Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In der guten alten Zeit (vor der Ära des modernen Spleens), als der heitere gute Ibsen die Welt mit gesunder Freude erfüllte und der verschollene Emile Zola unsere Abende mit heiteren Geschichten ergötzte und erbaute, war man allgemein der Ansicht, dass es ein Nachteil sei, missverstanden zu werden. Es mag dahingestellt werden, ob es immer oder im allgemeinen ein Nachteil ist. Feinden gegenüber hat es immer den Vorteil, dass sie einem nie in die Karten sehen können. Sie jagen auf Vögel mit Netzen, auf Fische mit Pfeilen. Wir haben mehrere Beispiele hierfür, Joseph Chamberlain z. B. Er weicht seinen Gegnern konstant aus, und besiegt sie, weil seine Vorzüge und Fehler ganz anderer Natur sind, als sie von Freund und Feind angegeben werden. Seine Freunde nennen ihn einen tatkräftigen Geist, seine Feinde einen gemeinen Geschäftsmann, während er im Grunde genommen weder das eine noch das andere ist, sondern ein sentimentaler Redner und ein sentimentaler Schauspieler. Er besitzt die Gabe der Melodramatik, d. h. den Leuten weiszumachen, er sei geschlagen, auch wenn eine grosse Majorität ihn deckte. Denn der Mob hatte stets so viel von Ritterlichkeit, dass seine Helden etwas Unglück vorgeben sollen. Das ist der heuchlerische Tribut, den Stärke der Schwachheit zollt. Der Mann spricht von seiner Vaterstadt Birmingham (die ihn nie verleugnet) auf alberne und wieder reizende Art. Er trägt feuerrote phantastische Blumen im Knopfloch wie ein dekadenter Poet zweiter Güte. Und was die Offenheit und Zähigkeit betrifft, mit welcher er sich brüstet, sein fortwährendes Appellieren an den gesunden Menschenverstand, so sind dies nur die gewöhnlichsten Kniffe des Rhetorikers. Er tritt vor sein Publikum mit der würdevollen Geziertheit eines Marc Anton:
»Ich bin kein Redner wie Brutus,
»Ich bin, Ihr alle wisst's, ein einfach plumper Mann.«
Der ganze Unterschied zwischen einem Redner und irgendeinem anderen Künstler, Poeten oder Bildhauer, besteht darin, dass der Bildhauer uns überzeugen will, dass er ein Bildhauer ist, während die Absicht des Redners dahingeht, uns weiszumachen, dass er kein Rhetoriker ist. Chamberlain gelte nur einmal in der öffentlichen Meinung als »Praktiker« und sein Spiel wäre gewonnen. Er braucht nur eine Rede über das herrliche britische Reich zu halten, und das Publikum wird sagen: was doch diese einfachen Männer für grosse Dinge bei grossen Gelegenheiten sagen. Er braucht nur sich allgemeiner Phrasen zu bedienen, die allen Künstlern zweiten Ranges so geläufig sind, und die Leute werden sagen: dass doch schliesslich Geschäftsmänner die grössten Idealisten sind. Alle seine Pläne sind gescheitert; an nichts legte er Hand an, das nicht misslang; es liegt keltisches Pathos in ihm. Gleich den Galliern in Matthew Arnold »stürmte er in die Schlacht, um stets zu fallen.« Ein wahrer Berg von Vorschlägen und Scheiterungen, aber immerhin ein Berg, und das ist romantisch.
