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XVIII.
Das Trugbild der jungen Nation

Wenn man von Jemandem sagt, er sei ein Idealist, so sagt man damit nur, dass er ein Mensch ist. Dennoch mag es Idealisten und Idealisten geben; und gerade so wie die Menschheit in bewusste und unbewusste Idealisten zerfällt, unterscheidet sie sich in bewusste und unbewusste Ritualisten. Sonderbarerweise müssen wir in diesem wie in anderen Fällen konstatieren, dass der bewusste Ritualismus der relativ einfache, während der unbewusste der relativ schwere und komplexe ist. Die Bräuche, die relativ einfach und offener Natur sind, sind jene, die man rituell nennt; wie z. B. der Gebrauch von Wein und Brot, von Feuer und Kniebeugungen. Aber die wirklich komplex-vielfarbigen, mühsam ausgearbeiteten und unnütz-formenreichen Bräuche sind jene, die unbewusst geübt werden. Es handelt sich nicht mehr um einfache Dinge wie Wein und Brot und Feuer, sondern um wirklich spezielle, lokale, und aussergewöhnlich spitzfindige Dinge wie Türmatten, Türklopfer, elektrische Klingeln, Zylinder, weisse Krawatten, Visitenkarten und Konfettis. Tatsächlich findet der moderne Mensch uralte und einfache Gebräuche nur mehr in religiösen Mummereien; er kann sozusagen den Ritus nur in ritualistischen Kirchen loswerden. Denn was diese alten und mystischen Formen betrifft, kann man wenigstens sagen, dass sie nicht nur blosse Symbole, sondern der Ausdruck primitiver menschlicher Poesie sind. Die erbittertsten Gegner des Katholizismus werden zugeben, dass, wenn nicht die Kirche Brot und Wein erfunden hätte, es gewiss durch eine andere Institution geschehen wäre. Jeder, der mit etwas poetischem Instinkt begabt ist, wird zugeben müssen, dass Brot und Wein für den gewöhnlichen menschlichen Instinkt durch kein anderes Symbol vertreten werden können. Aber weisse Abendkrawatten sind ritualistisch und nichts anderes. Niemand wird behaupten, dass sie poetisch und primitiv seien, dass zu irgendeiner Zeit die weisse Krawatte die anbrechende Nacht symbolisiere. Man möchte eher annehmen, dass der gewöhnliche Instinkt auf den Gedanken kommen müsste, nicht weisse, sondern gelbe, rote, lila, olivgrüne und goldbraune Krawatten als Symbol der untergehenden Sonne zu tragen. Mr. Kensit, zum Beispiel, glaubt, dass er kein Ritualist sei. Aber das tägliche Leben Kensits, wie das der meisten modernen Menschen ist ein ununterbrochener zusammengedrängter Katalog mystischer Mummerei und mystischen Unsinns. Ich greife ein Beispiel unter hunderten heraus. Ich vermute, dass Kensit, wenn er einer Dame seiner Bekanntschaft begegnet, den Hut vor ihr lüftet: was kann es, vom abstrakten Standpunkt aus betrachtet, feierlicheres und absurderes geben, als die Existenz des anderen Geschlechtes durch Entfernung eines Kleidungsstückes, das man in die Luft schwingt, zu symbolisieren? Es ist, wie gesagt, kein natürliches, oder primitives Symbol, wie Feuer oder Brot. Er könnte ebensogut seine Weste ausziehen, wenn er einer Dame begegnet; und wenn der soziale Ritus seiner Zivilisation es verlangte, würde jeder ritterliche und sensible Herr seine Weste vor der Dame heruntertun. Kurz und gut, Kensit und Genossen finden, und zwar in allem Ernst, dass man dem Himmel zu viel Weihrauch und Zeremoniell widmet, aber niemand findet, dass man der Erde hierin genug tun kann.

