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V.
H. G. Wells und die Riesen

Wir sollten einen Heuchler bis auf seine Ehrlichkeit durchschauen können. Wir sollten unsere Aufmerksamkeit dieser so dunklen und reellen Seite des Menschen zuwenden, in welcher nicht das Laster, das sie verbirgt, sondern die Tugend, die sie nicht zeigt, wohnt. Und je mehr wir diesem Problem näherkommen mittels der durchdringenden Schärfe der Barmherzigkeit, desto kleiner wird schliesslich der Platz sein, den wir der Heuchelei (gleichviel welcher Art) einräumen. Die Heuchler werden uns schwer weismachen, dass sie Heilige sind, aber auch schwer, dass sie Heuchler sind. Und immer zahlreichere Beispiele ergeben sich unserem Forschen von Fällen, in welchen überhaupt von Falschheit nicht die Rede sein kann, Fälle, in welchen die Menschen so aufrichtig waren, dass sie absurd, und so absurd, dass sie aufrichtig schienen. Ich führe hier ein Beispiel ungerechter Beschuldigung der Heuchelei an: Man hat es den ersten Christen immer zum Vorwurf gemacht und es ihnen als Inkonsequenz und Doppelzüngigkeit angerechnet, dass sie eine fast kriecherische Demut mit viel Ehrgeiz und Erfolgsucht verbinden konnten, dass es wie Humbug klingt, wenn einer sich täglich mit Emphase einen »armen, elenden Sünder« und König von Frankreich nennt. Aber im Grunde liegt in der Demut des Christen und der Unbegrenztheit seiner Wünsche nicht mehr Inkonsequenz, als in der Ergebenheit eines Liebenden und dessen Ansprüchen. Eines ist sicher: dass der Mensch immer eine herkulische Kraft entfaltete für die Dinge, deren er sich unwert erkannte. Es hat noch keinen Liebenden gegeben, der nicht behauptet hätte, eher zugrunde zu gehen, als das Ziel seiner Wünsche zu verfehlen, und noch keinen, der nicht zugegeben hätte, dass er der anderen Liebe nicht wert sei. Der ganze praktische Erfolg des Christentums liegt in der Demut, so unvollkommen sie oft ausfallen mag. Denn sobald die Frage von Verdienst und Lohn nicht berührt wird, erlaubt sich die Seele den kühnsten Flug. Fragen Sie einen Menschen, was er zu verdienen glaube, und er wird unwillkürlich und instinktiv kleinlaut werden –: »vielleicht keine sechs Zoll Erde!« Fragen sie ihn aber, was er erstreben will und er wird Ihnen sagen: »Den Mond und die Sterne.«

So kam die Romantik, ein rein christliches Produkt, ins Leben. Abenteuer mit Drachen und Ungeheuern ist nicht etwas, was man sich verdient. Das Mittelalter, das die Demut predigte, schuf die Romantik; die Zivilisation, die diese hervorbrachte, gewann die Erde. Wie verschieden die Heiden und Stoiker hierin dachten, bringt uns Addison in einer berühmten Stelle. Er lässt seinen grossen Stoiker also sprechen: »Den Sterblichen ist es nicht gegeben, das Glück zu erringen, wir aber, Sempronius, wollen mehr tun – wir wollen es verdienen.«

Aber der Geist der Poesie und des Christentums, der Geist der Liebenden, der Geist, welcher Europa mit seinem Abenteuer erfüllte, ist ein anderer. Er sagt: »Wir Sterbliche verdienen das Glück nicht, aber wir wollen es erringen.«

Und diese heitere Demut, dies Gemisch von persönlicher Bescheidenheit und unbegrenzter Siegeshoffnung, dies Rätsel ist so einfach, dass die Menschen glaubten, es müsse etwas geheimnisvoll Dunkles dahinterstecken. Die Demut ist eine so praktische Tugend, dass man sie für ein Laster hält; die Demut ist so mit Erfolg gekrönt, dass man sie für Hochmut hält. Und sie wird um so leichter missverstanden, weil sie meistens einen leisen Hang zur Pracht hat, der für Eitelkeit gelten mag. Die Demut geht am liebsten in Purpur und Gold. Der Stolz will sich von Purpur und Gold nicht imponieren lassen, – kurzum, diese Tugend versagt als solche, weil sie zu erfolgreich ist, und sie ist eine zu gute Geschäftsanlage, um noch als Tugend passieren zu können. Die Demut ist nicht nur zu gut für diese Welt, sondern auch zu praktisch, ich möchte fast sagen: zu weltlich.

