interessanten Beleg dafür, dass die schwache Literatur die stärkere ist und umgekehrt die starke Literatur die schwächere ist, bringt uns die sogenannte aristokratische Belletristik, oder wenn sie wollen, die Snob-Literatur. Wer nun über die Aristokratie aufgeklärt und für immer aufgeklärt sein will, der lese nicht die konservativen Philosophen des heutigen Tages und nicht Nietzsche, sondern er versenke sich in die Romane aus der eleganten Welt. Was Nietzsche betrifft, so gestehe ich, noch im Zweifel zu sein. Nietzsche und diese Romane haben einen fundamentalen Charakter gemein: sie beide beten den herkulisch gebauten Mann mit dem gedrehten Schnurrbart an, und zwar auf eine etwas weibische und hysterische Art. Ja in einem Punkt behaupten diese Romane ihre philosophische Überlegenheit, weil sie ihre Helden mit Tugenden ausschmücken, die ihnen eigen sind wie: Faulheit, Liebenswürdigkeit, gedankenlose Gutmütigkeit und eine grosse Abneigung, dem Schwachen wehzutun. Nietzsche hingegen verleiht seinem Ideal eine Verachtung gegen die Schwachen, die man eigentlich nur unter Kranken antrifft. Doch ist es heute nicht meine Absicht, von den sekundären Vorzügen des grossen deutschen Philosophen, sondern von den Hauptvorzügen der genannten Romane zu sprechen. Die Schilderung der Aristokraten in dem populärsentimentalen Romane ist meiner Ansicht nach ein recht guter permanenter politischer und philosophischer Führer. Es mögen Ungenauigkeiten darin vorkommen. Der Baron mag nicht immer richtig tituliert und die Weite des Abgrunds, den ein Baron leicht überhüpfen kann, mag nicht immer genau bemessen sein, aber im allgemeinen bringt er gar keine schlechte Schilderung des Begriffes und des Zweckes der Aristokratie in der menschlichen Gesellschaft. Das Ideal, dass dem Aristokraten vorschwebt, ist Herrlichkeit und Tapferkeit, und wenn das Blatt »The Family Herald Supplement« manchmal diese Ideale verzerrt oder übertreibt, so trägt es nie zu dünn auf. Es wird den Abgrund nie zu klein und den Titel nie zu ungenügend schildern. Aber diese hergebrachte und verlässige Snob-Literatur wird von einer neuen Sorte überragt, einer neuen Snob-Literatur mit bedeutend mehr Prätensionen und meiner Ansicht nach bedeutend weniger achtungswert, jedoch (falls dies von Belang ist) weit besserer Literatur. Aber es ist viel schlechtere Philosophie, viel schlechtere Ethik und Politik und eine viel schlechtere Schilderung der Aristokratie und der Menschheit, als sie in Wirklichkeit sind. Aus den Büchern, von welchen ich jetzt reden will, können wir lernen, was ein kluger Mann auf Grund der aristokratischen Idee ausrichten kann. Aber von der »Family Herald Supplement«-Literatur lernen wir, was die aristokratische Idee mit dem Dummen anstellt. Und wenn wir soweit sind, dann sind wir im Laufenden über die Englische Geschichte.
