Anton Tschechow
Lustige Geschichten
Anton Tschechow

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Ein Unikum

Übersetzt von Alexander Eliasberg

Ein Uhr nachts. Vor der Türe der alten Jungfer und Hebamme Marja Petrowna Koschkina bleibt ein schlanker Herr im steifen Hut und Mantel mit Kapuze stehen. Im Dunkeln kann man weder sein Gesicht noch seine Hände unterscheiden, doch seine Art zu hüsteln und zu klingeln zeugen schon von einem soliden, positiven und respekteinflößenden Charakter. Die Tür geht nach dem dritten Läuten auf, und Marja Petrowna selbst kommt zum Vorschein. Sie hat einen weißen Unterrock an und darüber einen Herrenmantel. Die kleine Lampe mit dem grünen Schirm, die sie in der Hand hält, färbt ihr verschlafenes, sommersprossiges Gesicht, den sehnigen Hals und die dünnen rötlichen Haare, die unter der Haube hervorgucken, grün.

»Kann ich die Hebamme sprechen?« fragt der Herr.

»Ich bin die Hebamme. Was wünschen Sie?«

Der Herr tritt in den Flur und Marja Petrowna sieht einen großgewachsenen, schlanken, nicht mehr jungen Mann mit hübschem, strengem Gesicht und buschigem Backenbart vor sich.

»Ich bin der Kollegien-Assessor Kirjakow,« sagt er. »Ich komme, um Sie zu meiner Frau zu bitten. Aber bitte möglichst schnell.«

»Schön...« sagt die Hebamme. »Ich ziehe mich sofort an, wollen Sie inzwischen im Salon warten?«

Kirjakow legt seinen Mantel ab und tritt in den Salon. Das grüne Lämpchen beleuchtet spärlich die in geflickten weißen Leinwandhüllen steckenden billigen Möbel, die armseligen Blumentöpfe und die efeuumrankten Türpfosten .... Es riecht nach Geranien und Karbol. Eine kleine Wanduhr tickt so leise, als geniere sie sich vor dem fremden Mann.

»Ich bin fertig!« sagt Marja Petrowna, als sie nach fünf Minuten fertig angekleidet, gewaschen und munter in den Salon tritt. »Wir wollen fahren!«

»Ja, wir müssen uns beeilen ....« sagt Kirjakow. »Uebrigens, eine Frage, die mir nicht überflüssig scheint: wieviel verlangen Sie für Ihre Mühe?«

»Ich weiß wirklich nicht ....« entgegnet Marja Petrowna mit einem verlegenen Lächeln. »Soviel Sie mir geben ....«

»Nein, das liebe ich nicht,« sagt Kirjakow kalt, die Hebamme starr anblickend. »Eine feste Abmachung ist besser als Bargeld. Ich will Sie nicht übervorteilen, und Sie sollen mich nicht übervorteilen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen wollen wir es lieber gleich abmachen.«

»Ich weiß wirklich nicht .... Wir haben keine bestimmten Preise.«

»Ich arbeite selbst und bin es gewöhnt, auch fremde Arbeit zu schätzen. Ich mag keine Ungerechtigkeit. Mir wird es ebenso unangenehm sein, wenn ich Ihnen zu wenig gebe, wie wenn Sie zu viel verlangen; darum bestehe ich darauf, daß Sie mir Ihren Preis nennen.«

»Die Preise sind verschieden!«

»Hm! ... Angesichts dieser mir unverständlichen Preisschwankungen muß ich selbst den Preis festsetzen. Ich kann Ihnen zwei Rubel geben.«

»Was fällt Ihnen ein!« sagt Marja Pelrowna errötend und einen Schritt zurückweichend. »Ich müßte mich genieren .... Statt die zwei Rubel zu nehmen, mach' ich es lieber ganz umsonst. Wenn Sie wollen, fünf Rubel ....«

»Zwei Rubel und keine Kopeke mehr. Ich will Sie nicht übervorteilen, will aber auch nicht zuviel zahlen.«