Alle Menschen sind also Ritualisten, bewusst oder unbewusst. Die bewussten begnügen sich meistens mit ein paar sehr einfachen und elementaren Symbolen; die unbewussten werden ihrer nicht satt, weil sie ganz wahnsinnig ritualistisch sind. Der Eine wird Ritualist genannt, weil er einen Brauch ersann und ihn festhält; der andere nennt sich Anti-Ritualist, weil er tausende befolgt und es vergisst. Dasselbe Verhältnis wie zwischen dem bewussten und unbewussten Ritualisten, welches ich mit einiger unvermeidlicher Länge zu schildern versuchte, besteht zwischen dem bewussten und unbewussten Idealisten. Es ist ganz töricht, über Zyniker und Materialisten loszuziehen: es gibt keine Zyniker und es gibt keine Materialisten. Ein jeder ist Idealist: nur verfällt er manchmal auf ein falsches Ideal. Ein jeder ist ein unverbesserlicher Sentimentalist: leider ist sein Sentimentalismus oft ein falscher. Wenn wir z. B. von einem gewissenlosen Geldmenschen sprechen und sagen, dass er alles um Geld täte, so drücken wir uns ganz inakkurat aus und verleumden ihn stark. Er täte viel um Geld, aber nicht Alles; so würde er die eigene Seele verkaufen und täte er, wie Mirabeau so witzig bemerkt, sehr weise daran, Schmutz gegen Geld einzutauschen. Er würde die Menschen drücken und erpressen; aber man darf nicht vergessen, dass Seele und Menschheit keine Dinge sind, an die er glaubt. Er hat Ideale, zarte, oft unbestimmte Ideale, die er nicht um Geld verletzen würde. Er würde z. B. nicht um Geld aus der Suppenschüssel trinken; und nicht um Geld seine Frackschösse nach vorne tragen; und nicht um Geld die Nachricht verbreiten, dass er an Gehirnerweichung leide. Das Leben hat uns bewiesen, dass es mit den Idealen wie mit den Bräuchen eine gleiche Bewandtnis hat. Dass, während zweifelsohne Menschen, welche unweltlichen Idealen nachhängen, leicht zum Fanatismus neigen, uns betreffs des Fanatismus eine weit grössere und ständigere Gefahr von Jenen droht, die sich weltlichen Idealen hingeben.

Die Leute, welche sagen, dass ein Ideal etwas Gefährliches, Beirrendes und Berauschendes sei, haben vollständig recht. Aber am betrügerischsten ist die unideale Sorte von Idealen, am wenigsten trügerisch die wahrhaften Ideale. Diese wirken ernüchternd auf die Gemüter wie die Bergspitzen, wie die Abgründe und der unermessliche Raum. Ich gebe zu, dass es ein starker Missgriff ist, eine Wolke für einen Berg zu halten; aber immerhin war die Wolke, die man dafür halten konnte, der Erde sehr nahe. Ebenso müssen wir zugeben, dass es nicht ungefährlich ist, etwas Praktisches für ein Ideal zu halten. Das allergefährlichste Ideal aber ist dasjenige, das praktisch aussieht. Ein hohes Ideal zu erreichen, ist unendlich schwer, deshalb werden wir uns schwerlich weismachen, dass wir es erreicht haben. Ein billiges Ideal zu erreichen, ist leicht; deshalb können wir uns mit Leichtigkeit dem Glauben hingeben, dass wir es erreicht haben, wenn wir im Grunde gar nichts erreicht haben. Zum Beispiel: Es mag der Wunsch, ein Erzengel zu werden, kühn genug sein, aber derjenige, der ihn gefasst hat, wird Askese oder gar Verzückung zur Schau tragen, schwerlich aber Selbsttäuschung. Er würde sich nicht einbilden, ein Erzengel zu sein und mit den Händen schlagen, als wären sie Flügel. Aber gesetzt den Fall, ein normal veranlagter Mensch hätte den heftigen Wunsch, ein Gentleman zu sein! Wer nur ein wenig Menschenkenntnis besitzt, weiss, dass nach Ablauf von neun Wochen sich jener einbilden würde, ein Gentleman zu sein. Und da es natürlich nicht der Fall wäre, wird das Resultat eine sehr reale Zersetzung und Kalamität des sozialen Lebens sein. Nicht die hohen Ideale bringen die Welt aus den Fugen, die niedrigen und zahmen Ideale tun es.