Noch ein anderer Zeitgenosse Chamberlains, allerdings grundverschieden, bietet einen Beweis, wie vorteilhaft es ist, missverstanden zu werden: Bernhard Shaw. – Allen seinen Gegnern, und ich fürchte fast, seinen Anhängern (wenn er welche besitzt), gilt er als ein Humorist, ein Seiltänzer, ein glänzender Akrobat und Verwandlungskünstler. Sie alle sagen ihm nach, dass man ihn nicht ernst nehmen kann, dass er der Kreuz und Quere angreift und verteidigt, nur um zu verblüffen und zu unterhalten. Das ist nicht nur unrichtig, sondern eine schreiende Unwahrheit; es ist gerade so toll, als wenn man sagte, dass Dickens nicht die ungestüme Männlichkeit einer Jane Austen besass. Bernhard Shaws Hauptverdienst und seine ganze Kraft liegt in seiner eisernen Konsequenz. Weit davon, seine Kraft in Luftsprüngen und Turnkünsten zu entfalten, gebraucht er sie im Gegenteil dazu, seine Burg Tag und Nacht zu verteidigen und den Shawschen Standpunkt in allen Dingen schnell und scharf zu vertreten. Sein Massstab bleibt immer der gleiche. Was die schwachköpfigen Umstürzler und schwachköpfigen Konservativen an Shaw so hassen, ist, dass er eine gerechte Wagschale sowie gerechte Gesetze aufstellt.
Man mag seine Prinzipien angreifen, wie ich es tue, aber ich wüsste keinen Fall, in welchem man ihre Anwendung angreifen könnte. Wenn er der Gesetzlosigkeit antipathisch gegenübersteht, so ist sie ihm im Sozialisten wie im Individualisten gleich zuwider. Hasst er den übertriebenen Patriotismus, so ist er ihm bei dem Buren, Irländer und Engländer gleich verhasst. Hasst er die Gelübde und Bande der Ehe, so sind ihm die wilden Gelübde und rohen Bande der freien Liebe noch verhasster. Wenn er sich über die Autorität der Priester lustig macht, so lacht er noch lauter über die Gelehrten und ihren Aufwand. Wenn er über die Unverantwortlichkeit des Glaubens herfällt, so fällt er auch mit seinem gesunden Menschenverstand über die Unverantwortlichkeit der Kunst her.
Die ganze Bohême jubelte ihm entgegen, als er den Satz aufstellte, dass die Frauen den Männern gleich seien, aber sie waren alle wütend, als er sagte, dass die Männer den Frauen gleich seien. Sein Gerechtigkeitssinn ist fast mechanisch; sie hat etwas von der schrecklichen Eigenschaft einer Maschine. Nicht Bernhard Shaw, sondern meist der Staatsminister ist's, der wild herumsaust, der phantastisch und unberechenbar ist. Sir Michael Hicks-Beach ist's, der durch Reife springt, Sir Henry Fowler, der es versteht, auf dem Kopf zu stehen. Diese Sorte würdiger Staatsmänner ist es, die von Stellung zu Stellung springend, bereit ist, alles oder nichts zu verteidigen, und die man in der Tat nicht ernst nehmen darf. Ich weiss ganz genau, was Bernhard Shaw in dreissig Jahren sagen wird: das was er immer schon sagte. Wenn ich Bernhard Shaw in dreissig Jahren als einem würdigen Greis begegnen und zu ihm sagen werde: »Man kann keine Dame mit Worten angreifen,« so wird der Patriarch seine verrunzelte Hand erheben und mich zu Boden strecken. Wir wissen, wie gesagt, was Shaw in dreissig Jahren sagen wird. Wer aber ist so orakel- und sternenkundig, dass er prophezeien möchte, was Asquith z. B. in dreissig Jahren sagen wird?
Es ist ganz falsch zu glauben, dass der Mangel an bestimmten Überzeugungen den Geist lebendig, frei und behende macht. Wer an etwas glaubt, ist reif und witzig, seine Überzeugung dient ihm jederzeit zur Wehr.
Wer mit einem Mann wie Shaw in Streit geriet, hätte bald das Gefühl, als ob dieser zehn Gesichter statt eines hätte, gerade wie ein Duellant in seinem glänzenden Gegner entdecken würde, als kämpfe er mit einer zehnfachen Waffe: nicht, dass er etwa zehn Waffen, wohl aber eine sicher und bewusst führt. Wer einen bestimmten Glauben hat, gilt für die anderen stets als bizarr, weil er nicht mit der Welt geht: er hat einen Fixstern erklommen und die Welt saust unter ihm wie in einem Zootrop; vorbeisausende, einfältige, sanfte Zweifüssler nennen sich gescheit und klar, nur weil sie stets auf den neuesten Wahn eingehen, weil, von dem Wirbelstrom der Welt erfasst, sie von einem Wahn in den anderen stürzen.
