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VI.
Weihnachten und die Ästheten

Die Welt ist rund, so rund, dass Optimisten und Pessimisten von Anfang an sich stritten, ob sie denn richtig stünde. Die Schwierigkeit liegt nicht in dem Faktum, dass Gut und Böse ziemlich gleich verteilt ist, sondern hauptsächlich darin, dass die Menschen sich nicht klar sind, was gut und was böse ist. Hierin besteht die schwierige Lage der konfessionslosen Religion. Sie behaupten, die Schönheit sämtlicher Religionen zu fassen, aber manchem von uns scheint es, dass sie nur das Langweilige sämtlicher Religionen ausgelesen haben. Alle Farben, rein vermischt, geben ein vollkommenes Weiss. Auf einem menschlichen Farbenkasten vermischt, geben sie eine Schmutzfarbe: die Couleur so mancher neueren Religion. Die Vermengung vieler Religionen bringt oft ein schlimmeres Ergebnis, als irgendeine Sonderreligion und wäre es die der Würgerbande der Thugs. Die Verwirrung entsteht aus der Schwierigkeit, die wirklich guten und schlechten Seiten einer gegebenen Religion herauszufinden und dies wird für jene pathetisch, die das Unglück haben, an einer Religion die gemeinhin guten Seiten schlecht und die gemeinhin schlechten Seiten gut zu finden.

Es liegt fast etwas Tragisches darin, Menschen im photographischen Negativ zu bewundern, ehrlich zu bewundern; ihnen für ihr weiss zu gratulieren, wenn es doch schwarz ist und umgekehrt. Dies passiert uns mit vielen menschlichen Religionen. Nehmen wir zwei Institutionen, welche für die religiöse Energie des neunzehnten Jahrhunderts zeugen. Die Heilsarmee und Auguste Comtes Philosophie.

Das allgemeine Urteil der gebildeten Menschen über die Heilsarmee geht meistens dahin, dass sie »zweifelsohne unendlich viel Gutes tue, aber dafür eine gewöhnliche profane Form gewählt habe, dass ihr Ziel ausgezeichnet, aber ihre Methode falsch sei«. Mir scheint, der Fall liegt umgekehrt. Ich weiss nicht, ob das Ziel der Heilsarmee ein gutes ist, aber ich weiss bestimmt, dass ihre Methode ganz vortrefflich ist. Sie ist die aller intensiven herzgewinnenden Religionen, ist wie diese volksthümlich, militärisch, allgemein und sensationell; nicht ehrfurchtsvoller als die der Katholiken, denn die Ehrfurcht in seiner trübzarten Bedeutung ist nur dem Ungläubigen gemein. Dieses schöne Dämmerlicht finden wir bei Euripides, Renan und Matthew Arnold, aber bei den Gläubigen finden wir es nicht. Dort ist Lachen und Kampf. Der felsenfesten Wahrheit bringt der Mensch Verehrung nicht entgegen: wohl aber einer schönen Lüge. Und obwohl die Heilsarmee ihre Stimme in einer ordinären Umgebung und in einer hässlichen Form erklingen lässt, so ist es doch die Stimme des frohen und zornvollen Glaubens, laut wie das Lärmen eines Dionysius, wild wie die Wasserspeier des Katholizismus, und keine blosse Philosophie. Professor Huxley nannte die Heilsarmee in seiner geistreichen Art: »korybantisches Christentum«. Er war der letzte und edelste jener Stoiker, die das Kreuz nie verstunden. Hätte er das Christentum erkannt, so hätte er einsehen müssen, dass es nie ein Christentum gegeben hat, und nie ein Christentum geben wird, das nicht korybantisch ist.

Und der Unterschied zwischen Absicht und Ausführung ist gerade der, dass es sehr schwer ist, die Absichten einer Institution wie der Heilsarmee zu ergründen, und sehr leicht ist, über ihre Formen und Methoden abzuurteilen. Keiner, höchstens ein Sozialökonom kann über den Wohnungsplan des Generals Booth ein Urteil fällen. Jeder gesund denkende Mensch aber wird das Cymbalschlagen gutheissen. Eine Seite Statistik, einen Plan Musterhäuser, irgend etwas Rationelles bietet dem Laienverstand immer Schwierigkeiten. Aber das Unrationelle versteht ein jeder. Deshalb kam die Religion so früh in die Welt und verbreitete sich so schnell, deshalb kam die Wissenschaft so spät und verbreitete sich gar nicht. Alle Zeiten bewiesen es, dass die Mystik allein Chance hat, vom Volk verstanden zu werden. Gesunder Menschenverstand muss wie ein esoterisches Kleinod in dem dunkelsten Tempel der Kultur verwahrt werden. Und während die Philanthropie der Heilsarmee und ihre Echtheit eine Diskussionssache für Doktoren sein mögen, so kann über die Echtheit ihrer Blechmusik kein Zweifel aufkommen, denn ein Orchester von Blechinstrumenten ist etwas rein Geistiges und will nur die Seele beleben. Der Zweck der Philanthropie ist, Gutes zu tun, der Zweck der Religion, gut zu sein und wäre es nur auf einen Augenblick inmitten des Lärms einer Blechmusik.

