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18. Kapitel.
Wahre Glückseligkeit.

Als der Abend, der diesen denkwürdigen Geburtstag beschloß, herabsank, hatte Topas schon viele Erfahrungen gesammelt. War er für Juwel eine freudige Entdeckung, so war sie es nicht minder für ihn. Er war ebenso begeistert vom Umhertollen auf den Feldern, wo sein Fell, der Goldrute gleich, geleuchtet hatte, wie von dem Auf- und Abrennen am Strande, wo seine Freunde in den kühlen Wogen gebadet hatten.

Juwel war eifrig darauf bedacht, daß Pferd und Hund miteinander Freundschaft schlossen. Als spät am Nachmittage Essex Maid und Stern zur gewohnten Zeit gesattelt und gezäumt herausgebracht wurden, setzte sie eine großartige Vorstellung zwischen dem ebenholzschwarzen Märchenpony und dem goldhaarigen Hunde in Szene. Stern wölbte den Hals und schüttelte die lockige Mähne, als er mit den großen, glänzenden Augen auf Topas hinabsah. Er kannte bereits den neuen Ankömmling; denn der Collie hatte die Nacht in dem Pferdestall verleben müssen und hatte Sonnenschein in den dunklen Raum gebracht, als er um den Mann im karrierten Anzug herumsprang.

»Großpapa, sieh'!« lachte Juwel, als Stern den Boden scharrte, »er sieht Topas genau so an, wie Essex Maid Stern ansah, als sie sich kennen lernten, – gerade so verächtlich

Sie kniete in ihrem Reitanzuge neben dem Pony nieder, und Topas kam sogleich freudig herangesprungen. Er hatte schon begriffen, daß viel Vergnügen seiner wartete, wenn er sich möglichst in ihrer Nähe aufhielte; aber diesmal handelte es sich um eine Beschäftigung. Herr Evringham beobachtete mit innigem Wohlgefallen das reizende Bild, das Pony, den Hund und das blondhaarige Kind dazwischen und wünschte, er hätte einen Kodak zur Hand.

»Seht her, Stern und Topas, ihr müßt euch gegenseitig liebhaben,« sagte Juwel eindringlich. »Gib Fuß, Topas.« Sie streckte die Hand aus, der Hund setzte sich und bot ihr die weiße Pfote.

»Guter Hund,« sagte die Kleine. »Nun paß auf, jetzt wirst du aber erstaunt sein,« fügte sie hinzu. Sie drehte sich nach dem Pony um, das ihre Schulter beschnupperte und nicht recht zu wissen schien, ob ihm dieser Nebenbuhler gefalle. »Gib Fuß, Stern,« befahl sie.

Es dauerte ein Weilchen, bis das Pony sich dazu entschloß. Das war gewöhnlich so. Es schüttelte die Mähne und hob den Kopf; aber Juwel wurde nicht müde, sein schlankes Bein sanft zu klopfen und die Hand hinzuhalten, bis nach vielem leisen Scharren der kleine Huf höher und höher kam und zuletzt in Juwels Hand ruhte, während das Pony in stummer Abwehr zur Seite sah.

»Guter Stern! Lieber Stern!« rief sie, sprang auf und umarmte ihn. »Halloh, Topas, was meinst du dazu?« Als Antwort gähnte der Hund herzhaft, so daß Herr Evringham und Juwel laut auflachen mußten.

»Wie unhöflich!« rief das Kind.

»Du mußt es ihm nicht verdenken, wenn er ein wenig eingebildet ist,« sagte der alte Herr. »Er weiß, daß Stern nicht auf den Hinterbeinen sitzen, sich wälzen und über den Stock springen kann.«

»Ach, Großpapa.« Juwels Gesicht wurde ernst, denn ihr kam eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen ihr und dem Großvater in Erinnerung. »Wann wirst du mir erlauben, über Hindernisse zu setzen?«

»Einige Geburtstage weiter, Juwel, nur ein paar,« antwortete er.

Sie wandte sich von neuem ihren Lieblingen zu. »Ich fürchte,« sagte sie nachdenklich, »es würde keinen Zweck haben zu versuchen, daß sie sich gegenseitig Fuß geben.«

»Mir scheint nein,« antwortete der Makler und schüttelte sich vor Lachen. »Juwel, Juwel, ich verliere sicher meine Taille durch deine Schuld. Halt ein, die Zeit eilt. Steig' auf!«

Er beugte sich nieder und hielt die Hand hin; Juwel setzte den Fuß darauf und schwang sich in ihren weißen Sattel. Der Collie bellte laut fragend und sprang aufgeregt umher.

Gleich darauf setzten sich die Pferde in Trab. »Komm', Topas,« rief das Kind, und er folgte ihnen gutwillig.