»Ganz wie Sie wünschen, aber für zwei Rubel komme ich nicht mit ....«

»Nach dem Gesetz dürfen Sie sich gar nicht weigern.«

»Gut, dann mache ich es umsonst.«

»Umsonst will ich nicht. Jede Arbeit muß bezahlt werden. Ich arbeite selbst und weiß es.«

»Für zwei Rubel komme ich nicht mit ....« erklärt Marja Petrowna sanft. »Aber wenn Sie wollen, umsonst ....«

»In diesem Falle tut es mir sehr leid, daß ich Sie belästigt habe .... Ich habe die Ehre.«

»Sie sind wirklich merkwürdig ....« sagt die Hebamme, Kirjakow ins Vorzimmer begleitend. »Wenn Sie wollen, mache ich es für drei Rubel.«

Kirjakow runzelt die Brauen und überlegt zwei Minuten lang, indem er gespannt zu Boden blickt. Dann sagt er sehr bestimmt: »Nein!« und tritt auf die Straße. Die Hebamme ist erstaunt und verlegen. Sie schließt hinter ihm die Tür und zieht sich in ihr Schlafzimmer zurück.

– Ein so hübscher, solider Mann, doch so merkwürdig! Soll er nur gehen, – denkt sie sich, während sie sich hinlegt.

Es vergeht aber keine halbe Stunde, als es wieder klingelt; sie steht auf und erblickt im Vorzimmer den gleichen Kirjakow.

»Eine furchtbare Mißwirtschaft!« sagt er. »Weder in der Apotheke, noch von einem Schuhmann oder Hausknecht kann man die Adresse einer Hebamme erfragen. So bin ich gezwungen, auf Ihre Bedingungen einzugehen. Ich gebe Ihnen drei Rubel, muß Sie aber gleich darauf aufmerksam machen, daß ich, wenn ich einen Dienstboten dinge oder sonst fremde Dienste in Anspruch nehme, im voraus ausmache, daß bei der Bezahlung keine Rede von Zulagen oder Trinkgeldern ist. Jeder soll das Seine bekommen.«

Marja Petrowna hat ihm gar nicht solange zugehört, aber sie fühlt schon, daß er ihr zum Halse herauswächst und daß seine eintönigen, abgemessenen Worte sich als schwere Last auf ihre Seele legen. Sie zieht sich an und tritt mit ihm auf die Straße. Die Luft ist unbeweglich, doch kalt, und es ist so nebelig, daß selbst die Straßenlaternen kaum zu sehen sind. Unter den Schritten spritzt der Straßenschmutz. Die Hebamme blickt nach allen Seiten, kann aber keine Droschke entdecken ....

»Es ist wohl nicht weit?« fragt sie.

»Gar nicht weit,« antwortet Kirjakow düster.

Sie passieren eine Quergasse, eine zweite, eine dritte .... Kirjakow schreitet rüstig voraus, und selbst seine Gangart zeugt von einem soliden und positiven Charakter.

»Was für ein schreckliches Wetter!« sagt die Hebamme, um ein Gespräch anzuknüpfen.

Er aber schweigt sehr solid und gibt sich sichtbare Mühe, nur auf die glatten Pflastersteine zu treten, um die Gummischuhe zu schonen. Endlich, nach einer gar nicht kurzen Strecke, tritt die Hebamme in ein Vorzimmer; durch die offene Türe sieht sie einen großen, höchst anständig möblierten Salon. In allen Zimmern, selbst im Schlafzimmer, wo die Gebärerin liegt, ist keine Seele .... Von Verwandten und alten Weibern, die sonst bei solchen Gelegenheiten in ganzen Scharen zusammenlaufen, ist keine einzige vorhanden. Bloß die Köchin mit dem stumpfsinnigen, erschrockenen Gesicht rennt wie verrückt hin und her. Man hört lautes Stöhnen.

Es sind drei Stunden vergangen. Marja Petrowna sitzt am Bette der Wöchnerin und tuschelt mit ihr. Die beiden Frauen haben schon Bekanntschaft geschlossen, über alles mögliche gesprochen und gejammert ....

