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Der Winkeladvokat Selterskij konnte seine Augen nur noch mit Mühe offen halten. Die ganze Natur schlief bereits. Die Vöglein schwiegen im Walde. Selterskijs Frau war schon längst zu Bett gegangen, das Dienstmädchen und die übrigen lebenden Wesen im Hause schliefen bereits; Selterskij durfte aber noch immer nicht ins Schlafzimmer gehen, obwohl an seinen Augenlidern eine zentnerschwere Last hing. Bei ihm saß nämlich sein Nachbar, der Oberst a. D. Peregarin, zu Gast. Er war gleich nach dem Mittagessen gekommen und saß noch immer wie angeklebt auf dem Sofa. Er berichtete mit widerwärtiger, heiserer Stimme, wie ihn im Jahre 1842 zu Krementschug ein toller Hund gebissen hatte. Als er mit dem Bericht fertig war, begann er ihn von vorn. Selterskij war verzweifelt. Was unternahm er nicht alles, um den Gast loszuwerden! Er sah jeden Augenblick auf die Uhr, klagte über Kopfschmerzen, ging alle fünf Minuten aus dem Zimmer und ließ den Gast allein, – doch nichts half. Der Gast verstand die Anspielungen nicht und fuhr in seinem Bericht über den tollen Hund fort. – Dieser alte Kauz wird noch bis zum Morgen dasitzen! – dachte Selterskij wütend. – So ein Klotz! Nun, wenn er die feinen Andeutungen nicht versteht, so will ich größeres Geschütz ins Feld führen. –
»Wissen Sie,« sagte er laut, »warum mir das Leben in der Sommerfrische so besonders gut gefällt?« – »Na, warum?« – »Weil man hier sein Leben beliebig regulieren kann. In der Stadt ist es schwer, sich an eine bestimmte Ordnung zu halten, während es auf dem Lande sehr einfach ist. Wir stehen um neun auf, essen um drei zu Mittag, um zehn zu Abend und gehen gegen elf zu Bett. Um zwölf bin ich immer im Bett. Wenn ich mich nach zwölf hinlege, habe ich am nächsten Morgen totsicher Migräne!«
»Sonderbar ... Es kommt übrigens ganz auf die Gewohnheit an. Ich hatte einmal einen Bekannten, einen gewissen Hauptmann Kjuschkin. Ich lernte ihn in Sserpuchow kennen. Dieser Kjuschkin also ...«
Und der Oberst begann stotternd, schmatzend und gestikulierend von diesem Kjuschkin zu erzählen. Es schlug zwölf – die Uhr ging auf halb eins, er erzählte aber noch immer. Selterskij trat kalter Schweiß auf die Stirn.
– Er will es nicht verstehen! Er ist einfach dumm! Glaubt dieser Esel vielleicht, daß mir sein Besuch Vergnügen bereitet? Wie werde ich ihn los? – »Sagen Sie mal,« unterbrach er den Oberst, »was soll ich tun? Ich habe heftige Halsschmerzen! So ein Pech! Ich besuchte heute einen Bekannten, dessen Kind die Diphtheritis hat. Wahrscheinlich habe ich mich angesteckt. Ja, ich weiß es ganz bestimmt. Ich habe die Diphtheritis!«
»Es kommt vor!« sagte Peregarin mit größter Seelenruhe.
»Diese Krankheit ist höchst gefährlich! Nicht nur, daß ich selbst krank bin, ich kann auch jeden in meiner Umgebung anstecken. Diese Krankheit ist in höchstem Maße ansteckend! Daß ich nur Sie nicht anstecke, Herr Oberst!«
»Mich? Ich habe bereits in Typhusspitälern gelebt, habe mich nie angesteckt; und bei Ihnen soll ich mich plötzlich anstecken? So ein alter Kauz wie ich ist gegen jede Krankheit gefeit. Greise sind zäh. Wir hatten in unserer Brigade einen alten Oberst Trèsbien ... französischer Abstammung. Dieser Trèsbien also ...«
Peregarin erzählte nun von der Zähigkeit dieses Trèsbien. Die Uhr schlug halb eins.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, Herr Oberst. Wie spät pflegen Sie zu Bett zu gehen?«
»So gegen zwei oder drei. Es kommt aber vor, daß ich überhaupt nicht schlafen gehe, besonders wenn ich in angenehmer Gesellschaft sitze oder rheumatische Schmerzen habe. Heute werde ich z. B. erst gegen vier zu Bett gehen, denn ich habe nachmittags ausgeschlafen. Ich bin übrigens imstande, auch gar nicht zu schlafen. Im Kriege kam es vor, daß wir uns wochenlang nicht legten. Ich will Ihnen z. B. folgenden Fall berichten. Unser Regiment stand vor Achalzych ...«
»Entschuldigen Sie. Was mich betrifft, so gehe ich regelmäßig um zwölf zu Bett. Ich muß immer um neun aufstehen, so daß ich unbedingt früher schlafen gehen muß.«
»Natürlich. Das Frühaufstehen soll ja auch für die Gesundheit höchst zuträglich sein. Wir standen also vor Achalzych ...«
»Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Bald fröstelt es mich, bald vergehe ich vor Hitze. Das habe ich immer vor dem Anfall. Ich muß Ihnen sagen, daß ich manchmal merkwürdige Nervenanfälle habe. So gegen ein Uhr nachts ... untertags habe ich diese Anfälle nie ... Es summt mir in den Ohren, ich verliere das Bewußtsein, springe auf und werfe jedem, der zufällig in meiner Nähe ist, irgendeinen schweren Gegenstand, der mir gerade in die Hand kommt, an den Kopf. Finde ich ein Messer, so werfe ich eben das Messer; ist es ein Stuhl, so werfe ich den Stuhl. Jetzt fröstelt es mich, wie es jedesmal vor dem Anfall kommt. Es beginnt immer mit Schüttelfrost.« –