Man macht Bernhard Shaw (und manch Dümmeren noch) zum Vorwurf, dass sie beweisen wollen, dass schwarz weiss ist, als ob die kursierende Sprechweise immer so farbengenau wäre. In der Umgangssprache steht oft schwarz für weiss, auf jeden Fall gelb für weiss und grün für weiss und rotbraun für weiss. Wir reden von einem weissen Wein, der so gelb ist, wie irgendwas, wir reden von weissen Trauben, die doch auffallend gelblich-grün sind; wir reden von dem Europäer als »weissen Mann« und bedenken nicht, dass kaum Poe ein grausig gespensterhafteres Bild erdenken könnte, als einen »weissen Mann«.
Wenn aber ein Herr in einem Restaurant eine Flasche gelben Weines und gelblich-grüne Trauben verlangte, würde man ihn sicher für verrückt halten. Einen britischen Beamten, der in seinem Bericht über die Europäer in Burmah schreiben würde: »Es sind nur zweitausend blassrote Menschen in Burmah,« würde man zweifelsohne unpassender Spässe zeihen und seines Amtes entheben. Und dennoch sagten diese Beiden die Wahrheit. Der allzugenaue Herr im Restaurant, der allzuwahrhaftige Mann in Burmah: das ist Herr Shaw. Er scheint exzentrisch und grotesk, weil er die übliche Anschauung, dass unter weiss gelb zu verstehen ist, nicht teilen will.
Er baute sein ganzes, glänzendes und starkes Talent auf dem abgedroschenen, jedoch vergessenen Faktum auf, dass die Wahrheit seltsamer als Dichtung ist. Und die Wahrheit muss notgedrungen seltsamer sein, denn die Dichtung zimmerten wir uns ja selbst zurecht.
Ein gesundes Urteil wird demnach Bernhard Shaw als einen frischen hellen Kopf einschätzen. Er behauptet, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und einige Dinge, für welche die ganze Zivilisation blind ist, sieht er in der Tat, wie sie sind. Aber Shaws Realismus weist Mängel auf, und sie sind nicht unerheblich. Shaws bekannte und anerkannte Philosophie tritt am deutlichsten in seiner Quintessenz des Ibsenismus hervor. Um sich kurz zu fassen, behauptet er, dass die »konservativen Ideale« nichts taugen, nicht weil sie konservativ, sondern weil sie überhaupt Ideale sind. Er behauptet ferner, dass jedes Ideal das gesunde Urteil im speziellen lähme, dass jede ethische Generalisierung den Individuellen drücke, dass das goldene Gesetz darin bestünde, dass es kein goldenes Gesetz gebe. Mir scheint, an dem allen ist auszusetzen, dass diese Ideen vorgeben, freiheitsbringend zu sein, während sie in Wirklichkeit die Menschen nur an dem hindern, woran ihnen am meisten liegt. Was nützt es, einer Gemeinde jede Freiheit zu gewähren, ausgenommen jene, Gesetze zu machen? Diese Freiheit allein aber macht ein Volk frei. Und was nützt es einem Menschen, zu sagen, dass ihm jede Freiheit zuerkannt wird, ausgenommen jene des Generalisierens? Das allein aber macht ihn zum Manne. Kurzum, wenn Shaw den Menschen eine feste ethische Moral verbietet, so ist es, als verböte er ihnen, Kinder zu bekommen. Den Satz: das goldene Gesetz bestünde darin, dass es kein goldenes Gesetz gäbe, kann man ruhig umdrehen und sagen: Kein goldenes Gesetz aufstellen zu wollen, ist auch eine Art goldenes Gesetz, nur ein viel schlimmeres, ein eisernes Gesetz, das die Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit hemmt.