Ein gutes und zugleich modernes Beispiel ist die oft gerühmte Bescheidenheit des Gelehrten. Nur mit Mühe glaubt man einem Menschen, der faktisch Berge hebt, Meere zerteilt, Tempel zerstört und Sterne greift, dass er ein stiller alter Herr ist, dem es nur um sein harmloses Steckenpferd zu tun und der zufrieden ist, wenn man ihn seine Wege gehen lässt. Einem Mann, der die Welt auf den Kopf stellt, weil er ein Sandkorn gespalten, glaubt man es nur schwer, dass ihm hauptsächlich an der Spaltung des Sandkorns und nur wenig an der Umwälzung der Erde gelegen war. Es ist nicht leicht, sich in einen Menschen hineinzudenken, dem ein neuer Himmel, eine neue Erde nur nebensächlich ist. Sicherlich verdanken die grossen Männer der grossen wissenschaftlichen Ära, (die, wie es scheint, zu Ende geht) gerade dieser beinah ängstlichen intellektuellen Bescheidenheit ihre ungeheuere Macht und ihre Erfolge. Und hätten sie den Himmel wie ein Kartenhaus zusammengeworfen, so hätten sie noch sicher behauptet, es nicht aus Überlegung, sondern aus reinem Zufall getan zu haben. Sobald ein Funken Stolz ihr Tun begleitete, waren sie verwundbar, solange sie unbewusst blieben, war voller Sieg auf ihrer Seite. Man konnte wohl einen Huxley, aber keinen Darwin widerlegen. Darwins Unbewusstheit, ich möchte fast sagen, Stumpfheit war das Überzeugende an ihm. Dies Kindliche und Einfache in der Gelehrtenwelt ist im Aussterben begriffen. Die Gelehrten fangen jetzt an, sich, wie man sagt, zu fühlen: sie werden auf ihre Bescheidenheit stolz, sie werden Ästheten wie alle anderen. Sie schreiben »Wahrheit« mit grossen Lettern; sie reden von den Religionen, die sie vernichtet, von den Entdeckungen, die ihre Vorgänger gemacht. Sie werden wie die modernen Engländer weich über ihre eigene Härte, sie fangen an, sich ihrer Stärke bewusst, d. h. schwach zu werden.

Aber ein Einziger ragt aus dieser hypermodernen Mitte hervor, der die klare persönliche Schlichtheit d er alten Gelehrten weit in unsere Zeit herübertrug. Ich meine H. G. Wells, eine geniale Künstlernatur, der sich aber ehedem der Wissenschaft widmete und der im höchsten Masse den Stempel des grossen Gelehrten: die Bescheidenheit besitzt. Und in seinem Fall, wie in weiter oben angeführten Fällen, wird es dem gewöhnlichen Sterblichen schwer, an diese Tugend zu glauben. Wells begann seine literarische Karriere mit den wildesten kühnsten Beschreibungen und Bildern; er schilderte uns z. B. die letzten Atemzüge, Angst und Pein der ersterbenden Welt – wie kann ein so kühner Mensch das Prädikat »bescheiden« an sich reissen? Seitdem schrieb er noch Tolleres: wie man Menschen aus Tieren zimmert und eine Jagd auf die Engel veranstaltet, als wären sie Vögel. Kann ein solcher Mann Bescheidenheit für sich beanspruchen? Als er mit seinen Lästerungen zu Ende war, fing er an, die politische Zukunft aller Menschen zu prophezeien: er gefiel sich in den schärfsten Einzelheiten und sein Ton war der aggressiver Autorität. Kann ein solcher Zukunftsprophet bescheiden genannt werden? Bei der zeitgemässen Auffassung von Stolz und Demut ist es freilich schwer, klar auseinanderzulegen, wie ein Mensch, der Grosses vollbringt und Gewagtes unternimmt, bescheiden sein kann. Aber es verhält sich so, wie ich es anfangs sagte.

