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Heute, am 30. März, um 10 Uhr vormittags, öffnete sich hinter meinem Rücken die erste Blüte des Goldbechers. Drei Tage bewachte ich seine größte Knospe, die einer kleinen goldenen Hülse ähnelt, um nur ja diesen historischen Augenblick nicht zu versäumen; er trat ein, während ich zum Himmel hinaufsah, ob es regnen werde. Morgen schon werden die Gerten des Goldbechers mit goldenen Sternen besät sein. Es läßt sich nicht aushalten. Am meisten beeilten sich natürlich die Fliedersträucher; ehe man sich besinnt, haben sie eine Unzahl zarter Blättchen angesetzt. Einen Fliederstrauch, Mensch, kannst du nicht behüten. Auch die Goldtraube entfaltet ihre gezähnten und gezackten Krausen. Aber die übrigen Sträucher warten noch auf irgendein befehlendes »Jetzt«, das aus der Erde oder vom Himmel tönt; im selben Augenblick öffnen sich alle Knospen – und der Frühling ist da.
Dieses Ausschlagen gehört zu den Erscheinungen, die wir Menschen »einen Vorgang, einen Marsch der Natur« nennen; nur daß das Ausschlagen ein wirklicher Marsch ist. Auch die Verwesung ist ein Naturvorgang, doch gemahnt er uns keineswegs an einen hübschen Marsch; ich wollte kein »Tempo di marcia« zum Vorgang der Verwesung komponieren. Wäre ich jedoch ein Musiker, würde ich »einen Marsch der Knospen« komponieren: zuerst liefe ein leichter Marsch der Fliederbataillone, dann käme der Marschtakt der Johannisbeersträucher daran, hierauf fiele der schwere Taktlauf der Birnen- und Apfelknospen ein, während das junge Gras auf allen Saiten, die man auftreiben könnte, klimperte und wisperte. Und bei dieser Orchesterbegleitung würden die Regimenter der prächtigen Knospen vorbeimarschieren, unaufhaltsam im »herrlichen Aufmarsche« nach vorn jagend, wie man es von Militärparaden sagt. Eins, zwei, eins, zwei: Herrgott, das wäre ein Marsch!
Man behauptet, daß im Frühling die Natur zu grünen beginne; so ganz stimmt das nicht, denn durch die bräunlichen und rosa Knospen beginnt sie sich auch zu röten. Es gibt dunkel purpurrote und zart rötliche Knospen, andere sind braun und klebrig wie Harz, wieder andere sind weißlich wie das Fell am Bauche einer Häsin; aber es gibt auch violette und helle Knospen, oder dunkle wie altes Leder. Aus manchen ragen zipflige Säumchen auf, andere ähneln Fingern oder Zungen, andere wieder Warzen. Manche quellen fleischig auf, mit Flaum bewachsen und dick wie junge Hunde, andere sind zu einer festen und schmalen Spitze ausgezogen, wieder andere öffnen sich zu bauschigen und zarten Büscheln. Ich sage euch, Knospen sind genau so merkwürdig und mannigfaltig wie Blätter oder Blüten. Nie wird man fertig mit dem Entdecken neuer Unterschiede. Aber ihr müßt euch ein kleines Plätzchen Erde aussuchen, um sie zu finden. Wenn ich zu Fuß bis nach Beneschau liefe, würde ich ein kleineres Stück vom Frühling sehen, als wenn ich mich im Garten niederhockte. Stehenbleiben müßt ihr: dann seht ihr geöffnete Lippen und heimliche Blicke, zarte Finger und gezückte Waffen, die Schwächlichkeit eines Neugeborenen und den trotzigen Schwung des Lebenswillens; und da hört ihr leise den unendlichen Marsch der Knospen dröhnen.
So! Während ich dies schrieb, ertönte anscheinend jenes geheimnisvolle »Jetzt«. Die Knospen, am Morgen noch mit festen Wickeln umgeben, schoben die zarten Spitzen der Blättchen heraus, an den Gerten des Goldbechers erstrahlen goldene Sternchen, die prallen Knospen der Birnen öffneten sich ein wenig, und an den Spitzen ich weiß nicht welcher Knospen glänzen goldgrüne Augen. Aus den klebrigen Hüllen guckt junges Grün hervor, dicke Knospen sprangen auf, und ein Filigran von Zäckchen und Fältchen drängt sich heraus. Schäme dich nicht, rotes Blättchen, öffne dich, gefalteter Fächer, strecke dich, beflaumter Schläfer: der Befehl zum Aufbruch ward schon gegeben. Tönet, Fanfaren des ungeschriebenen Marsches! Blitze auf in der Sonne, goldenes Blech, dröhnet, ihr Trommeln, pfeifet, ihr Flöten, vergießt euren Sprühregen, unzählige Geigen, denn das stille, braune und grüne Gärtchen hat seinen Siegesmarsch angetreten.