Dieselbe Antithese finden wir in einer anderen neueren Religion, der des Comte, allgemein unter dem Titel Posivitismus oder Religion der Humanität bekannt. Männer, wie Frederic Harrison, dieser geistreiche ritterliche Philosoph, dessen Persönlichkeit allein für den Glauben spricht, sagt uns, dass er wohl die Comtesche Philosophie, aber nicht all ihre phantastischen Pläne für Zeremoniell, Bischöfe, neue Kalender und Heilige darstellen will. Er meint, dass wir uns nicht wie Humanitätspriester kleiden und an Miltons Geburtstag Feuerwerk veranstalten sollen. Dem englischen Comteisten scheint dies alles nach eigener Aussage absurd. Für mich ist es die vernünftigste Seite des Comteismus. Als Philosophie ist sie nicht genügend. Es ist klar, dass man die Menschheit nicht anbeten kann, so wenig man den Savileklub anbeten kann. Es sind gute Institutionen, zu denen man zufällig gehören mag. Es ist offenbar Torheit, die Lehre der Dreieinigkeit einen verwirrenden Mystizismus zu schelten und dann von den Menschen zu verlangen, ein Wesen anzubeten, dass neunzig Millionen Personen in einem Gott ist, ohne die Personen zu vermengen, noch die Substanz zu zerteilen. Aber wenn die Weisheit Comtes auch ungenügend schien, so war seine Narretei sicher Weisheit. In einem Zeitalter staubiger Modernität, wo die Schönheit als Barbarei, die Hässlichkeit als Vernunft empfunden wird, war er der einzige, der verstand, dass die Mummerei allzeit für die Menschen etwas Heiliges sein müsste. Er kam zu der Einsicht, dass, während die Tiere alles Nützliche haben, die eigentlich nutzlosen Dinge rein menschlich sind. Er erkannte das Falsche der heutigen Meinung, welche Formen und Gebräuche künstlich hingedichtet und verderbt findet. Der Ritus ist älter als die Idee; er ist viel primitiver und wilder als die Idee. Ein Gefühl, dass die Natur der Dinge begreift, treibt die Menschen nicht nur zu dem rechten Wort, sondern auch zur rechten Tat. Die angenehmen darunter sind: Tanzen, Tempelbauen und laut Schreien; die weniger angenehmen sind das Tragen grüner Nelken im Knopfloch und das Verbrennen lebendiger andersgläubiger Philosophen. Überall kam der religiöse Tanz vor der religiösen Hymne, und der Mensch war Ritualist, bevor er sprechen lernte. Wenn der Comteismus sich verbreitet hätte, würde er die Welt bekehrt haben: nicht durch seine philosophischen Ideen, sondern durch seinen Kalender. Während die Positivisten ihren Meister in dem, was sie seine Schwäche nannten, entmutigten, nahmen sie ihrer Religion die Kraft. Wer glaubt, muss sich auf das Martyrium, aber auch auf den Spott gefasst machen. Es ist absurd, von einem Menschen zu behaupten, dass er bereit ist, für seine Überzeugung zu kämpfen und zu sterben, wenn er nicht auch bereit ist, für diese sich einen Kranz ums Haupt zu winden. Ich bin überzeugt, dass ich nicht um alles in der Welt die Werke Comtes alle durchlesen könnte, aber ich kann mir leicht vorstellen, dass ich mit dem grössten Enthusiasmus ein Bergfeuer an Darwins Geburtstag anzünden könnte.

Die wunderbare Anstrengung war umsonst, und nichts in der Art folgte. Kein rationalistisches Fest, keine rationalistische Begeisterung. Als man im letzten Jahrhundert das Christentum so bombardierte, griff man keinen Punkt schärfer an, als des Christentums angebliche Feindseligkeit menschlicher Freude gegenüber. Shelley und Swinburne und all ihre Armeen gingen ins Feld für diese Idee, aber sie richteten nichts aus. Sie haben nicht eine Freudenfahne aufgestellt, um welche die Menschen sich scharen könnten, nicht einen heiteren Namen, nicht eine heitere Begebenheit hinterliessen sie uns. Swinburne hing sicherlich am Vorabend von Victor Hugos Geburtstag seine Socken am Bettende nicht auf. William Archer stimmt vor der Leute Türe im Winter keine Lieder an, welche die Kindheit Ibsens schildern. Ein Fest allein blieb in dem rationellen, freudlosen Jahr übrig – Weihnachten! Um uns an die heidnischen wie die christlichen Zeiten zu erinnern, wo die Menschen Poesie trieben, statt sie zu schreiben. In dem langen Winter unserer Wälder blüht nur ein Baum, die Stechpalme.