Aber das Aufsehen, dass Bernhard Shaw in den letzten Jahren erregte, war seine plötzliche Liebe zur Übermenschenreligion. Er, der jeden Glauben verlachte, entdeckte plötzlich einen neuen Gott in einer undenkbaren Zukunft. Er, der alle Ideale verwarf, pflanzte plötzlich ein neues auf: den Idealmenschen. Aber wer Shaws Geistesverfassung erkannte, und richtig erkannte, muss sagen, dass dies längst vorauszusehen war. Denn eigentlich sah Shaw die Dinge nie, wie sie waren; wäre das der Fall gewesen, so wäre er auf den Knien vor ihnen gelegen. Er hatte von jeher ein Ideal vor Augen, das ihm alle Dinge auf dieser Welt verdarb. Er verglich von jeher die Menschheit im stillen mit etwas, was nicht menschlich war: mit einem Ungeheuer im Mars oder mit dem Stoikertypus, oder mit dem Fabianischen Weisen oder dem »economic man«, (eine Fiktion der neueren Staatswirtschaft), mit Julius Cäsar oder Siegfried. Kurz mit dem Übermenschen. Einen solch unerbittlichen Massstab in sich herumtragen, mag nun gut oder schlecht, ausgezeichnet oder ganz verfehlt sein, aber sicherlich hilft er nicht zur Erkenntnis der Dinge. Einem Briareus mit seinen hundert Händen vor Augen haben und dann jeden Menschen einen Krüppel nennen, der nur zwei hat, an einen Argus mit seinen hundert Augen denken und dann jeden Zweiäugigen verlachen, als ob er nur ein Auge hätte, von einem Halbgott träumen, der mit einer ungemeinen Geistesklarheit und -schärfe ausgestattet ist (er mag nun vor Ende der Welt erstehen oder nicht) und jeden Menschen einen Idioten schimpfen, das alles heisst nicht die Dinge sehen, wie sie sind. Und das ist es, was Bernhard Shaw bis zu einem gewissen Grade von jeher getan hat. Wer die Menschen so sieht wie sie sind, wird sie nicht bekritteln, sondern verehren und dies mit Recht, denn ein Monstrum mit geheimnisvollen Augen und wundertätigen Daumen und seltsamen Gehirngespinsten und seltsamen Neigungen ist wahrlich eine aufregende Seltenheit. Kraft der willkürlichen und süffisanten Gewohnheit allein, immer Vergleiche anzustellen, bringen wir es zuwege, ruhig vor den Menschen zu treten. Denn das Gefühl der Überlegenheit gibt uns Gleichgewicht und Ruhe. Sähen wir die Dinge aber in richtigem Lichte, so würden unsere Knie vor ehrfurchtvollem Staunen schlottern. Denn jeder Augenblick unseres bewussten Lebens ist ein Wunder, jedes Gesicht, dem wir auf der Strasse begegnen, ein Märchengesicht. Nicht unsere Geistesschärfe und unsere Erfahrung hindern uns, dies zu sehen, sondern die pedantische leidige Gewohnheit, bei allem, was wir sehen, Vergleiche zu ziehen. Bernhard Shaw, der unter seinen Zeitgenossen vielleicht den gesündesten Menschenverstand hat, ist in dieser Beziehung »inhuman«. Nietzsche, sein Lehrer, hat ihn bis zu einem grossen Grade angesteckt mit der Idee: dass je grösser und stärker ein Mann, desto grösser seine Verachtung im allgemeinen wäre. Je grösser aber ein Mensch ist, desto mehr neigt er dazu, vor einer Blume niederzuknien. Dass Shaw vor dem kolossalen Länderpanorama und der heutigen Zivilisation die Nase rümpft, ist noch lange kein Beweis, dass er die Dinge so sieht, wie sie sind.