»Sie dürfen gar nicht sprechen!« sagt die Hebamme besorgt, überschüttet sie aber mit Fragen.

Da geht die Tür auf, und Kirjakow selbst kommt leise und solid ins Schlafzimmer. Er setzt sich auf einen Stuhl und streichelt sich den Backenbart. Es tritt Schweigen ein .... Marja Petrowna blickt scheu auf sein hübsches, doch leidenschaftsloses, hölzernes Gesicht und wartet, daß er etwas sage. Er aber schweigt hartnäckig und scheint an etwas zu denken. Nun entschließt sich die Hebamme selbst, ein Gespräch zu beginnen, und sagt, was man in ähnlichen Fällen zu sagen pflegt:

»Nun gibt es, Gott sei Dank, einen Menschen auf der Welt mehr!«

»Ja, es ist erfreulich,« sagt Kirjakow mit dem gleichen hölzernen Gesichtsausdruck. »Obwohl man andererseits, um mehr Kinder zu haben, auch mehr Geld haben muß. Das Kind kommt weder gesättigt, noch bekleidet zur Welt.«

Das Gesicht der Wöchnerin nimmt einen schuldbewußten Ausdruck an, als hätte sie ohne Erlaubnis oder aus bloßer Laune ein lebendes Wesen in die Welt gesetzt. Kirjakow seufzt, erhebt sich von seinem Stuhl und verläßt mit soliden Schritten das Schlafzimmer.

»Was haben Sie doch für einen Mann ....« sagt die Hebamme zur Wöchnerin. »Er ist so streng und lächelt niemals ....«

Die Wöchnerin erzählt, er sei immer so .... Er ist ehrlich, gerecht, vernünftig, sparsam, doch alles in einem so ungewöhnlichen Maße, daß es den einfachen Sterblichen ganz schwül wird. Die Verwandten wollen bei ihm nicht mehr verkehren, die Dienstboten halten es nie länger als einen Monat aus, Bekannte haben sie nicht, und Frau und Kinder empfinden bei jedem Schritt eine unheimliche Angst. Er ist nie gewalttätig, er schreit nie, er hat viel mehr Vorzüge als Fehler, wenn er aber aus dem Hause geht, so fühlen sich alle gleich wohler und ungezwungener. Woher das kommt, kann die Wöchnerin gar nicht begreifen.

»Man muß diese Becken ordentlich reinigen und in die Kammer stellen,« sagt Kirjakow, wieder im Schlafzimmer erscheinend. »Auch diese Flaschen muß man verwahren: man wird sie gebrauchen können.«

Was er sagt, ist einfach und gewöhnlich, doch die Hebamme empfindet eine namenlose Angst. Sie beginnt diesen Menschen zu fürchten und fährt zusammen, sooft sie seine Schritte hört. Am Morgen, vor dem Weggehen, sieht sie den Sohn Kirjakows, einen kurzgeschorenen kleinen blassen Gymnasiasten, im Eßzimmer Tee trinken .... Vor ihm steht Kirjakow und spricht mit seiner eintönigen, gleichmäßigen Stimme:

»Du verstehst zu essen, also mußt du auch zu arbeiten verstehen. Du hast soeben einen Schluck Tee getrunken, hast dir aber dabei wohl nicht gedacht, daß dieser Schluck Geld kostet und daß das Geld durch Arbeit erworben wird. Iß und denke daran ....«

Die Hebamme sieht das stumpfsinnige Gesicht des Knaben, und es ist ihr, als fühle sich selbst die Luft bedrückt, als könnten die Wände die Anwesenheit dieses ungewöhnlichen Menschen nicht ertragen und müßten gleich einstürzen. Außer sich vor Angst, von einem Haß gegen diesen Menschen erfüllt, packt Maria Petrowna ihre Sachen zusammen und geht schnell weg.

Unterwegs erinnert sie sich, daß sie es vergessen hat, ihre drei Rubel zu verlangen. Sie bleibt eine Weile stehen, winkt dann mit der Hand und setzt ihren Weg fort.


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