»Was Sie nicht sagen! ... Sie sollten doch eine Kur durchmachen!«
»Ich habe mich von verschiedenen Aerzten behandeln lassen, doch immer ohne Erfolg ... Ich beschränke mich jetzt darauf, daß ich vor den Anfällen meine Familienmitglieder warne, damit sie mir rechtzeitig aus dem Wege gehen. Sonst tue ich nichts dagegen ...«
»Wie sonderbar ... Was es nicht alles für Krankheiten auf der Welt gibt! Pest, Cholera, verschiedene Anfälle ...«
Der Oberst schüttelte den Kopf und wurde nachdenklich. Eine Pause trat ein. – Ich will ihm einmal etwas aus meinen Werken vorlesen, sagte sich Seltsrskij. Ich habe ja in der Schublade noch den Roman liegen, den ich auf dem Gymnasium geschrieben habe ... Vielleicht wird er mir jetzt einen Dienst erweisen ... –
»Wissen Sie was?« unterbrach Selterskij die Gedanken seines Gastes. »Wollen Sie vielleicht, daß ich Ihnen eines meiner Werke vorlese? Ich habe es in meinen freien Stunden geschrieben ... Es ist ein Roman in fünf Teilen, mit einem Prolog und einem Epilog ...« Ohne erst die Antwort abzuwarten, sprang Selterskij auf und holte aus der Schublade ein altes, vergilbtes Manuskript mit dem Titel »Totes Wasser. Roman in fünf Teilen.« – Jetzt geht er sicher fort, dachte Selterskij, sein Jugendwerk durchblätternd. Ich werde ihm so lange vorlesen, bis er aufheult ... »Hören Sie also zu, Herr Oberst!«
»Mit Vergnügen ... Ich höre sehr gern zu ...«
Selterskij begann. Der Oberst kreuzte die Beine, setzte sich bequemer zurecht, machte ein ernstes Gesicht und bereitete sich offenbar vor, lange und gewissenhaft zuzuhören ... Der Roman begann mit einer Naturschilderung. Als die Uhr eins schlug, trat an die Stelle der Naturschilderungen die Beschreibung des Schlosses, in dem der Held des Romans, Graf Valentin, wohnte. – »Wie schön muß es doch sein, in so einem Schloß zu wohnen!« seufzte Peregarin auf. »Und wie schön ist es geschildert! Ich könnte mein ganzes Leben dasitzen und zuhören!« –
– Warte nur, – dachte sich Selterskij. – Auf die Dauer hälst du es doch nicht aus! – Um halb zwei trat an Stelle des Schlosses das schöne Aeußere des Helden. Um zwei Uhr las Selterskij mit matter gedämpfter Stimme:
»Sie fragen mich, was ich will? O, ich will, daß dort unter der Kuppel des südlichen Himmels ihr kleines Händchen schmachtend in meiner Hand beben soll ... Nur dort kann mein Herz unter der Kuppel meines seelischen Domes lebhafter schlagen ... Ich strebe nach Liebe, nach Liebe!...
– Ich kann nicht mehr, Herr Oberst ... meine Kraft ist zu Ende!«
»Lassen Sie es jetzt! Morgen werden Sie es zu Ende lesen. Jetzt wollen wir etwas plaudern ... Ich habe Ihnen noch immer nicht erzählt, was wir vor Achalzych erlebt hatten ...« – Selterskij fiel erschöpft auf das Sofa, schloß die Augen und begann zuzuhören ...
– Alle Mittel habe ich versucht, – dachte er. – Was er für ein dickes Fell hat! Jetzt wird er bis vier Uhr sitzen... Gott, ich gäbe gern hundert Rubel, wenn er endlich fortginge ... Ah! Ich will einmal versuchen, ihn anzupumpen! Es ist ein erprobtes Mittel ...
»Herr Oberst!« unterbrach er den Gast. »Ich muß Sie wieder unterbrechen. Ich will Sie um eine Gefälligkeit bitten ... Ich habe in der letzten Zeit hier auf dem Lande ziemlich viel Geld ausgegeben. Ich habe keinen Pfennig im Hause und erwarte erst Ende August Geld.«
»Es ist so spät geworden ...« schnaufte Peregarin, sich nach seiner Mütze umsehend. »Es ist bald drei ... Was haben Sie eben gesagt?«
»Ich möchte mir irgendwo zwei- oder dreihundert Rubel leihen. Wissen Sie nicht, wer mir das Geld pumpen könnte?«
»Wieso sollte ich es wissen? Es ist für Sie Zeit, zu Bett zu gehen! ... Leben Sie wohl! ... Haben Sie vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft ... Empfehlung an die Frau Gemahlin! ...«
Der Oberst ergriff mit komischer Eilfertigkeit seine Mütze und ging zur Tür.
»Wo wollen Sie denn hin?« triumphierte Selterskij. »Ich wollte Sie bitten ... Denn ich kenne Ihre Güte ... Ich hoffte ...«
»Morgen. Jetzt wollen Sie schleunigst zu Bett gehen! Die Frau Gemahlin wird im höchsten Maße ungehalten sein, daß ich Sie solange wachgehalten habe. Es wäre ja noch schöner, wenn ich nur noch eine Minute zögerte. Ich bitte Sie dringend, lieber Freund, keine Widerrede ... Leben Sie wohl! Marsch ins Bett!«
Peregarin drückte Selterskij mit sauersüßem Lächeln rasch die Hand, setzte sich die Mütze auf und ging. Selterskij triumphierte.