Diese neue aristokratische Romandichtung muss die Aufmerksamkeit aller jener auf sich gezogen haben, die in den letzten fünfzehn Jahren das beste lasen, was auf den Markt kam. Die Romanschreiber der »Smart Set« schildern uns diese Welt nicht nur vornehm in Kleidung, sondern auch vornehm im Geiste. Zu dem schlechten Baron, zu dem guten Baron, zu dem romantischen und missverstandenen Baron, der für schlecht gilt, in Wirklichkeit aber gut ist, kam die in alten Zeiten unbekannte und ungeträumte Sorte hinzu, nämlich die des amüsanten Barons. Der Aristokrat hat nicht nur schlanker, kräftiger und schöner zu sein, als ein gewöhnlicher Sterblicher, sondern von nun an auch witziger. Er zeichnet sich durch hohen Wuchs und kurze Epigramme aus. Viele begabte, mit Recht berühmte moderne Romanschreiber sind in gewisser Beziehung verantwortlich, die ärgste Form des Snobismus unterstützt zu haben, nämlich die des intellektuellen Snobismus. Der begabte Autor von »Dodo« hat gewissermassen diese Mode ins Leben gerufen. Hichens in »Green Carnation« hat sein Publikum in der Idee bestärkt, dass junge Edelleute beredt sind und gut reden (allerdings stützt er seine Beweise auf eine vage biographische Grundlage und ist deshalb vielleicht entschuldbar). Mrs. Graigie hat diesbezüglich viel auf dem Gewissen, obwohl oder gerade weil sie einen moralischen und sogar religiösen Ehrlichkeitston in ihren aristokratischen Beschreibungen walten lässt. Wenn man eines Menschen Seele rettet (und sei es nur in einem Roman), so ist es indezent, zu sagen, dass er ein Gentleman war. Auch ein anderer Autor, der weit grössere Begabung an den Tag legte und der ein Meister der Romantik ist, Anthony Hope, kann von diesem Vorwurf nicht freigesprochen werden. In einem überstürzten, fast unmöglichen Melodrama: »The Prisoner of Zenda« bildet der Könige Blut ein herrliches, phantastisches Leitmotiv. Aber Königsblut ist nicht etwas Ernstzunehmendes. Und wenn z. B. Hope seinem Helden Tristram of Blent eine so ernste und eingehende Studie weiht, einem Menschen, der seine ganze bewegte Jugend hierdurch nur an ein dummes altes Gut dachte, so beweist er uns nur, was für einen übertriebenen Wert er der oligarchigen Idee beimisst. Es wird einem gewöhnlichen Sterblichen schwer, sich für einen jungen Mann zu interessieren, dessen ganzes Streben und Interesse dem Hause Blent zugewendet ist, während andere junge Leute seines Alters nach den Sternen greifen. Hope jedoch ist ein milder Fall, und er besitzt nicht nur das Element der Romantik, sondern auch eine feine Ironie, die uns davor warnt, diese ganze Eleganz und Vornehmheit allzu ernst zu nehmen. Vor allem ist er klug genug, seine jungen Edelmänner nicht mit der bekannten Schlagfertigkeit auszurüsten, denn von allen Servilitäten ist dies wohl die servilste: die begüterte Klasse mit mehr Witz als die anderen zu bedenken. Es liegt, wie schon gesagt, ein weit verächtlicherer Snobismus darin, als wenn die Novelletten ihren Edelmännern das Lächeln eines Apollo und die Tapferkeit eines waghalsigen Reiters verleihen. Dies mögen Übertreibungen sein punkto Schönheit und Mut, aber Schönheit und Mut sind die unbewussten Ideale aller Aristokraten, auch die der stupiden. Der Baron im Roman mag nicht ganz der Wirklichkeit entsprechen, was seinen täglichen Lebensgewohnheiten entspricht; aber er wird zu etwas Wichtigerem als Realität, er wird zum praktischen Ideal. Der erdichtete Baron mag keine genaue Kopie des wirklichen Barons sein; aber der wirkliche kopiert sicherlich das erdichtete Ideal. Er mag nicht gerade absonderlich schön sein, aber er würde alles hergeben, um schön zu sein; er mag nie einen wilden Elefanten bestiegen haben, aber er wird auf seinem Pony so siegesbewusst reiten, als ritte er auf einem wilden Elefanten. Und überdies sehnt sich die elegante Welt nicht nur nach Schönheit und Mut, sondern sie besitzt auch bis zu einem gewissen Grade diese Eigenschaften. Deshalb ist die populäre Literatur keineswegs eine niedrige Sykophantenleistung, wenn sie auch alle ihre Herzoginnen sieben Schuh hoch darstellt. Sie ist snobisch, aber nicht servil. Ihre Übertreibungen entspringen einer übertriebenen, aber ehrlichen Bewunderung, und ihre Bewunderung ist bis zu einem gewissen Grade nicht aus der Luft gegriffen. Die englische unterste Klasse fürchtet die oberste nicht im geringsten, es fürchtet sie wohl niemand. Sie vergöttert sie einfach. Die Kraft der Aristokratie liegt nicht in der Aristokratie selbst, sondern in den Slums; ihre Kraft ruht nicht im House of Lords, nicht im Servil Service, nicht im Ministerium des Innern, nicht einmal in der ungeheueren und unverhältnismässigen Beschlagnahme des englischen Bodens, sondern in einer bestimmten Denkart. Es ist Tatsache, dass, wenn ein Schienenarbeiter seinen Gefährten loben will, er mit Vorliebe zu sagen pflegt: »er benahm sich wie ein Gentleman«. Vom demokratischen Standpunkt aus könnte er ebensogut sagen: »er benahm sich wie ein Graf«. Der oligarchische Charakter des heutigen Englands ruht nicht, wie so manche Oligarchie, in der Grausamkeit der Reichen den Armen gegenüber, ja nicht einmal in der Güte der Reichen den Armen gegenüber, sondern in der nimmermüden unerschöpflichen Güte der Armen den Reichen gegenüber.
