Anton Tschechow
Lustige Geschichten
Anton Tschechow

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Das Drama

Übersetzt von Alexander Eliasberg

»Pawel Wassiljitsch, da ist eine Dame gekommen und will Sie sprechen,« meldete Luka. »Sie wartet schon seit einer Stunde ...«

Pawel Wassiljitsch hatte eben gefrühstückt. Als er von der Dame hörte, verzog er das Gesicht und sagte:

»Hol' sie der Teufel! Sag' ihr, ich sei beschäftigt.«

»Sie war schon fünfmal da, Pawel Wassiljitsch. Sie sagt, daß sie Sie unbedingt sprechen muß ... Sie weint beinahe.«

»Hm ... Also gut, führe sie ins Arbeitszimmer.«

Pawel Wassiljitsch zog sich ohne Uebereilung den Rock an, nahm in die eine Hand eine Feder und in die andere – ein Buch, machte eine Miene, als wäre er sehr beschäftigt, und ging in sein Arbeitszimmer. Hier erwartete ihn schon der Besuch: eine große volle Dame mit rotem, feistem Gesicht und einer Brille auf der Nase, von sehr anständigem Aussehen und mehr als anständig gekleidet (sie hatte eine vierstöckige Tournüre und einen hohen Hut mit einem braunroten Vogel). Als sie den Hausherrn gewahrte, rollte sie die Augen hinauf und faltete die Hände wie im Gebet.

»Sie erinnern sich meiner natürlich nicht,« begann sie mit einer hohen männlichen Tenorstimme, in sichtbarer Aufregung. »Ich ... ich hatte das Vergnügen, Sie bei den Chruzkijs kennen zu lernen ... Ich heiße Muraschkina.«

»Aha ... hm ... Nehmen Sie Platz! Womit kann ich dienen?«

»Sehen Sie, ich ... ich ...« sagte die Dame, indem sie Platz nahm, in noch größerer Erregung. »Sie erinnern sich meiner nicht ... Ich heiße Muraschkina ... Sehen Sie, ich bin eine große Verehrerin Ihres Talents und lese stets mit Genuß Ihre Aufsätze ... Glauben Sie nur nicht, daß ich Ihnen schmeicheln will, – Gott behüte! – ich lasse Ihnen nur Gerechtigkeit widerfahren ... Immer, immer lese ich Ihre Aufsätze! Einigermaßen stehe ich auch selbst der Schriftstellerei nicht ganz fern, d. h. natürlich ... ich wage es nicht, mich eine Schriftstellerin zu nennen, aber auch ich habe schon einige Tropfen Honig in den Bienenkorb der Literatur gebracht. Zu verschiedenen Zeiten sind von mir drei Erzählungen für die Jugend erschienen, – Sie haben sie natürlich nicht gelesen ... ich habe auch viel übersetzt und ... und mein verstorbener Bruder war Mitarbeiter der Zeitschrift ›Djelo‹.«

»So, so ... hm ... Womit kann ich dienen?«

»Sehen Sie ... (Die Muraschkina senkte die Augen und errötete). Ich kenne Ihr Talent ... und Ihre Anschauungen, Pawel Wassiljitsch, und möchte gerne Sie um Ihre Ansicht oder eigentlich um Rat bitten. Ich bin, pardon pour l'expression, mit einem Drama niedergekommen, und bevor ich es an die Zensur schicke, möchte ich Ihr Urteil hören.«

Die Muraschkina kramte nervös, mit dem Ausdruck eines gefangenen Vogels, in ihren Kleidern und holte ein großes dickes Heft hervor.

Pawel Wassiljitsch liebte nur seine eigenen Aufsätze; fremde Arbeiten, die er lesen oder hören mußte, machten auf ihn immer den Eindruck einer ihm direkt aufs Gesicht gerichteten Kanonenmündung. Als er das Heft erblickte, erschrak er und sagte schnell:

»Gut, lassen Sie es da ... ich werde es lesen.«

»Pawel Wassiljitsch!« sagte die Muraschkina schwärmerisch, indem sie sich erhob und die Hände wie im Gebet faltete. »Ich weiß, Sie sind beschäftigt ... jede Minute ist Ihnen teuer, und ich weiß auch, daß Sie mich jetzt innerlich zum Teufel wünschen, aber ... seien Sie so gut, gestatten Sie mir, Ihnen mein Drama jetzt gleich vorzulesen ... Seien Sie so lieb!«

»Es freut mich sehr,« sagte Pawel Wassiljitsch verlegen. »Aber ich habe keine Zeit, meine Gnädige ... Ich ... ich muß jetzt gleich weggehen.«

»Pawel Wassiljitsch!« stöhnte die Dame, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich bitte Sie um ein Opfer! Ich bin frech, ich bin zudringlich, seien Sie aber großmütig! Morgen muß ich nach Kasan fahren und möchte Ihre Meinung schon heute hören. Schenken Sie mir eine halbe Stunde Aufmerksamkeit ... nur eine halbe Stunde! Ich flehe Sie an!«