Der demütige Mensch ist es, der Grosses tut und Grosses unternimmt. Der Demütige, dem Ausserordentliches zu schauen gewährt ist, erstens: weil er besser als alle anderen schaut, zweitens: weil er überwältigter und ergriffener ist, wenn die Dinge an ihn kommen, und drittens: weil er sie einfacher und ungeschminkter wiedergibt.

Ein Abenteuer passiert dem, der es am wenigsten erwartet, d. h. dem Romantischen, dem Schüchternen. Insofern blüht das Abenteuer dem Unabenteuerlichen.

Nun steht es mit G. H. Wells Bescheidenheit, wie mit vielen anderen vitalen Dingen: sie sind nicht leicht zu illustrieren. Dennoch, bäte man mich um Beispiele, so wüsste ich gleich, womit beginnen. Das Interessante an Wells ist, dass er nicht, wie so mancher seiner Zeitgenossen, aufhörte zu wachsen. Wer des Nachts nicht schläft, kann ihn wachsen hören.

Der beste Beweis ist, dass er graduell anderer Ansicht wurde und nicht aus Laune, sondern aus Überlegung. Er hüpft nicht, wie George Moore, von einem Standpunkt zum andern, er schreitet auf einem sicheren Weg einer bestimmten Richtung hin zu. Weder Eitelkeit noch Laune beherrschen ihn dabei, denn er gelangte von hochfahrenden zu einfachen, von unkonventionellen zu herkömmlichen Anschauungen. Diese seine Ehrlichkeit zeigt, wie wenig er Poseur ist. Wells behauptete einmal, dass in Zukunft die obersten Stände von den untersten so differenzieren würden, dass die einen die andern aufessen würden. Ein paradoxer Charlatan, der mit Beweisen für eine solche kühne Anschauung aufgetreten wäre, hätte sie nur aufgegeben, um noch verblüffendere zu bringen.

Wells gab sie auf und gelangte zu der tadellosen Ansicht, dass beide Klassen endgültig einer wissenschaftlichen Mittel- und Ingenieurklasse sich unterordnen und assimilieren würden. Damals war er von dem, was er behauptete, überzeugt, heute ist er es nicht mehr. Er kam zu der schrecklichsten Schlussführung, die einen Literaten befallen kann, nämlich: dass die landläufige Ansicht die richtige ist. Nur ein Held bringt es zuwege, vor eine tausendköpfige Menge zu treten und ihr zu sagen, dass zwei mal zwei vier sind.

H. G. Wells ist momentan in einer heiteren Phase konservativen Fortschritts. Er gelangt mehr und mehr zur Anschauung, dass die stillen Konventionen, wenn auch still, so doch lebendig sind. Seine reelle Art, sein gesunder klarer Verstand zeigt sich so recht in seiner Anschauung über Wissenschaft und Ehe. Er teilte einst, so viel ich weiss, die Ansicht gewisser Soziologen, dass man die Menschen erfolgreich nach Art der Hunde und Pferde paaren könne. Nicht nur teilt er sie nicht mehr, sondern er äusserte sich über sie in seinem »Mankind in the Making« mit so niederschmetterndem Humor, dass ich mir schwer denken kann, dass man überhaupt noch anderer Ansicht sein könnte. Allerdings bringt er als Haupteinwand, dass das Ding vom physischen Standpunkt unmöglich ist, aber dies ist meiner Meinung nach ein geringer Haken im Vergleich zu den anderen. Den Haupteinwand, welchen man gegen die auf wissenschaftlichem Wege zusammengebrachten Ehen (ein Weg des Studiums wert) erheben muss, ist, dass nur undenkbar feige Sklavennaturen sich ihnen unterziehen würden. Ich weiss nicht, ob die wissenschaftlichen Heiratsstifter recht haben (wie sie glauben) oder unrecht, wie H. G. Wells meint, wenn sie behaupten, dass mittels einer ärztlichen Oberaufsicht starke und gesunde Menschen erzeugt werden würden. Eins nur bin ich sicher, dass (gesetzt der Fall, es wäre so) der erste Schritt dieser starken und gesunden Menschen darin bestünde, die ärztliche Oberaufsicht über Bord zu werfen.

Der Fehler dieses medizinischen Geschwätzes ist, dass die Begriffe von Gesundheit und Vorsicht vermengt werden. Was hat die Gesundheit mit der Vorsicht zu tun? In speziellen Fällen mag sie vonnöten sein, wenn wir krank sind und gesund werden wollen. Aber auch dann trachten wir gesund zu werden, nur um keine Vorsicht üben zu müssen.

