Anton Tschechow
Lustige Geschichten
Anton Tschechow

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Die Sünde

Übersetzt von Wladimir Czumikow

Der Kollegienassessor Migujew blieb während seines Abendspazierganges an einer Telegraphenstange stehen und seufzte tief auf. Genau an dieser Stelle hatte ihn vor einer Woche, als er von einem Spaziergang heimkehrte, sein früheres Zimmermädchen Agnia eingeholt und ihm wütend zugerufen:

»Wart' du nur! – Ich werde dir schon zeigen, was es heißt, unschuldige Mädchen zu verführen! Das Kind werf ich dir vor die Tür ... zum Gericht geh' ich .... Deiner Frau erzähl' ich's ....«

Und sie verlangte, daß er in der Bank auf ihren Namen fünftausend Rubel hinterlegte. Migujew dachte daran, seufzte und machte sich mit aufrichtiger Reue von neuem den Vorwurf, sich durch die Schwäche eines Augenblicks soviel Sorgen und Leiden aufgebürdet zu haben.

Bei seiner Sommerwohnung angekommen, setzte sich Migujew auf die Veranda und ruhte aus. Es war Punkt zehn Uhr, und hinter den Wolken schaute ein Stückchen der Mondscheibe hervor. Auf der Straße und um die Landhäuser herum sah man niemand: die alten Sommerfrischler legten sich schon zu Bett, und die jungen gingen im Walde spazieren. Migujew suchte in den Taschen nach Zündhölzchen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und stieß dabei mit dem Ellbogen auf etwas Weiches; gleichgültig schaute er hin, und plötzlich durchfuhr ihn ein solcher Schreck, als hätte er neben sich eine Schlange erblickt. Auf der Veranda, hart an der Tür, lag ein Bündel. Irgend was Längliches war in etwas eingewickelt, das wie eine gesteppte Decke aussah. Das eine Ende des Bündels war offen, und wie der Kollegienassessor seine Hand da hinein steckte, fühlte er etwas Warmes, Feuchtes. Entsetzt sprang er auf und schaute um sich, wie ein Sträfling, der seinen Wächtern entspringen will ....

– Also hat sie es doch getan! – murmelte er durch die Zähne und ballte wütend die Fäuste. – Da liegt es ... da liegt die Sünde! Oh, Herrgott!

Vor Furcht, Wut und Scham war er wie erstarrt .... Was sollte er nun tun? Was wird seine Frau dazu sagen, wenn sie es erfährt? Was seine Kollegen? Seine Exzellenz wird ihn gewiß auf den Bauch klopfen, ausplatzen und sagen: »Gratuliere .... He-he-he .... Na ja, Alter schützt .... Ein Teufelskerl, unser Ssemjon Erastowitsch!« Die ganze Sommerfrischlerkolonie wird sein Geheimnis erfahren, und die ehrwürdigen Matronen werden ihm vielleicht sogar ihr Haus verweisen .... Ausgesetzte Kinder werden in allen Zeitungen registriert, und so wird der bescheidene Name Migujews die Runde durch alle Gaue Rußlands machen ....

Das Mittelfenster der Landwohnung war offen, und man hörte deutlich, wie drinnen Anna Filippowna, Migujews Frau, den Tisch zum Abendessen deckte; im Hof, gleich hinterm Tor, klimperte der Hausknecht Jermolaj auf seiner Balalaika .... Das Kind brauchte nur aufzuwachen und zu schreien, und das Geheimnis wäre verraten. Migujew empfand einen unüberwindlichen Drang zur Eile ....

– Schnell ... schnell ... murmelte er. – Den Augenblick, solang es niemand sieht .... Ich trag' es irgendwohin und tu' es auf eine Treppe ....

Migujew nahm das Bündel untern Arm und ging langsamen Schrittes, um nicht aufzufallen, die Straße entlang ....

– Eine verdammt unangenehme Lage! – dachte er, ein möglichst gleichgültiges Aussehen annehmend. – Ein Kollegienassessor geht mit einem Kind auf dem Arm durch die Straßen! Mein Gott! wenn mich jemand erblickt und das Ganze errät, bin ich verloren .... Hier auf die Veranda tu' ich es hin .... Nein halt, hier sind die Fenster offen, und es sieht vielleicht jemand .... Wohin dann? Aha, ich bring' es zur Villa des Kaufmanns Mjelkin .... Der ist reich und gutmütig; vielleicht macht ihm das sogar Freude, und er behält das Kind und zieht es auf. –

Und Migujew beschloß, das Kind jedenfalls zu Mjelkin zu tragen, obgleich dessen Wohnung sich in einer der äußersten Straßen befand, hart am Fluß.