Pawel Wassiljitsch war im Grunde genommen ein Waschlappen und konnte nicht nein sagen. Es kam ihm vor, als sei die Dame im Begriff, in Tränen auszubrechen und vor ihm niederzuknien; er fühlte sich plötzlich verlegen und murmelte ganz ratlos:

»Gut, gerne ... ich will hören ... eine halbe Stunde höre ich gerne zu.«

Die Muraschkina schrie vor Freude auf, nahm sich den Hut ab, setzte sich hin und begann zu lesen. Zuerst las sie, wie ein Diener und eine Zofe beim Aufräumen eines reichen Salons sehr langatmig über ein Fräulein Anna Ssergejewna sprachen, das im Dorfe eine Schule und ein Krankenhaus erbaut hätte. Als der Diener gegangen war, hielt die Zofe einen Monolog über das Thema, daß das Wissen – Licht, und die Unwissenheit – Finsternis sei; dann brachte die Muraschkina den Diener wieder in den Salon und ließ ihn einen langen Monolog sprechen über seinen Herrn, den General, der die Überzeugungen seiner Tochter hasse, sie mit einem reichen Kammerjunker verheiraten möchte und der Ansicht sei, daß das Heil des Volkes in der Unbildung liege. Die Dienstboten entfernten sich; nun erschien das Fräulein selbst und teilte dem Publikum mit, dass sie die ganze Nacht nicht geschlafen und fortwährend an Valentin Iwanowitsch, den Sohn eines armen Lehrers, gedacht habe, welcher unentgeltlich seinem Vater helfe. Valentin hätte alle Wissenschaften studiert, glaube aber weder an Freundschaft, noch an Liebe, habe kein Ziel im Leben und ersehne sich den Tod; darum müsse sie ihn retten.

Pawel Wassiljitsch hörte zu und dachte mit Sehnsucht an sein Sofa. Er warf der Muraschkina gehässige Blicke zu, fühlte, wie ihre männliche Tenorstimme gegen seine Trommelfelle prasselte, verstand nichts und dachte sich:

– Was hat dich der Teufel hergebracht ... Unbedingt muß ich deinen Blödsinn anhören! ... Was kann ich dafür, daß du ein Drama geschrieben hast? Du lieber Himmel, so ein dickes Heft! Eine Strafe Gottes! –

Pawel Wassiljitsch blickte auf das Bild seiner Frau, das zwischen zwei Fenstern hing, und erinnerte sich, daß die Frau ihm aufgetragen hatte, fünf Arschin Band, ein Pfund Käse und ein Paket Zahnpulver zu kaufen und auf die Sommerfrische zu bringen.

– Habe ich nicht das Muster vom Band verloren? – dachte er sich. – Wo habe ich es nur hingetan? Ich glaube, es steckt in der Tasche des blauen Rockes ... Die niederträchtigen Fliegen haben schon das Bild mit ihren Punkten verdreckt. Ich muß mal der Olga sagen, daß sie das Glas wäscht. Sie liest den zwölften Auftritt, also ist wohl der erste Akt bald zu Ende. Ist denn bei solcher Hitze und dazu noch bei dieser Korpulenz überhaupt eine Inspiration möglich? Statt Dramen zu schreiben, sollte sie doch lieber kalte Suppen essen und im Keller schlafen ... –

»Finden Sie nicht, daß dieser Monolog etwas zu lang ist?« fragte die Muraschtina, die Augen vom Manuskript hebend.

Pawel Wassiljitsch hatte den Monolog nicht gehört. Er wurde verlegen und sagte so schuldbewußt, als hätte nicht die Dame, sondern er selbst den Monolog geschrieben:

»Nein, durchaus nicht ... Sehr nett ...«

Die Muraschkina erstrahlte vor Glück und fuhr fort:

»Anna: Die Analyse hat Sie vergiftet. Sie haben viel zu früh aufgehört, mit Ihrem Herzen zu leben, und sich dem Verstand anvertraut. – Valentin: Was ist das Herz? Das ist doch ein anatomischer Begriff. Als eine konventionelle Bezeichnung dafür, was man sonst Gefühl nennt, kann ich es nicht anerkennen. – Anna (verlegen): Und die Liebe? Ist denn auch die Liebe nur ein Produkt der Ideen-Assoziation? Sagen Sie mir aufrichtig: haben Sie einmal geliebt? – Valentin (bitter): Wir wollen die alten, noch nicht verheilten Wunden nicht berühren. (Pause.) Woran denken Sie jetzt? – Anna: Mir scheint, Sie sind unglücklich.«

Während des sechzehnten Auftritts mußte Pawel Wassiljitsch gähnen. Er gab dabei einen Ton von sich, wie ihn die Hunde ausstoßen, wenn sie nach einer Fliege schnappen. Er erschrak selbst vor diesem unanständigen Laut und bemühte sich, um den Eindruck zu verwischen, seinem Gesicht den Ausdruck andächtiger Aufmerksamkeit zu verleihen.