Die moderne Politik illustriert meine Behauptung zur Genüge: Wenn man uns sagt, dass die alten liberalen Politiker wie Gladstone nur nach Idealen strebten, so sagt man uns baren Unsinn, denn sie interessierten sich für ganz andere Dinge, wie z. B. Stimmen in den Wahlen zu sammeln. Und wenn man uns sagt, dass die modernen Politiker wie Chamberlain, oder (in seiner Art) Roseberry, sich nur für die Wahlen und materiellen Interessen begeistern können, so berichtet man uns wieder Unsinn: diese Männer haben Ideale wie alle anderen. Der Unterschied ist nur der, dass das Ideal für den alten Politiker ein Ideal und nichts anderes war, während es für den neueren Politiker nicht ein Traum bleibt, sondern zur Realität wird. Der liberale Politiker alten Schlages würde sagen: »Es wäre gut, wenn eine republikanische Confederation die ganze Welt beherrschte.« Aber der moderne Politiker sagt nicht: »Es wäre gut, wenn ein britischer Imperialismus über die ganze Welt herrschte«; er sagt: »es ist gut, dass der britische Imperialismus die Welt regiert,« während jedoch kein Wort daran wahr ist. Der liberale Politiker alten Schlages würde sagen: »Irland sollte eine gute irische Verfassung haben.« Aber der moderne Unionist sagt nicht: »Irland sollte eine gute englische Regierungsverfassung haben«; er sagt: »Irland besitzt eine gute englische Verfassung,« was jedoch absurd ist. Kurz, der moderne Politiker glaubt, dass einer praktisch ist, nur wenn er praktische Behauptungen aufstellt. Es scheint, als ob ein Irrtum nichts bedeute, so lange er ein materieller Irrtum ist. Aber instinktiv fühlt jeder von uns, dass dies ganz falsch ist und man das gerade Gegenteil behaupten muss. Ich für meine Person würde sicherlich lieber mein Zimmer mit einem Menschen teilen, der sich für den lieben Gott als für eine Heuschrecke hält. Dass Einer stets praktische Bilder vor Augen hat, mit praktischen Dingen beschäftigt ist, und ihnen die höchste Wichtigkeit zuschreibt, beweist noch lange nicht, dass er in der Tat praktisch ist: alle Narren haben ähnliche Symptome. Dass unsere modernen Staatsmänner Materialisten sind, hindert sie nicht daran, morbid zu sein. Wenn jemand immer nur Engelsgestalten sieht, so mag er zum Schluss Supernaturalist bis zum Exzess werden. Aber wenn einer im Delirium tremens immer Ratten sieht, ist er deshalb noch lange kein Naturforscher. Und wenn wir den Hauptprozentsatz sämtlicher Ideen unserer modernen Politiker betrachten, so finden wir, dass sie fast alle auf Täuschung beruhen. Es fehlt uns nicht an Beispielen: Was für ein Wesen wird nicht mit dem Wort Union getrieben? Die Union ist an sich so wenig vorteilhaft, wie die Trennung an sich vorteilhaft ist. Eine Partei für die Union aufzustellen, und eine andere für die Trennung, ist ebenso absurd, wie eine Partei für das Treppaufsteigen, eine andere Partei für das Abwärtssteigen zu gründen. Es handelt sich nicht darum, ob wir treppauf oder treppab gehen, sondern wohin wir gehen und was das Ziel unserer Schritte ist. Die Einigkeit ist Stärke, sie kann auch Schwäche bedeuten.