– Wenn es nur nicht anfängt zu schreien oder herausfällt, – dachte der Kollegienassessor. – Ja, da kann man wohl sagen: Gott gibt's den Seinen im Schlaf! Da trag' ich jetzt einen lebendigen Menschen, wie ein Portefeuille, unterm Arm. Ein lebendiger Mensch, mit Seele, Gefühl, wie alle .... Wenn z. B. Mjelkins das Kind aufziehen wollten, so würde aus ihm vielleicht so ein .... Vielleicht wird aus ihm so ein Professor, oder Feldherr, oder Schriftsteller .... Was passiert nicht heutzutage! Jetzt trag' ich's unterm Arm wie ein Lumpenbündel, und nach dreißig bis vierzig Jahren werde ich vor ihm vielleicht stramm stehn müssen .... –

Als Migujew durch ein enges, ödes Gäßchen, längs den endlosen Zäunen im dunkeln Schatten der Linden daherging, erschien es ihm plötzlich, als täte er etwas Grausames und Verbrecherisches.

– Wie gemein ist es doch eigentlich! – dachte er. – So gemein, daß man etwas Scheußlicheres sich nicht ausdenken kann .... Wozu schmeißen wir so einen unglücklichen Säugling von einer Treppe auf die andere. Ist er denn an seiner Geburt schuld? Und was hat er uns Böses getan? Schufte sind wir .... Wir amüsieren uns, und die Kinder müssen es ausbaden .... Man braucht sich da nur hineinzudenken! Ich habe die Schweinerei gemacht, und das Kindlein wird dafür sein ganzes Leben lang büßen müssen .... Ich tu' es also zu Mjelkins hin, Mjelkins schicken es ins Findelhaus, wo alles fremd und statutenmäßig ist ... keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keine Hätschelei .... Später gibt man es zu einem Schuster in die Lehre ... saufen und fluchen lernt es, wird Hunger leiden .... Zu einem Schuster – den Sohn eines Kollegienassessors, von adligem Blute .... Es ist doch mein Fleisch und Blut .... –

Migujew trat aus dem Schatten der Bäume auf den mondscheinübergossenen Weg und schaute, das Bündel öffnend, den Säugling an.

– Er schläft, – flüsterte er. – So ein Kerl, eine Adlernase hat er, ganz wie der Vater .... Er schläft und ahnt nicht, daß sein Vater auf ihn schaut .... Ja, ein Drama, mein Bester .... Ja, was ist da zu machen, mein Bester, verzeih' ... verzeih' .... Es ist nun mal dein Schicksal, so .... –

Der Kollegienassessor blinzelte mit den Augen und fühlte, wie ihm etwas die Wangen netzte .... Er wickelte das Kind ein, nahm es untern Arm und ging weiter. Den ganzen Weg, bis zur Villa Mjelkin, beschäftigten seinen Kopf soziale Fragen, während ihm das Gewissen die Brust beengte.

– Wenn ich ein ordentlicher, ehrlicher Mensch wäre, – dachte er, – würde ich auf alles das spucken, mit dem Kindchen zu Anna Filippowna gehen, mich vor ihr auf die Kniee werfen und sprechen: »Vergib mir! Ich habe gesündigt! Peinige mich, aber das unschuldige Kind wollen wir nicht verstoßen! Selbst haben wir keine Kinder, ziehen wir es auf!« Sie ist ein braves Frauenzimmer und würde schon darauf eingehen .... Und mein Kind wäre dann bei seinem Vater .... –

Er näherte sich der Villa Mjelkin und blieb unschlüssig stehen .... Er stellte sich vor, wie er bei sich im Wohnzimmer sitzen und die Zeitung lesen werde, während um ihn herum ein Knäblein mit einer Adlernase sich zu schaffen macht und mit den Quasten seines Schlafrocks spielt; zugleich aber drängten sich seiner Phantasie die schmunzelnden Kollegen und die ihm auf den Bauch klopfende Exzellenz auf .... In der Seele aber saß ihm, neben dem peinigenden Gewissen, etwas Warmes und Zartes und Trübes ....