– Der siebzehnte Auftritt ... Wann kommt einmal das Ende? – fragte er sich. – Mein Gott! Wenn diese Qual noch zehn Minuten dauert, fange ich zu schreien an ... Es ist nicht zum Aushalten! –

Die Dame las aber schneller und lauter, erhob die Stimme und sagte: »Vorhang.«

Pawel Wassiljitsch atmete erleichtert auf und wollte schon aufstehn, aber die Muraschkina wendete schnell die Seite um und las weiter ...

»Zweiter Akt. Die Bühne stellt eine Dorfstraße dar. Rechts die Schule, links das Krankenhaus. Auf den Stufen vor dem letzteren sitzen Bauern und Bäuerinnen.«

»Pardon ...« unterbrach sie Pawel Wassiljitsch: »Wieviel Akte sind es im ganzen?«

»Fünf,« antwortete die Muraschkina und fuhr schnell fort, als fürchtete sie, daß der Zuhörer davonlaufen könnte: »Aus einem Fenster der Schule schaut Valentin heraus. Man sieht im Hintergrunde die Bauern ihre Habseligkeiten in die Schenke tragen.«

Wie einer, der zum Tode verurteilt ist und an die Möglichkeit einer Begnadigung gar nicht glaubt, wartete Pawel Wassiljitsch nicht mehr auf das Ende, erhoffte nichts und gab sich nur Mühe, daß seine Augen nicht zufallen und daß der Ausdruck von Aufmerksamkeit nicht von seinem Gesicht weiche. Die Zukunft, wo die Dame mit dem Drama fertig sein und weggehen würde, erschien ihm so fern, daß er an sie nicht mal dachte.

»Tru – tu – tu – tu ...« tönte in seinen Ohren die Stimme der Muraschkina. »Tru – tu – tu ... Ssss ...« – Ich habe vergessen, Natron zu nehmen, – sagte er sich. – Ja, woran dachte ich eben? An das Natron ... Ich habe wahrscheinlich einen Magenkatarrh ... So merkwürdig: Smirnowskij trinkt den ganzen Tag Schnaps und hat noch immer keinen Katarrh ... Irgendein Vogel hat sich eben aufs Fenster gesetzt ... Ein Spatz ... –

Pawel Wassiljitsch nahm seine ganze Kraft zusammen, um die gespannten, zufallenden Augenlider offen zu halten, gähnte, ohne den Mund zu öffnen, und blickte die Muraschkina an. Sie verschwand in einem Nebel, wankte vor seinen Augen, bekam auf einmal drei Köpfe und berührte mit dem Scheitel die Decke ...

»Valentin: Nein, lassen Sie mich abreisen ... – Anna (erschrocken): Warum? – Valentin (zur Seite): Sie ist blaß geworden! (Zu Anna): Zwingen Sie mich nicht, Ihnen die Gründe zu erklären. Ich werde eher sterben, doch Sie werden die Gründe nicht erfahren. – Anna (nach einer Pause): Sie dürfen nicht abreisen ...«

Die Muraschkina begann zu schwellen, wurde riesengroß und floß mit der grauen Luft des Zimmers in eins zusammen; nur ihr Mund, der sich fortwährend bewegte, war noch zu sehen; dann wurde sie so klein wie eine Flasche, begann zu schwanken und trat zugleich mit dem Tisch in die Tiefe des Zimmers zurück ...

»Valentin (Anna in seinen Armen haltend): Du hast mich zu neuem Leben auferweckt, du hast mir mein Lebensziel gezeigt! Du hast mich erneut, wie der Frühlingsregen die wiedererwachte Erde erneut! Aber ... es ist zu spät! Ein unheilbares Leiden zehrt an meiner Brust ...«

Pawel Wassiljitsch fuhr zusammen und richtete seine blöden, trüben Augen auf die Muraschkina; eine Minute lang blickte er sie verständnislos an ...

»Elfter Auftritt. Dieselben, der Baron und der Landpolizeimeister mit den Zeugen ... Valentin: Verhaftet mich! – Anna: Ich bin sein! Verhaftet auch mich! Ja, verhaftet auch mich! Ich liebe ihn, ich liebe ihn mehr als das Leben! – Baron: Anna Ssergejewna, Sie vergessen, daß Sie damit auch Ihren Vater ins Verderben stürzen ...«

Die Muraschkina fing wieder zu schwellen an ... Pawel Wassiljitsch erhob sich, wilde Blicke um sich werfend, von seinem Platz, schrie mit einer unnatürlichen Bruststimme auf, nahm vom Tische einen massiven Briefbeschwerer und ließ ihn, besinnungslos, aus aller Kraft auf den Kopf der Muraschkina niedersausen ...

»Bindet mich, ich habe sie erschlagen!« sagte er den Dienstboten, die nach einer Minute hereingestürzt kamen.

Die Geschworenen sprachen ihn frei.


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