Der Snobismus der billigen Literatur ist demnach nicht servil, wohl aber das Vornehmtun der guten Literatur. Der Fünf-Pfennigroman, in welchem die Herzoginnen mit Diamanten besät einherziehen, ist nicht servil; wohl aber die neueren Romane, in welchen sie von Geist sprühen. Denn wenn wir den obersten Klassen Witz, Geist und Polemik zuschreiben, so schmücken wir sie mit Eigenschaften aus, die sie meistens nicht besitzen und nach welchen sie selten streben. Denn (um mit Disraeli zu sprechen, der ein Genie, aber kein Gentleman war und vielleicht hauptsächlich schuld ist, dass diese Schmeichelmethode eingeführt wurde) wir verrichten die Hauptfunktionen dieser Schmeichelei, die darinliegt, gewisse Leute zu Eigenschaften, die sie nicht besitzen, zu beglückwünschen. Ein Lob kann übertrieben gross und verrückt und doch jeder Schmeichelei bar sein, sofern es auch nur einige Begründung hat. Es mag Einer kommen und sagen, dass der Giraffe Hals bis zu den Sternen reicht und dass der Walfisch so gross wie die Nordsee ist und doch nur etwas zu lebhaft von Lieblingstieren reden. Aber wenn er anfängt, die Giraffe über ihre Federn und den Walfisch ob seiner eleganten Beine zu beglückwünschen, so stehen wir dem sozialen Element Schmeichelei gegenüber. Die unterste und mittlere Klasse Londons mag ruhig die Gesundheit und die Anmut der englischen Aristokratie bewundern, aus dem einfachen Grund, weil die Aristokraten im grossen Ganzen gesünder und anmutiger sind, als die Armen. Aber sie können nicht mit gutem Gewissen ihren Witz bewundern, aus dem einfachen Grund, weil die Aristokraten nicht nur nicht witziger, sondern bedeutend weniger witzig als die ärmere Klasse sind. Wer wirklich blitzenden geistvollen Gegenwitz vernehmen will, der wird ihn schwerlich an einer Diplomatentafel, wie die neueren Romane es uns weismachen, sondern bei einer Strassensperre zwischen zwei Omnibuskutschen zu hören bekommen. In der Tat würde der Graf mit seinen witzigen Einfällen, denen wir in Mrs. Graigies und Mrs. Fowlers Novellen dutzendweise begegnen, von dem nächstbesten Schuhputzer, den er ausschilt, was Witz und Humor betrifft, geschlagen werden. Die Armen sind nur sentimental und verzeihlich sentimental, wenn sie den Edelmann um seiner hilfreichen und freigebigen Hand willen preisen. Aber sie sind Sklaven und gemeine Schmeichler, wenn sie ihn für seinen Witz loben; denn davon besitzen sie weit mehr als er.
Diese oligarchischen Gefühle obenerwähnter Bücher kann man auch von einer anderen Seite betrachten. Es liegt ihnen ein subtilerer, nicht so leicht fasslicher und interessanterer Gedanke zugrunde. Der moderne Edelmann, besonders der englische moderne Edelmann, spielt in all diesen Erzählungen eine so wichtige Hauptrolle, dass er mit seinen teils reellen, wesentlichen oder zufälligen Eigenschaften unsere ganze englische Komödie beeinflusste. Besonders das stoische Ideal, das man absurder Weise dem Engländer unterschiebt, hat uns vollends steif und frostig gemacht. Es ist nicht das englische, aber bis zu einem gewissen Grade das aristokratische Ideal oder das Ideal der im Verfall begriffenen Aristokraten. Der Gentleman ist ein Stoiker, weil er eine Art Barbar und von einer grossen elementaren Furcht erfasst ist, dass ihn ein Fremder ansprechen könnte. Deshalb ist die dritte Eisenbahnklasse eine Gemeinschaft, während die erste ein Aufenthalt für wilde Eremiten ist. Ich erlaube mir jetzt, dieser etwas schwierigen Frage auf Umwegen näherzutreten. Wenn all die geistvollen und witzigen Erzeugnisse der letzten acht oder zehn Jahre, wenn Bücher von reellem, wenn auch verschiedenartigem Wert wie »Dodo«, »Concerning Isabel Carnaby« oder sogar »Some Emotions and a Moral« uns dennoch kalt lassen, so kann man es vielfach deuten, aber es läuft alle Deutung auf Einen Grund hinaus. Diese neue frivole Ausdrucksweise lässt uns unfroh, weil ihr keine wahrhafte Freude zugrunde liegt. Die Menschen, die sich in jenen Büchern so witzig begegnen, mögen sich nicht nur gegenseitig, sondern auch sich selber hassen, sie mögen morgen bankerott oder zum Tode verurteilt werden. Sie machen Spässe, nicht weil sie heiter, sondern weil sie unfroh sind: aus ihrem leeren Herzen kommt der Worte Schwall. Sogar wenn sie Unsinn reden, geschieht es mit Bedacht; sie geizen damit, denn es ist, um an W. S. Gilberts köstliche Worte aus seiner Oper »Patience« erinnert zu werden, wertvoller Unsinn. Sogar ihr Leichtsinn kommt ihnen nicht von Herzen. Alle, die einen Einblick in die modernen rationalistischen Bücher getan haben, wissen, dass ihre Vernunft etwas Verdriessliches hat und sogar ihre Unvernunft schwermütig ist.