Ich wäre geneigt, es anzunehmen, wenn ich ihn z. B. in heiligem Staunen vor seinen eigenen zwei Füssen anträfe und ich ihn ungefähr also zu sich sprechen hörte: »Was sind das für zwei prächtige nützliche Dinge, die überall um mich sind, und mich überall, ich weiss nicht warum, bedienen. Was für eine milde Fee legte sie mir in die Wiege, welch grausamem Gott muss ich mit Feuer und Wein Opfer bringen, dass sie mir nicht davonlaufen.«
So viel ist gewiss, dass in jeder echten Anerkennung etwas wie demütig geheimnisvolle Scheu liegt. Der da sagte: »Selig ist, wer nichts erwartet, denn er wird nicht enttäuscht werden«, hat das Wort ganz falsch verstanden; es heisst vielmehr: »Selig ist, wer nichts erwartet, denn er wird wunderbar überrascht werden.« Denn wer nichts erwartet, erschaut rötere Rosen als der gewöhnliche Mann und grüneres Gras und eine herrlichere Sonne. Selig der, welcher nichts erwartet, denn er wird Städte und Berge besitzen, selig ist der Sanftmütige, denn er wird die Erde besitzen. Solange wir uns keine Vorstellung von dem Unerreichbaren machen, können wir uns auch das Erreichbare nicht gut vorstellen. Bis wir nicht die Dunkelheit als Hintergrund erschaut, können wir das Licht nicht als etwas Abhebendes, Erschaffenes erblicken; sobald wir die Nacht gesehen, wird das Licht etwas Leuchtendes, Helles, Blendendes und Göttliches. Bis wir uns nicht ein Bild vom Nichts gemacht haben, unterschätzen wir den Sieg Gottes und die Trophäen des grossen alten Kampfes. Es ist die tausendfache Wiederholung des alten so wahren Scherzwortes: Dass wir nichts wissen, als bis wir das ›Nichts‹ erkennen.
Wie gesagt, ist es Shaws einziger Defekt, Shaws einzige Schattenseite, dass es so schwer ist, ihm zu gefallen und genug zu sein.
Er ist die fast einzige Ausnahme jener Regel, dass grosse Menschen an kleinen Dingen Freude haben. Und von diesem Mangel an Einfachheit und Demut (dieser lärmendsten aller Tugenden!) rührt wohl das Pochen auf den Übermenschen. Nachdem er jahrelang die Menschen geisselte, dass sie nicht fortschrittlich seien, entdeckte er, mit seinem charakteristischen Witz, dass es fraglich sei, ob ein zweibeiniges menschliches Wesen überhaupt fortschrittsfähig sei.
Die meisten unter den Zufriedenen, die auf diese Entdeckung gestossen wären, hätten den »Fortschritt« aufgegeben, um bei der Menschheit zu bleiben. Shaw aber, ein Unzufriedener, hat beschlossen, die Menschheit mit all ihrer Beschränkung über Bord zu werfen, um dem Fortschritt als solchem nachzuspüren. Wenn der Mensch also unfähig ist, die Philosophie des Fortschritts in sich aufzunehmen, so sucht er nicht nach einer neuen Fortschrittsphilosophie, sondern nach einer neuen Sorte Menschen. Es ist gerade so, als ob eine Amme, die einem Kinde lange Zeit hindurch eine etwas bittere Nahrung gegeben, plötzlich merkt, dass sie ihm nicht zusagt und statt die Nahrung wegzuwerfen und eine bessere zu suchen, das Baby zum Fenster hinauswirft und ein neues Baby reklamiert. Shaw will nicht einsehen, dass gerade dieser bierdurstige, religionsstiftende, kämpfende, unterliegende, sinnliche und respektable Mensch es ist, der unseren Augen teuer und liebenswert erscheint. Und was für diesen erdacht und von diesem entsprungen, ist ewigen Bestandes; was aber auf diesem geträumten Übermenschen beruht, vergeht mit der absterbenden Zivilisation, die allein ihm ihr Leben gab. Als Christus in einer symbolischen Zeit seine Gesellschaft gründete, wählte er zu seinem Eckstein weder den geistvollen Paulus, noch den Mystiker Johannes, sondern einen Ausreisser, einen Grosstuer und Feigling, kurz einen Menschen. Und auf diesem Fels hat er seine Kirche gebaut und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Alle Reiche gingen unter, aus dem Grundfehler heraus, dass sie von gewaltigen Menschen für grosse Menschen gegründet wurden. Aber diese historische, christliche Kirche, die auf einem schwachen Menschen gebaut wurde, ist eben aus diesem Grunde unzerstörbar. Denn keine Kette ist stärker als ihr schwächstes Glied.