Sind wir Ärzte, so wenden wir uns zu den Schwerkranken und sagen ihnen, dass sie sich sehr in acht nehmen sollen. Sind wir aber Soziologen, so wenden wir uns an den Normalmenschen, an die Menschheit im allgemeinen. Und diese sollte die personifizierte Sorglosigkeit sein. Denn alle wesentlichen Funktionen eines gesunden Menschen sollten ausdrücklich mit Vergnügen und zum Vergnügen geschehen: sie sollten ausdrücklich nicht aus Vorsicht oder vorsichtshalber verrichtet werden. Der Mensch soll essen, weil er seinen Appetit zu befriedigen hat und nicht weil er seinen Körper erhalten muss. Er soll Bewegung machen, nicht weil er zu fett, sondern weil er das Fechten, die Pferde, das Hochgebirge liebt um ihrer selbstwillen. Er soll heiraten, weil er sich verliebt hat, und ja nicht, weil die Welt Nachkommen braucht. Die Nahrung wird das Zellengewebe seines Körpers erneuern, solange er nicht an dieses denkt. Die Bewegung wird ihn wirklich trainieren, solange er dabei an etwas anderes denkt. Die Ehe, die auf Grund der natürlichen edlen Erregung, die ihr eigen ist, eingegangen wird, hat allein Chance, eine gesunde Generation zu erzeugen. Das erste Gesetz der Hygiene will, dass wir unsere Bedürfnisse als Luxusbedürfnisse betrachten. So lasst uns denn Vorsicht üben in kleinen Dingen, wenn wir uns geritzt haben, oder von einer leichten Krankheit befallen sind, oder wenn immer Vorsicht vonnöten ist, aber im Namen der Hygiene lassen wir in wichtigen Dingen, wie z. B. in der Heirat, die Vorsicht ausser acht, auf dass unser Lebensquell nicht vertrockne.

Wells ist jedoch von seinem wissenschaftlichen Standpunkt nicht genügend losgelöst, um einzusehen, dass es Dinge gibt, die tatsächlich nichts mit der Wissenschaft zu tun haben. Er ist noch immer von dem grossen, wissenschaftlichen Irrtum befallen, d. h. von der Gewohnheit, nicht bei der menschlichen Seele anzufragen, was doch das erste sein sollte, sondern beim Protoplasma oder so etwas, was doch das letzte sein dürfte. Die einzige Lücke in seiner herrlichen geistigen Ausrüstung ist: dass er nicht genügend für die Materie des Menschen zuträgt.

In seiner neuen Utopia z. B. sagt er, dass einer der Hauptpunkte seiner Utopia die Leugnung der Erbsünde sein würde. Wenn er bei dem Menschen, d. h. bei sich selbst angefragt hätte, wäre er bald darauf gekommen, dass es ungefähr das allererste ist, an das der Mensch glauben müsse.

Er hätte, um sich kurz auszudrücken, herausgefunden, dass der beständige Hang zur Selbstsucht, eben von diesem »Selbst« und nicht von einer schlechten Erziehung oder Behandlung käme. Und die schwache Seite aller Utopien ist, dass sie angeblich die grössten Schwierigkeiten im Menschen überwunden haben, uns aber dann einen ausführlichen Bericht über die Überwindung der kleinen Schwierigkeiten bringen. Sie behaupten, dass kein Mensch mehr als seinen Teil will, sie sind aber dann sehr spitzfindig in der Auseinandersetzung, ob dieser Anteil per Automobil oder Luftschiff ihm zukommen soll. Ein noch schlagenderer Beweis für Wells' Gleichgültigkeit der menschlichen Psyche gegenüber ist sein Kosmopolitismus, die gänzliche Abschaffung jeder patriotischen Grenze. Seine Utopia muss ein Weltstaat sein (wie er sich in seiner naiven Art ausdrückt), sonst würden die Menschen seinen Staat mit Krieg überfallen. Es scheint ihm nicht einzuleuchten, dass auch, wenn die Welt ein einheitlicher Staat wäre, viele unter uns sich bis zum Ende der Welt bekriegen würden. Denn wenn wir zugeben, dass es Mannigfaltigkeit in Kunst und Meinung gibt, so hätte es doch keinen Sinn, nicht auch anzunehmen, dass es verschiedene Regierungsarten geben muss. Der Fall ist sehr klar. Wenn man nicht mit Absicht und Überlegung eine Sache entwertet, kann man nicht verlangen, das sie nicht wert sei, erkämpft zu werden. Es ist unmöglich, einen Konflikt mit den zivilisierten Staaten zu vermeiden, weil es unmöglich ist, einen Konflikt zwischen Idealen zu hindern. Wenn wir keinen Streit mehr zwischen den Nationen hätten, so hätten wir ihn eben zwischen Utopien. Denn die höchsten Dinge streben nicht nur nach Einheit, sondern auch nach Differenzierung. Viele werden für die Einheit kämpfen, man wird aber niemand hindern können, für die Differenzierung einzustehen. Diese Vielseitigkeit der höchsten Güter liegt der glühenden Vaterlandsliebe, der grossen europäischen Zivilisation zugrunde und zufällig auch der Dreifaltigkeitslehre.