Ein Wagen fährt besser, wenn ihm zwei Pferde vorgespannt werden, aber zwei Zweiräder zu einem Vierräder machen zu wollen, ist offenbar ein Unding. Aus zehn Nationen Eine zu schmieden, mag so leicht ausführbar sein, als aus zehn Schillinge einen halben Sovereign zu machen. Es mag aber auch so unmöglich sein, als wenn man zehn Foxterriers zu einem Bullenbeisser verwandeln wollte. Es handelt sich in allen Fällen nicht um Union oder Mangel an Union, sondern um Identität oder Mangel an Identität. Zwei Nationen können kraft historischer und ethischer Gründe so vereint sein, dass sie sich gegenseitig eine Stütze sind. So verbringen England und Schottland ihre Zeit damit, sich Komplimente zu schneiden; aber ihre gegenseitigen Anstrengungen laufen in distinkt-paralleler Linie und sie stossen nicht aufeinander. Schottland bleibt nach wie vor kalvinistisch und schreitet in der Bildung voran; England bleibt nach wie vor ungebildet und selbstzufrieden. Aber infolge gewisser anderer politischer und ethischer Gründe mögen zwei Nationen so vereint sein, dass sie immer in ein gegenseitiges Gemenge kommen; ihre Wege stossen aufeinander und laufen nicht parallel. So z. B. sind England und Irland so vereint, dass die Irländer manchmal über England, aber nie über Irland Herr werden können. Das Unterrichtssystem, die letzte Erziehungsvorschrift mitinbegriffen, sind hier, wie in Schottland, ein sehr gutes Beispiel. Die weit überwiegende Mehrzahl der Irländer ist streng katholisch, während die weit überwiegende Mehrzahl der Engländer zu einem vagen Protestantismus sich bekennt. Die irische Partei im Unions-Parlament ist gerade stark genug, die Engländer zu verhindern, ein unbestimmt protestantisches Erziehungswesen zu haben, und nicht stark genug, den Irländern zu erlauben, ein definitiv-katholisches Erziehungswesen aufzustellen. Das ist ein Tatbestand, den kein gesund denkender Mensch dulden würde, wenn es ihm nicht die Sentimentalität des Wortes Union angetan hätte.

Ich wollte jedoch nicht dieses Beispiel, sondern ein anderes anführen, um die ausgemachte Leere und den Irrtum darzulegen, welche den Behauptungen des modernen Realpolitikers zugrunde liegen. Ich will insbesondere von einem anderen und viel allgemeineren Irrtum reden, der allen Parteien eigen ist, eine kindlich-irrige Anschauung, die sie immer wieder in ihren Reden vorbringen, die aber nur in einer einzigen falschen Metapher beruht. Ich meine die allgemeinen modernen Redensarten über junge und neue Nationen, über ein junges Amerika, über ein neues Neuseeland. Das Ganze ist ein Wortspiel: Amerika ist nicht jung, Neuseeland ist nicht neu. Es fragt sich sehr, ob sie nicht beide bedeutend älter als England und Irland zusammen sind.

Wir können freilich die Metapher jung anwenden, wenn wir von Amerika und den Kolonien als neuen Ansiedelungen sprechen. Wenn wir aber damit meinen, dass diese Länder die romantischen Attribute der Jugend, wie Lebendigkeit, Ungeschliffenheit, Unerfahrenheit, Hoffnungsfreudigkeit und lang bevorstehendes Leben besitzen, so ist es sonnenklar, dass wir uns durch eine platte Redensart betören lassen. Jede andere Institution, die parallel mit der Gründung einer unabhängigen Nation läuft, gibt uns einen Beweis dafür. Sagen wir zum Beispiel, ein Klub, der »Milch- und Soda-Klub« wurde gestern (wie ich nicht zweifle) ins Leben gerufen, so ist dieser »Milch- und Soda-Klub« natürlich ein junger Klub, weil er gestern entstand, aber in keinem anderen Sinn ist er jung; er besteht wahrscheinlich aus altersschwachen Herren und ist selbst am Sterben. Wir können sagen, dass er jung ist, weil er gestern gegründet wurde, wir können sagen, dass er alt ist, weil er wahrscheinlich übermorgen bankrott geht. Das ist alles sehr klar. Wer immer sich dieser Illusion hingäbe betreffs eines Bankhauses oder Bäckerladens, wäre reif für das Narrenhaus. Aber die allgemeine moderne politische Anschauung, dass Amerika und die Kolonien sehr kräftig sein müssen, weil sie jung und neu sind, ist nicht viel gesünder. Dass Amerika lange nach England gegründet wurde, ist kein Grund, dass Amerika aller Wahrscheinlichkeit nach nicht lange vor England zugrunde gehen wird. Dass England vor seinen Kolonien existierte, will absolut nicht sagen, dass es dieselben nicht wahrscheinlich überleben wird. Und wenn wir die Weltgeschichte studieren, so finden wir, dass fast alle grossen europäischen Nationen ihre Kolonien überlebt haben. Wenn wir die gegenwärtige Weltgeschichte betrachten, finden wir, dass, wenn etwas alt geboren und jung gestorben ist, es eine Kolonie war. Die griechischen Kolonien gingen längst vor der griechischen Zivilisation zugrunde. Die spanischen Kolonien gingen unter lange vor Spanien selbst; auch unterliegt es keinem Zweifel, ja es ist höchst wahrscheinlich, dass die Zivilisation, die Kolonial-Zivilisation, die ihre Existenz England verdankt, nicht die Dauer und die Vitalität Englands haben wird.