Es ist nicht schwer, den Grund dieses Unvermögens festzustellen. Der Hauptgrund ist die Angst, sentimental zu werden; es ist wohl die niedrigste Form moderner Befürchtungen, niedriger als die Angst, aus welcher die Hygiene erwuchs. Wo immer gesunder, lauter Humor herrschte, kam er von Menschen, die nicht nur sentimental, sondern recht einfältig sentimental sein konnten. Keiner unter all diesen Schriftstellern hatte vielleicht den herzhaften lauten Humor eines sentimentalen Steele oder Sterne, oder eines sentimentalen Dickens. Diese weinten wie Kinder und lachten wie echte Männer. Wohl ist es richtig, dass der Humor Micawbers gute Literatur und das Pathos der kleinen Neil schlechte Literatur ist. Aber der Mann, der den Mut hatte, so medioker auf der einen Seite zu schreiben, ist gerade derjenige, der den Mut hatte, andererseits so gut zu schreiben. Dieselbe Unbewusstheit, dieselbe gewaltige heftige Einfalt, dieselbe gigantische Abstufung in der Handlungsweise, die diesem Napoleon des Komischen sein Jena eintrugen, brachten ihm auch sein Moskau. Und hierin wieder zeigt sich die Unzulänglichkeit und Erbärmlichkeit unserer modernen Witzköpfe. Unsere Herren machen die gewaltigsten, die heroischsten, pathetischsten Anstrengungen; aber wirklich schlecht schreiben, das bringen sie nicht zustande. Manchmal möchte man fast meinen, dass es ihnen gelang, aber unsere Hoffnung wird zuschanden, wenn wir ihre kleinen Unvollkommenheiten mit den ungeheueren Absurditäten eines Byron und Shakespeare vergleichen.
Wenn wir recht herzhaft lachen wollen, muss unser Herz dabei beteiligt sein. Ich weiss nicht, warum man immer Trauer und Schmerz mit den Herzensgefühlen assoziiert. Das Herz kann auch durch Freude und Triumph gerührt werden und durch Belustigung. Aber all unsere Komödianten sind tragische Komödianten. Die neusten Schriftsteller, die bis in Mark und Bein pessimistisch sind, denken gar nicht daran, dass das Herz auch mit Freude zu schaffen hat. Wenn sie vom Herzen sprechen, meinen sie damit die Angst und die Enttäuschungen der Seele. Wenn sie sagen, dass ein Mann das Herz am rechten Fleck hat, so meinen sie damit offenbar, dass es ihm in den Schuhen sitzt. Unsere ethischen Gesellschaften reden von Gemeinschaft, aber sie meinen damit keine fröhliche Genossenschaft. So auch reden unsere Schöngeister von der Plauderei, aber sie verstehen nicht darunter, was Dr. Johnson z. B. eine gute Plauderei nannte. Um zu dem zu gelangen, muss man unbedingt wie Dr. Johnson ein guter Mensch sein, ein Mensch, der weiss, was Freundschaft, Ehre und tiefe Zärtlichkeit ist. Vor allem muss man herzlich und unanständig menschlich sein, um wie ein Adam an den elementaren freudigen und schmerzlichen Dingen teilzunehmen. Johnson war ein heller humorvoller Kopf, deshalb scheute er sich nicht, ernst über Religion zu reden. Johnson war ein tapferer Mensch, einer der tapfersten dieser Erde, deshalb genierte er sich nicht, jedermann von seiner verzehrenden Furcht vor dem Tode zu sprechen.