Aber ich glaube, dass der Fehler der Wellsschen Philosophie, die er so geistvoll in den ersten Seiten seiner Utopia entwirft, tiefer liegt. Bis zu einem gewissen Grade leugnet er die Möglichkeit der Philosophie überhaupt. Wenigstens behauptet er, dass es keine sicheren und zuverlässigen Ideen gäbe, auf die man sicher bauen könne. Aber es wird einfacher und unterhaltender sein, G. Wells selbst reden zu lassen.

Er sagt: »Nichts ist von Dauer, nichts ist sicher (ausser der Pedantenseele) und gar Wesen! Es gibt keine Wesen, sondern nur eine allgemeine Aufeinanderfolge von werdenden Individualitäten, und Plato drehte der Wahrheit den Rücken, als er sich zu seinem Museum der spezifischen Ideen wandte. Es ist kein Bestand in unserer Wissenschaft. Wir geben jede kleine Entdeckung für eine grössere auf; ein helleres Licht folgt auf ein schwächeres; jedes stärkere durchdringt ein undurchsichtiges, auf das wir gebaut hatten und deckt uns neue verschiedenartige Undurchsichtigkeiten auf …« Ich erlaube mir mit Respekt zu sagen, dass, wenn Wells so spricht, er eine wesentliche Differenzierung übersieht. Es ist unmöglich, dass gar kein Bestand in unserem Wissen liegt. Wenn es sich so verhielte, so würden wir gar nichts wissen und von Wissenschaft nicht reden.

Unsere heutige Geistesbeschaffenheit mag sehr verschieden sein von jener vor ein paar tausend Jahren. Aber ganz und völlig doch nicht, sonst wären wir uns der Verschiedenheit nicht bewusst.

Wells, der an der Wahrheitsquelle sitzt, muss dieses Paradoxon zugeben. Er muss zugeben, dass gerade der Umstand, dass zwei Dinge voneinander verschieden sind, ergibt, dass sie sich in etwas ähnlich sind. Der Hase und die Schildkröte mögen an Schnelligkeit ungleich sein, aber in dem Besitz der Fähigkeit der Bewegung sind sie gleich. Man kann nicht sagen, dass der flinkste Hase schneller läuft als das isocele Dreieck oder wie die blassrote Farbe. Wenn wir aber von dem Hasen sagen, dass er schneller läuft, so wollen wir damit sagen, dass die Schildkröte auch läuft. Und wenn wir von einem Ding sagen, dass es sich bewegt, so heisst das soviel, als dass es Dinge gibt, die unbeweglich sind. Und sogar während wir von veränderlichen Dingen sprechen, geben wir zu verstehen, dass es unveränderliche gibt.