Der Kollegienassessor legte den Säugling behutsam auf eine Stufe der Terrasse und machte eine abwehrende Handbewegung. Auf seinem Gesicht fühlte er wieder etwas Feuchtes ....

– Verzeih' mir, mein Bester, mir altem Schuft! – murmelte er. – Verzeih' .... –

Er tat einen Schritt zurück, räusperte sich aber sogleich entschlossen und sagte:

– Na, hol's der Kuckuck! Ich spucke auf alles! Laß die Leute reden, was sie wollen, ich nehme es doch! –

Migujew nahm den Säugling und ging schnell zurück.

– Laß sie reden, was sie wollen, – dachte er. – Ich werf' mich sogleich auf die Kniee und sage: »Anna Filippowna!« Sie ist ja gut und wird es begreifen .... Und wir werden es erziehen .... Ist's ein Knabe, so nennen wir ihn Wladimir, ist's ein Mädchen, dann Anna .... So wird man doch wenigstens im Alter einen Trost haben .... –

Und er tat, wie er beschlossen .... Weinend, vor Furcht und Scham vergehend, voll Hoffnung und einem undefinierbaren Entzücken, trat er in seine Wohnung, ging zu seiner Frau und warf sich vor ihr auf die Kniee ....

»Anna Filippowna!« sagte er aufschluchzend und ihr das Kind vor die Füße legend. – »Geh' nicht mit mir ins Gericht .... Ich habe gesündigt! Das hier ist mein Kind .... Du entsinnst dich der Agnia also ... der Böse hat uns verführt ....«

Und sinnlos vor Scham und Furcht, ohne eine Antwort zu erwarten, sprang er auf und stürzte hinaus in die freie Luft, wie einer, den man eben gezüchtigt hat.

– Ich bleibe hier draußen, bis sie mich ruft, – dachte er, – daß sie zu sich kommt und sich entschließt .... –

Der Hausknecht Jermolaj ging mit der Balalaika an ihm vorbei, sah ihn an und zuckte die Achseln .... Nach einer Minute ging er wieder vorbei und zuckte die Achseln ....

»Ist das eine Geschichte,« murmelte er lächelnd. – »Da war eben, Ew. Gnaden, hier ein Frauenzimmer, die Wäscherin Aksinja. So ein dummes Huhn, legt hier an der Straße ihr Kind auf die Veranda hin, und während sie bei mir drinnen sitzt, hat jemand das Kind genommen und weggebracht .... Ist das eine Geschichte!«

»Was? Was sagst du?« brüllte aus voller Kehle Migujew.

Jermolaj, der den Zorn des Herrn auf seine Art deutete, kratzte sich im Nacken und seufzte.

»Verzeihen, Ssemjon Erastowitsch,« sagte er, »aber jetzt, um diese Zeit, in der Sommerfrische, geht es nicht ohne ... ohne Frauenzimmer, das heißt ....«

Und er warf einen Blick auf das Staunen und verhaltene Wut ausdrückende Gesicht des Herrn, räusperte sich und fuhr fort.

»Das ist natürlich unschicklich, aber was soll man machen .... Ew. Gnaden haben zwar verboten, fremde Weiber in den Hof zu lassen, aber wenn man keine eignen hat .... Früher, als die Agnia da war, ließ ich keine fremden herein, natürlich, weil man die hatte, aber jetzt, wo nichts da ist, kann man schon ohne andere Frauenzimmer nicht auskommen .... Als die Agnia da war, kam natürlich so was Unpassendes nicht vor, weil man die Agnia selbst ....«

»Pack' dich zum Teufel, du Luder!« brüllte ihn Migujew an, stampfte mit den Füßen und ging zurück ins Zimmer.

Anna Filippowna saß noch auf der alten Stelle, erstaunt und empört, und wandte ihre verweinten Augen nicht vom Säugling ....

»Nun, nun ....« stammelte der bleiche Migujew, den Mund zu einem Lächeln verzerrend. – »Ich habe ja nur Spaß gemacht .... Das ist ja gar nicht meins ... es gehört der Wäscherin Aksinja. Ich ... ich spaßte ja nur .... Bring' es zum Hausknecht.«


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