Die Auffassung, dass es englisch sei, seine Gefühle zu unterdrücken, hörte man nie, bevor England nicht ausschliesslich von Schotten, Amerikanern und Juden regiert ward. Im besten Falle ist diese Idee eine Generalisierung des Herzogs von Wellington, der Irländer war. Im schlimmsten Falle ist sie eine Blüte jenes einfältigen Teutonismus, der von England so wenig wie von Anthropologie weiss, der aber immer von den Wikingern redet. Soviel ich weiss, unterdrückten die Wikinger ihre Gefühle absolut nicht. Sie weinten wie Kinder und herzten sich wie junge Mädchen, kurzum, sie benahmen sich diesbezüglich wie Achilles und alle starken Helden, die Lieblinge der Götter. Und obwohl die englische Nationalität mit den Wikingern wahrscheinlich nicht mehr zu tun hat, als die französische oder die irische Nationalität, so waren die Engländer insofern ihre Söhne, als sie wie diese lachten und weinten. Nicht nur alle bedeutendsten und typischen Dichter wie Shakespeare, Dickens und Richardson waren Sentimentalisten, sondern auch die typischen Männer der Tat waren sentimental und womöglich noch mehr. Im grossen Zeitalter der Königin Elisabeth, als die englische Nation endgültig ausgehämmert wurde, im grossen 18. Jahrhundert, als das britische Reich überall aufgebaut wurde, wo in aller Welt war da jener symbolisch-stoische Englishman, der sich in Grau und Schwarz kleidet und seine Gefühle unterdrückt, zu finden? Waren all die Kämpen und Seeräuber zur Zeit Königin Elisabeths so? War auch nur Einer unter ihnen so? Verbarg Grenville seine Gefühle, als er Weingläser mit seinen Zähnen zerbrach und sich so lange darauf verbiss, bis Blut aus ihnen quoll? Hielt Essex mit seinen Gefühlen zurück, als er seinen Hut in die See warf? Genügte es Raleigh, den Spaniern nur mit einer frechen Trompetenfanfare, wie Stevenson sagt, zu antworten? Versäumte Sidney in seinem ganzen Leben je die Gelegenheit, eine theatralische Bemerkung zu machen? Waren selbst die Puritaner Stoiker? Die englischen Puritaner unterdrückten zwar viel, aber auch sie waren zu englisch, um ihre Gefühle zu verbergen. Einem Wunder kann man es zuschreiben, dass Garlyle zwei so heterogene Dinge wie das Schweigen und Oliver Cromwell zu gleicher Zeit bewundern konnte. Cromwell war das lebendige Gegenteil von einem starken, schweigsamen Manne. Cromwell musste immer schwatzen, wenn er nicht weinte. Niemand wird vermutlich den Autor von »Grace Abounding« kalter Gefühle zeihen. Milton mag vielleicht als Stoiker gelten; in gewisser Hinsicht war er Stoiker, gerade wie er in gewisser Hinsicht ein eingebildeter Fant war und Polygamie trieb und noch verschiedene andere unerfreuliche und heidnische Eigenschaften hatte. Aber wenn wir diesen grossen einsamen Namen genannt haben, so finden wir in der ganzen englischen Geschichte nur mehr eine ununterbrochene Kette von gefühlsreichen und demonstrativen Männern. So sehr man auch die moralische Schönheit eines Etheridge, Dorset, Sedley und Buckingham bewundern mag, so wird man ihnen nie den Vorwurf machen können, ihre Gefühle versteckt zu haben. Karl II. war populär in seinem Lande, weil er, wie alle lebenslustigen englischen Könige, aus seinen Leidenschaften kein Hehl machte. Wilhelm von Oranien war sehr unpopulär, weil dieser Nichtengländer seine Gefühle zu verstecken wusste. Er war eigentlich der ideale Engländer der modernen Theorien: und gerade deshalb von allen echten Engländern verhasst. Mit dem Emporschwung des grossen Englands im 18. Jahrhundert finden wir in Literatur, Politik, Kunst und Kriegsberichten denselben lebhaften und offenen Ton. Die einzige Eigenschaft vielleicht, die der grosse Fielding mit dem grossen Richardson gemein hatte, war, dass sie kein Hehl aus ihren Gefühlen machten. Swift war hart und logisch, weil