Aber den besten Beweis seines Irrtums gibt er uns in seinem selbstgewählten Beispiel. Es ist ganz richtig, dass ein schwaches Licht mit etwas Dunklem verglichen stark, mit etwas Hellerem schwach wird. Aber die Qualität des Lichtes als solches bleibt sich gleich, sonst würden wir nicht von einem stärkeren Licht reden. Wenn der Charakter des Lichtes nicht etwas ganz Bestimmtes für uns vorstellte, so könnten wir ebensogut von einem dichten Schatten in starkem Licht oder umgekehrt sprechen. Wenn der Charakter des Lichtes einen Augenblick nur unbestimmt oder um Haaresbreite angezweifelt würde, sobald (sagen wir) ein vager Begriff von blauer Farbe damit verbunden wäre, würden wir alsbald nicht mehr sagen können, ob das hinzugekommene Licht stark oder schwach ist. Kurzum, der Lauf der Dinge mag so veränderlich sein wie eine dahineilende Wolke, aber die Richtung muss so starr sein wie eine Landstrasse in Frankreich. Nord und Süd sind insofern relative Begriffe, als ich vom Norden in Bournemouth und vom Süden in Spitzbergen reden kann; aber wenn man nur den leisesten Zweifel über die Lage des Nordpols hätte, wäre es in demselben Maasse zweifelhaft, ob ich überhaupt südlich von Spitzbergen bin. Der absolute Begriff von Licht mag unerreichbar sein; es ist möglich, dass wir nie imstande sein werden, reines Licht zu erzeugen; es ist möglich, dass wir den Nordpol nie erreichen, aber dass er unerreichbar ist, will nicht sagen, dass er undefinierbar ist. Und nur den Umstand, dass er nicht undefinierbar ist, verdanken wir eine anständige Karte von Brighton und Worthing.

Plato, in anderen Worten, kehrte, als er sich zu seinem Museum der spezifischen Ideale wandte, nicht der Wahrheit, wohl aber Wells den Rücken, und gerade hierin zeigte er sein Genie.

Es ist nicht wahr, dass alles veränderlich ist, nur die äusserlichen materiellen Dinge sind es. Eines ist sicherlich unveränderlich und dies ist das Abstrakte, das Unsichtbare, der Gedanke. Wells sagt richtig, dass ein Gegenstand bald hell, bald dunkel scheint, je nach seiner Beziehung zu Licht und Dunkelheit. Aber beiden Fällen ist der Begriff des Lichtes gemeinsam als ein blosser Begriff, als etwas, was wir gar nicht gesehen haben.

Wells mag wachsen und wachsen bis in die unendlichsten Sphären, bis er den entferntesten Stern überragt. (Mir scheint, er müsse einen guten Roman darüber schreiben können.) In diesem Falle würde er die Bäume zuerst gross und dann klein erblicken, die Wolken zuerst hoch und dann nieder schauen. Aber in alle Ewigkeit würde ihn in der Einsamkeit der Sternenpracht, in dem Schauer des unendlichen Raumes das tröstliche Gefühl nicht verlassen, dass er immer grösser und grösser und nicht (zum Beispiel) dicker wird.

Und jetzt fällt mir ein, dass Wells in der Tat einen reizenden Roman über Menschen schrieb, die so gross wie Bäume werden, und in diesem Buch scheint er mir das Opfer dieses vagen Relativismus geworden zu sein. »The Food of Gods« ist ebenso wie Bernhard Shaws Stück vor allem eine Studie über den Übermenschen und obwohl er seine Ideen in eine halb pantomimistische Allegorie kleidet, so legen sie doch denselben intellektuellen Angriff bloss. Man kann von uns nicht verlangen, dass wir die Grösse eines Menschen anerkennen, wenn er nicht unserem Begriff von »Ideal« gerecht wird. Ja, wenn er unsere Begriffe von Grösse nicht übertrifft, können wir ihn nicht wirklich gross nennen. Das Interessanteste an der Übermenschidee hat Nietzsche gesagt: »Der Mensch ist etwas, was übertroffen werden will.« Aber schon das Wort »übertreffen« sagt, dass wir uns ein allgemeines Ideal zurechtgestellt haben, das überragt werden soll.

Wenn der Übermensch an menschlicher Grösse uns überragt, so werden wir ihn natürlich zum Schluss vergöttern, und sollten wir ihn vorher umgebracht haben; aber wenn er nur übermenschlicher ist, wird er uns wie ein anderes scheinbar planloses Monstrum gleichgültig werden. Er muss zuerst unsere Probe bestanden haben und wäre es nur, um uns Schrecken einzujagen. Die Stärke allein ist schon ein Ideal, allein es genügt nicht; und wir sehen keine Überlegenheit in der Stärke allein. Riesen – gehören wie es in den alten weisen Märchen steht – zum Gesindel. Übermenschen, die nicht gut sind, ebenso.