Die englische Nation wird sich wie alle europäischen Nationen behaupten, wenn die angelsächsische Rasse längst den Weg alles Fleisches gegangen sein wird. Es fragt sich jetzt freilich in allem Ernst, ob uns im Gegensatz zu der unleugbaren Trivialität der nur chronologischen Jugend in Amerika und in den Kolonien wirklich eine neue junge Kraft erwächst? Es liegen keine greifbaren Beweise vor, deshalb erfinden wir sie, wie wir es in einem der letzten Gedichte Rudyard Kiplings lesen können. Bezüglich des englischen Volkes und des südafrikanischen Krieges sagt Kipling: »Wir taten den jüngeren Nationen schön, um der Menschen willen, die dort schiessen und reiten konnten.« Es gibt Leute, die diese Stelle mit Entrüstung lasen. Was mich betrifft, so kann ich nur sagen, dass diese Behauptung absolut unwahr ist. Die Kolonien lieferten uns freiwillige Truppen, die uns sehr vonnöten waren, aber sie lieferten keineswegs die besten und tapfersten Männer. Auf englischer Seite leisteten, wie zu erwarten war, die besten englischen Regimenter das Beste. Die Männer, die schiessen und reiten konnten, waren nicht die begeisterten Kornhändler Melbournes, ebensowenig wie die begeisterten Buchhalter Cheapsides. Die Männer, die das Schiessen und Reiten verstanden, waren die unter europäischer Disziplin aufgewachsenen Soldaten. Die Kolonisten waren gewiss ebenso mutig und kräftig wie ein anderer Durchschnittseuropäer, und sie kämpften wacker. Ich meine nur, dass, um jene Theorie der jüngeren Nationen zu stützen, behauptet werden müsste, dass die Kolonialtruppen brauchbarer und heroischer waren als die Schützen bei Colenso oder die »Fighting Fifth«, doch wäre kein Sterbenswörtchen daran war.