Swift ein Irländer war. Und wenn wir die Krieger und Herrscher, die Patrioten und Reichsgründer des 18. Jahrhunderts der Reihe nach durchnehmen, finden wir, wie gesagt, dass sie womöglich noch romantischer und poetischer als die Poeten selbst waren. Chatham, der der ganzen Welt seine Stärke und Kraft bewies, deckte dem House of Commons seine ganze Schwäche auf. Wolfe, der in seinem Zimmer mit gezücktem Schwert auf und ab ging, sich Cäsar und Hannibal nannte, ging in den Tod mit poesievollen Worten. Clive war ein ähnlicher Typus wie Cromwell oder Bunyan oder wie Johnson, d. h. er war ein starker verständiger Mann mit einem Anflug von Hysterie und Melancholie. Und gleich Johnson war er um das gesünder, als er auch morbid sein konnte. Die Erzählungen über all die Admiräle und Abenteuerer jener Zeit sind voll von Aufschneiderei, Sentimentalität und prächtiger Affektation. Aber wir brauchen kaum mehr Beispiele über den romantischen Engländer aufzuzählen, da Ein Beispiel alle anderen überragt. Rudyard Kipling sagte in seiner selbstgefälligen Art von den heutigen Engländern: »Wir fallen uns nicht um den Hals und küssen uns nicht, wenn wir zusammenkommen.« Es ist ganz richtig, dass diese alte universale Sitte mit dem neuen geschwächten England verschwand. Sydney hätte nichts dagegen gehabt, Spenser zu umarmen. Aber ich gebe gerne zu, dass Brodrick nicht so leicht Arnold Foster umhalsen wird: vielleicht ist dies ein Beweis der wachsenden Männlichkeit und militärischen Grösse Englands. Aber sogar der Engländer, der seine Gefühle verbirgt, kann noch in dem grossen Seehelden des Napoleonischen Krieges etwas Englisches herausfinden. Man kann die Legende Nelsons nicht so leicht aus der Welt schaffen. Und über den Sonnenuntergang seines Ruhms stehen für immer in goldenen glühenden Lettern jene echt englischen Gefühlsworte: »Umarme mich, Hardy«.
Das Ideal der Zurückhaltung ist daher Alles, nur nicht englisch. Es ist vielleicht etwas Orientalisches, etwas Preussisches, aber im grossen Ganzen kommt dieses Gefühl von keiner Rasse und keiner Nation. Es ist, wie gesagt, in gewissem Sinne aristokratisch; es stammt nicht von einem Volk, sondern von einer Klasse. Sogar die Aristokratie war, soviel ich weiss, nicht ganz so stoisch, als sie wirklich noch mächtig war. Ob dieses Ideal nun eine Tradition des Edelmannes oder nur eine Erfindung des neuen Adels (den man den dekadenten Adel nennen dürfte) ist, so viel ist gewiss, dass die Helden und Figuren der modernen Romane damit ausgerüstet sind. Von dem Aristokraten, der seine Gefühle caschierte, bis zu dem Aristokraten, der überhaupt keine Gefühle zu verbergen hatte, war der Schritt nicht weit. Der moderne Oligarchist machte daher eine Tugend aus der Kälte, wie aus dem Glanz der Diamanten; wie dem Sonettendichter, der seine Dame im 17. Jahrhundert besang, sind bei ihm die Bezeichnungen kalt, herzlos soviel wie Lobreden. Freilich wird es einem so unverbesserlich-gutmütigen und kindlichen Volk wie dem englischen Adel schwer, wirklich grausam zu sein, deshalb bringen sie in diesen Erzeugnissen nur eine Art passiver Grausamkeit zur Schau. Sie bringen es nicht zuwege, grausame Handlungen zu begehen; deshalb bedienen sie sich barscher Worte. Dies alles deutet auf Eines allein hin: nämlich, dass das belebende lebendige Ideal in England bei den Massen zu suchen ist; dass es da zu finden ist, wo Dickens es fand, Dickens, dessen Ruhm es war, ein Humorist, ein Sentimentalist, ein Optimist, ein armer Mensch, ein Engländer gewesen zu sein, aber dessen grösster Ruhm es war, die ganze Menschheit in ihrer wunderbaren und üppigen Pracht gesehen und – die Aristokratie gar nicht einmal bemerkt zu haben; Dickens, dessen grösster Ruhm es war, dass er keinen Edelmann zeichnen konnte.