Der Roman »The Food of Gods« ist die Geschichte von Hans dem Riesentöter, vom Standpunkt des Riesen aus erzählt. Ich glaube kaum, dass die Literatur Ähnliches vor ihm brachte, obwohl ich keinen Zweifel hege, dass der psychologische Inhalt in der Wirklichkeit vorhanden war. Natürlich betrachtet sich der Riese, der von Hans umgebracht wird, als einen Übermenschen und Hans selbst als einen engherzigen Betbruder, der eine grosse Bewegung in der blühenden Lebenskraft hemmen und vernichten wollte. Wenn er, wie es nicht selten vorkam, zwei Köpfe aufsetzte, kam er sicher mit dem elementarsten aller Grundsätze, dass zwei besser taugen als einer allein. Wells würde die Neuerung in der Ausrüstung aber damit befürworten, dass sie einem Riesen erlaubt, eine Frage von zwei Seiten zu betrachten oder schnell anderer Meinung zu werden. Hans aber vertritt und kämpft für die beharrenden menschlichen Grundsätze, die von einem Mann, einem Kopf, d. h. von einer festen Anschauung, einem Gewissen, einem Herzen und einem Gesicht wissen wollen. Hans imponierte es wenig, ob der Riese recht gigantisch riesenhaft war; es lag ihm daran, zu wissen, ob er ein guter Riese, d. h. ein Mann sei, der irgend etwas nützen könnte; er wollte wissen, was seine religiösen, politischen, bürgerlichen Ansichten wären; ob er Liebe zu Kindern hätte, oder nur jene gruselig schlimme Liebe, sie aufzufressen; ob er, um ein schönes Bild zu gebrauchen, das Herz am rechten Fleck hätte. Hans musste ihn manchmal aufschlitzen, um dies herauszubekommen.

Die alte wahre Geschichte von Hans dem Riesentöter ist einfach die der Menschen. Wer sie verstünde, brauchte weder Bibel noch Geschichte zu studieren. Aber die Welt, und die heutige insbesondere, scheint sie absolut nicht verstehen zu wollen. Die moderne Welt ist mit Wells auf Seite der Riesen, Das ist der sicherste, deshalb auch der gemeinste Platz. Die moderne Welt, die ihre heutigen kleinen Cäsare preist, redet von ihrer Stärke und von ihrem Mut, und ist sie des ewigen Paradoxons nicht bewusst, das in der Verbindung beider Begriffe liegt. Der Starke ist nicht mutig. Der Schwache ist es, und wiederum ist es nur der Mutige, dem man in schlimmen Tagen Stärke zutrauen kann.

Um gegen den unvermeidlichen Hans aufzukommen, müsste der Riese, der sich wirklich trainieren wollte, einen täglichen Kampf mit zehnmal stärkeren Riesen aufnehmen. Das heisst, er müsste sein Riesentum aufgeben, und ein Hans werden. Die Sympathie, die wir Liberale und Nationalisten den Schwachen und Unterliegenden entgegenbringen, ist keine leere sentimentale Phrase, wie Wells und seine Freunde glauben. Es ist das erste Gebot des praktischen Muts. Es ist die beste Schule, im Lager der Schwachen mit den Schwachen zu kämpfen. Auch kann ich mir kaum denken, dass irgend etwas von grösserem Nutzen für die Menschheit wäre, als wenn eine Rasse von Übermenschen erstünde, die den Kampf mit kleinen Drachen aufnehmen würde. Ist der Übermensch besser als wir, so brauchen wir selbstverständlich nicht mit ihm zu kämpfen; aber warum ihn dann nicht gleich einen Heiligen nennen? Aber wenn er bloss stärker ist (sei es nun in physischer, geistiger oder moralischer Beziehung, das ist mir ganz einerlei), dann hat er mit uns zu rechten, soweit unsere Kraft reicht. Und sollten wir schwächer sein als er, so ist das noch kein Grund, schwächer als sonst zu werden. Wenn wir nicht gross genug sind, das Knie des Riesen zu greifen, so ist das kein Grund, noch kleiner als sonst zu werden und auf unsere eigenen Knie zu fallen. Das aber liegt aller modernen Heldenanbetung und Verhimmelung des Starken, des Cäsars, des Übermenschen, zugrunde. Damit diese mehr als Menschen werden, müssen wir weniger werden.