Eine ähnliche Behauptung wurde betreffs der Literatur der Kolonien gewagt; sie sei ein frisches, würziges und bedeutendes Produkt. Die imperialistischen Zeitschriften überraschen uns alle Augenblicke mit einem neuen Genie aus Queensland oder Kanada, durch welches wir würzige Steppenluft zu atmen bekämen. Eines steht fest, und jeder, der sich nur ein wenig für Literatur interessiert (ich persönlich gestehe, dass ich mich nur in ganz geringem Masse dafür interessiere), wird zugeben, dass die Geschichten dieser Genies nur nach Druckerschwärze (und zwar nicht nach der allerbesten), riechen. Die imperialistische Einbildungskraft hiess das generöse englische Volk aus diesen Büchern Kraft und Jugend herauslesen. Aber die Kraft und die Jugend liegt nicht in diesen neuen Schriftstellern, sondern im alten Herzen Englands. Wer immer diese neuen Erzeugnisse unparteiisch studiert, wird finden müssen, dass sie nicht einmal eine besonders neue Atmosphäre atmen, dass sie nicht nur keine neue gute Literatur, sondern nicht einmal eine neue schlechte Literatur sind. Die erstklassigen Schriftsteller der neuen Kolonien sind fast gleichbedeutend mit den zweitklassigen des alten Landes. Gewiss, sie fühlen den Zauber der Wildnis, des Urwaldes, wie alle Menschen in Melbourne oder Margate oder South St. Pancras ihn fühlen. Aber die Bücher, die diesen Autoren gelingen und von der Seele geschrieben sind, atmen keineswegs den Zauber des Urwaldes, sondern die Romantik des Londoner Stadtlebens. Was ihre Seele wirklich mit Schaudern erfüllt, ist nicht das Geheimnis des Urwaldes, sondern das Geheimnis eines Hansom Gab.

Es gibt freilich einige Ausnahmen dieser Regel: Olive Schreiner ist eine der markantesten, und sie gehört zu jenen Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Olive Schreiner ist eine kühne, glänzende und realistische Schriftstellerin, aber gerade diese Eigenschaften besitzt sie, weil sie nicht englisch ist. Ihre Heimat ist die der Teniers und Maarten-Maartens, d. h. die Heimat der Realisten. In literarischer Beziehung ist sie mit den Pessimisten des Kontinents verwandt, mit jenen Novellisten und Schriftstellern, deren Mitleid noch Grausamkeit ist. Olive Schreiner ist die einzige Kolonial-Engländerin, die nicht konventionell ist, aus dem einfachen Grunde, weil Südafrika die einzige englische Kolonie ist, die nicht englisch ist, und es wahrscheinlich nie sein wird. Ausnahmen gibt es wohl, wenn auch in der Minderzahl. Die Erzählungen z. B. von Mc. Ilwain über Australien sind wirkungsvoll und kräftig, ein Grund, weshalb sie dem Publikum nicht mit Trompetenstoss vorgesetzt werden. Meine allgemeine Behauptung jedoch wird von denen, die Literatur lieben und verstehen, nicht widerlegt werden können. Es ist nicht wahr, dass uns die Zivilisation der Kolonien in der Literatur Besseres und Stärkeres, oder auch nur Anzeichen davon bringt. Es mag ja ein schöner Zug von uns sein, dass wir uns dieser liebevollen Illusion hingeben, jedoch gehört dies in ein anderes Kapitel. Die Kolonien mögen Englands Gemüter angefacht haben. Ich behaupte hier nur, dass sie der Welt kein neues Buch geschenkt haben.

Was die englischen Kolonien betrifft, wünsche ich jedoch nicht missverstanden zu werden. Ich sage nicht, dass sie oder Amerika keine Zukunft haben und nicht einst grosse Nationen werden mögen. Ich beanstande nur die allgemeinen Phrasen in bezug auf sie. Ich stelle in Abrede, dass sie zu einer grossen Zukunft, zu grossen Nationen bestimmt sind. Ich bezweifle auch (selbstredend), dass irgendein menschliches Wesen bestimmt ist, etwas zu werden. All diese absurden physikalischen Metaphern wie Jugend, Alter, Leben, Sterben, an Nationen angewandt, sind nur pseudo-wissenschaftliche Versuche, um den Menschen die furchtbare Freiheit ihrer einsamen Seelen zu verbergen.