»Feiertag« sagt den Sinn. Ein Bankfeiertag ist offenbar ein Tag, der den Bankleuten heilig ist. Ein halber Feiertag ein Tag, an dem der Schulknabe nur zum Teil heilig ist. Es ist aufs erste nicht so leicht einzusehen, warum so menschliche Dinge wie Musse und Übermut immer einen religiösen Ursprung haben sollen. Es wäre absolut nicht sinnwidrig, wenn wir am Geburtstage Michelangelos oder am Gedächtnistage der Eröffnung einer Eisenbahnstation uns Geschenke machten und Lieder anstimmten. Allein es lässt sich nicht durchführen. Tatsache ist, dass die Menschen ihr gefrässiges Naturell zur Entfaltung bringen, wenn sie geistliche Begebenheiten feiern. Lasst das Nicäische Glaubensbekenntnis und ähnliches wegfallen und die Wursthändler erlitten grossen Schaden. Nehmt die sonderbare Schönheit der Heiligen weg und es bliebe uns nur die sonderbare Hässlichkeit eines Wandsworth. Nehmt das Übernatürliche und es bleibt uns das Unnatürliche.

Und jetzt komme ich auf einen traurigen Punkt zu sprechen. Es gibt in der modernen Welt eine bewundernswerte Klasse von Menschen, die für die »antiqua pulchritudo« sind, von der Augustinus spricht; die Sehnsucht haben nach den alten Festen, nach den Formen der Welt, als diese noch in den Kinderschuhen stak. William Morris und seine Anhänger bewiesen uns, wie viel heiterer die alten Zeiten waren als das Manchester Zeitalter. W. B. Yeats gefällt sich in den prähistorischen Tanzrhythmen, aber niemand stimmt mit ihm in Klänge ein, die er allein hört. George Moore sammelt das kleinste Fragment irischen Heidentums, das die Vergesslichkeit der katholischen Kirche übrig gelassen oder ihre Klugheit bewahrt hat. Es gibt unzählig viel Menschen mit Brillen und grünen Togen, welche für die Rückkehr des Maibaumes und der Olympischen Spiele beten. Aber ein beunruhigendes beklemmendes Gefühl schleicht sich mir bei ihrer Persönlichkeit ein: dass es gar nicht unmöglich wäre, dass sie Weihnachten ungefeiert lassen. Es ist schmerzlich, die menschliche Natur in dieser Beleuchtung zu schauen, aber mir scheint es dennoch wahrscheinlich, dass George Moore weder seinen Löffel in der Luft herumschwingt noch zu schreien anfängt, wenn der Pudding angezündet wird. Es ist sogar möglich, dass W. B. Yeats nie Knallbonbons zieht. Verhält es sich so, worin liegt der Sinn all ihrer Träume von festlichen Traditionen? Das gute Geschäft am Weihnachtsmarkt, das das alte Fest traditionell nach sich zieht, sie finden es gemein. Verhält es sich so, so bin ich nur eines sicher, dass gerade diese Menschen zur Zeit des Maibaumes den Maibaum gewiss gemein fanden, und zur Zeit der Canterburyschen Pilgerfahrten diese sicherlich ordinär fanden, und zur Zeit der Olympischen Spiele die Spiele gewöhnlich fanden. Und höchst wahrscheinlich waren sie gemein. Lasst uns offen sein: wenn wir mit ordinär die rohe Ausdrucksweise, die Roheit der Formen, den Klatsch, das Pferdewettrennen und Kneipen verstehen, so können wir uns sagen, dass, wo immer Ausgelassenheit, Götterglaube und Götterfreude herrschten, auch Vulgarität mitspielte. Wo immer Glaube war, da herrschte Freude, wo immer Freude und Ausgelassenheit, da lauerten Gefahren. Und wie Glaube und Mythologie, Roheit und Kraft volles Leben erzeugt, so erzeugt Kraft und Roheit Glauben und Mythos. Wenn wir je die Engländer auf das Land zurückbrächten zur Natur, würden sie wieder ein religiöses Volk, und wenn es gut geht, ein abergläubisches Volk werden. Die moderne Zeit, die weder die höchste noch die niedrigste Glaubensform kennt, verdankt diesen ihren Mangel an Einfalt ihrer Trennung von Natur, Bäumen und Wolken. Wenn wir keine Rübengeister mehr haben, so kommt es daher, dass wir keine »Rübelstilzchen«, keine Rüben mehr bauen.


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