Zweifelsohne gibt es eine bessere und ältere Heldenverehrung. Allein der alte Held war, wie Achilles, menschlicher als alle zusammen. Nietzsches Übermensch ist kalt und freundlos. Achilles liebt seinen Freund so unsinnig, dass er ganze Heere niedermetzelt aus Schmerz, ihn verloren zu haben. Shaws traurige Cäsarengestalt ruft in seinem trostlosen Hochmut aus: »Wer nie hoffte, kann nie verzweifeln.« Der Gott-Mensch von seinem Schmerzenshügel bricht in die Worte aus: »War je ein Schmerz dem meinen gleich?« Die Stärke eines grossen Menschen besteht nicht darin, weniger als die anderen Menschen zu fühlen, sondern mehr. Und wenn Nietzsche sagt: »Ein neues Gesetz gebe ich euch: seid hart«, so hätte er besser getan zu sagen: »Ein neues Gesetz gebe ich euch: seid tot.« Empfindung ist die Definition des Lebens.

Ein letztes Wort über Hans den Riesentöter. Ich verweilte bei G. Wells und den Riesen, nicht weil der Übermensch den Hauptplatz in seiner Weltanschauung einnimmt: er ist weniger davon eingenommen als Bernhard Shaw. Ich verweilte dabei aus dem entgegengesetzten Grunde: weil diese Heresie einer unmoralischen Heldenanbetung über ihn, wie ich glaube, noch keine solche Gewalt bekommen hat, so dass Hoffnung vorhanden ist, dass einer unserer besten Köpfe davon verschont bleibe. In seiner »New Utopia« macht er des öftern Anspielungen auf W. E. Henley. Dieser geistvolle und unglückliche Mann lebte in der Bewunderung einer vagen Gewalt, und versenkte sich in die primitiven alten und wilden Geschichten, in die derben Balladen, in alles, was die primitive Literatur an Kraft und Urwüchsigkeit aufbot, um das Lob der Übermacht, die Rechtfertigung der Tyrannei herauszufinden. Aber es steht nichts von dem darin. Hans der Riesentöter: das ist die primitive Literatur. Sie singt das Lob des Schwachen. Sie nimmt Partei für die Minoritäten, für die unterliegende Minderzahl, wie nur irgendein heutiger Idealist. Die primitiven Balladen bringen dem Geschlagenen so viel Sentimentalität entgegen, wie die Schutzgesellschaft für Ureinwohner. Unsere Vorfahren, die noch roh und zäh waren, mit Keulen kämpften, harten Gesetzen unterworfen waren, und wirklich wussten, was kämpfen heisst, sie hatten nur zwei Sorten von Gesängen: Freudenlieder, wenn der Schwache den Starken besiegt hatte, Klagelieder, wenn der Mächtige den Schwachen unterjochte. Dieser Trotz dem Status quo gegenüber, dies ständige Bestreben, das gerade herrschende Gleichgewicht zu stören, die voreilige Herausforderung des Starken und Mächtigen, dies ist die innerste Natur und das innerste Problem des psychologischen Wagstückes, »Mensch« genannt. Seine Kraft besteht in der Verachtung der Kraft. Eine verlorene Hoffnung ist die einzig wirkliche Hoffnung, die einzig wahre der Menschheit. In den derbsten Balladen der Waldmenschen singen sie das Lob des Kühnen, der nicht nur die Könige, sondern auch die Helden herausfordert. Sobald Robin Hood eine Art Übermensch wird, schildert ihn uns der ritterliche Geschichtschreiber, wie er von einem Kesselflicker, den er beiseitestossen wollte, durchgebläut wird. Und der ritterliche Chronist behauptet, dass Robin Hood diese Gegenwehr mit einer wahren Begeisterung empfing. Diese Grossmut ist kein Produkt des modernen Humanitätsprinzips. Kein Produkt irgendeiner Form von Frieden. Diese Grossmut ist einfach eine verloren gegangene Kriegskunst. Chauvinisten à la Henley seufzen nach diesem derben kriegerischen England und sie graben die alten Kampfgeschichten der alten kampflustigen Engländer aus, und was sie in all den grimmigen alten Geschichten finden, ist nichts anderes als »Majuba-Politik.«


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