Für Amerika ist folgende Warnung am Platze: es mag in geistiger Beziehung leben oder zugrunde gehen, wie es ihm beliebt. Aber was Amerika gerade jetzt nottut, ist, der Tatsache ins Auge zu blicken, nicht, wie nahe es etwa seinem Entstehen, sondern wie nahe es seinem Ende sein mag. Es ist nur eine Redensart, zu sagen, dass die Zivilisation der Vereinigten Staaten jung ist: es fragt sich in allem Ernst, ob sie nicht in den letzten Zügen liegt. Wenn wir die physische Metapher, die in dem Worte Jugend liegt, endgültig beiseite gelegt haben, was jeder tut, der nur einen Moment nachdenkt, so fragt es sich, welchen Beweis wir dafür haben, dass Amerika eine junge frische Kraft, und nicht eine alte verbrauchte sei. Das Land zählt viele Einwohner wie China, es hat viel Geld wie das besiegte Karthago oder das sterbende Venedig. Es ist voll Tätigkeit und nervöser Aufregung, wie Athen nach seinem Untergange, wie alle griechischen Städte in ihrem Verfall. Es liebt das Neue; aber das tun die alten Leute auch. Die Jungen lesen die Chroniken, die Alten die Zeitungen. Amerika bewundert Kraft und Schönheit, zum Beispiel die kräftige barbarische Schönheit seiner Frauen; aber das taten die Römer auch, als die Goten vor ihren Toren waren. Alle diese Eigenschaften sind vollkommen vereinbar mit Stagnierung und Verfall. In drei Hauptsymbolen sehen wir das Glück und die Grösse einer Nation sich spiegeln: wenn es heroisch in seiner Regierung, heroisch im Krieg, heroisch in der Kunst ist. Neben seiner Regierung, die eines Landes Wesen und Seele verkörpert, ist nichts bezeichnender als seine künstlerische Stellungnahme einem Feiertag, seine moralische Stellung einem Kampfe gegenüber: in einem Wort, Leben und Tod gegenüber.

Was diese ewigen Merkmale betrifft, so vermisse ich sie in Amerika. Es ist so schwach und müde wie das moderne England oder irgendeine westliche Grossmacht. Seine Politik ist die Englands: ein verblüffender Opportunismus und eine grosse Verlogenheit. Sein Kriegswesen, wie seine nationale Attitüde haben eine noch auffallendere und melancholischere Ähnlichkeit mit England. Es gibt sozusagen drei Stadien in der Geschichte eines Volkes. Im Anbeginn, noch klein, bekämpft es kleine Mächte; zur Grossmacht vorgeschritten, erklärt es Grossmächten den Krieg; später dann kleinen Mächten, von denen es aber behauptet, dass sie gross und mächtig sind, nur um sein altes Feuer, seine alte Ehrsucht anzufachen. Der nächste Schritt ist, dass es selbst zur kleinen Macht herabsinkt. England zeigte uns diese Symptome der Dekadenz zur Genüge im Transvaalkrieg, aber Amerika noch mehr in seinem Krieg mit Spanien. Ironischer und absurder als je in irgendeinem anderen Krieg, berührte der Kontrast zwischen dem enormen Truppenaufwande und der sorgfältig ausgesuchten Schwäche des Gegners. Amerika fügte seinen spät-römischen oder byzantinischen Eigenschaften noch die eines Caracalla bei, d. h. die Eigenschaft, Siege davonzutragen, die keine sind.

Doch wenn wir zu dem letzten Prüfstein einer Nation kommen: die schönen Künste, die Malerei und Literatur, so sieht es erst recht schlimm bei uns aus. Die englischen Kolonien haben uns keine grossen Künstler geschenkt: vielleicht ist dies ein Beweis, dass sie noch voll schlummernder Kräfte sind. Amerika jedoch hat grosse Künstler hervorgebracht, und hiermit ist sicher bewiesen, dass es voll schöner Zwecklosigkeit ist und den Keim alles Endes in sich trägt.

Was immer die amerikanischen Genies sein mögen, junge Götter sind sie keinesfalls, die uns eine neue Welt schaffen. Ist vielleicht Whistlers Kunst trotzig, mutig, barbarisch, beglückend und geradeaus? Steckt uns etwa Henry James mit dem Übermut eines Schulknaben an? Nein, die Kolonien sind noch heil, sie haben noch nicht gesprochen. Ihr Schweigen mag das eines neugeborenen Kindes sein. Aber Amerikas Stimme haben wir vernommen, und die klingt sanft und erschreckend und so deutlich, wie die Stimme eines Sterbenden.


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