Harry und Julia machten in Abwesenheit der Reiter mit der »Juwel« eine Segelpartie. Bis dahin hatten die vier den ganzen Tag zusammenverbracht; nach dem Mittagessen gingen sie alle ins Freie, um die Dämmerung hereinbrechen zu sehen.

Juwel und ihr Vater tollten mit dem Hunde auf dem Rasen umher, und Herr Evringham nahm mit Julia auf der Terrasse Platz.

Der alte Herr beobachtete die Gruppe ein Weilchen, dann sagte er:

»Unsere Unterhaltung am gestrigen Abend hat großen Eindruck auf mich gemacht, Julia, größeren noch, als die vorhergehenden. Harry scheint in bezug auf die Christliche Wissenschaft wirklich sehr intelligent zu sein!«

»Er studiert sie gewissenhaft,« antwortete Julia.

»Ihr habt meine Fragen und Einwände sehr treffend beantwortet,« fuhr Herr Evringham fort. »Ich bin geneigt und froh, dort Wahrheit anzuerkennen, wo ich früher zweifelte, und ich hoffe, mit der Zeit noch viel mehr zu begreifen. Ich muß jedoch gestehen, gegen eins lehne ich mich auf – gegen diese Anbetung von Mrs. Eddy. Ich weiß, Ihr nennt es nicht so, aber was bedeutet das, wenn Ihr alle dieser Frau einen sklavischen Gehorsam leistet? Ich möchte wohl die Wahrheit annehmen, die sie dargeboten hat, aber ich würde sie unpersönlicher machen, als Ihr es tut. Weshalb braucht man ihrer überhaupt zu gedenken?«

Julia lächelte. »Nun, allgemeine Dankbarkeit könnte der Grund sein. Die meisten von uns fühlen, daß sie uns dem lebendigen Christus zugeführt und uns zu allem Guten, zu Gesundheit und Glück verholfen hat. Aber der Irrtum bedient sich unerfahrenen Leuten gegenüber eines sehr allgemeinen Fehlers, der in der Annahme liegt, Mrs. Eddy verlange unsere Dankbarkeit. Jeder gibt willig zu, daß Taten vernehmlicher reden als Worte; trotzdem wollen unsere Gegner nicht darüber nachdenken, daß gerade Mrs. Eddys zurückgezogenes, arbeitsreiches Leben die Unrichtigkeit der gegen sie aufgestellten Anklagen beweist. Sie wünscht unsere Liebe und Dankbarkeit, aber nicht für sich, sondern um unseretwillen. Denken Sie an irgendeinen der großen Lehrer von Paulus bis auf unsere heutige Zeit. Wer könnte Nutzen ziehen aus der Wahrheit eines Lehrers, wenn er unbegründete Verachtung gegen dessen Persönlichkeit hegt oder sie in böswilliger Weise kritisiert?«

»Jawohl,« gab Herr Evringham zu, »Ihre Begründung ist beweiskräftig; aber dieses blinde Befolgen jeglichen Vorschlags, den Eure Führerin macht, erscheint mir wie das Aufgeben des eigenen rationellen Denkens.«

Julia sah ihn ernst an. »Nehmen Sie an, Sie wären einer von denen, die lange Jahre umsonst nach Gold gesucht hätten. Sie hätten Mine auf Mine durchforscht, nur um zu erkennen, daß Ihnen die Fähigkeit fehlt, das untaugliche und wertlose Metall zu beurteilen, oder die versprechenden Merkmale herauszufinden, die zu reicher Entdeckung führen. Nehmen Sie weiter an, ein anderer Goldsucher hätte wiederholt bewiesen, daß er die Plätze kenne, an denen Schätze zu finden seien und stets gezeigt, wie sein Urteil und sein Unterscheidungsvermögen ihn niemals irreführten, und daß seinem Bemühen unfehlbar der Lohn folge. Wenn nun dieser weise Goldgräber Ihnen zu helfen willens wäre! Wenn er Ihnen vielleicht angäbe, daß Sie an gewissen Plätzen und durch ein gewisses Verfahren das erreichen könnten, was Sie ersehnten und wonach Sie vergeblich gesucht hätten! Wenn er Ihnen von Zeit zu Zeit seine Ratschläge zuteil werden ließe, glauben Sie, Sie würden sich damit aufhalten, sie zu zerlegen und das Für und Wider zu erörtern? Nein, – ich glaube, Sie würden schleunigst seine Anweisungen befolgen, und zwar so eifrig, so genau wie nur möglich und sicherlich mit dankbarem Herzen. Übt dieser Goldgräber damit nun einen Zwang auf Sie aus oder erweist er Ihnen damit einen Liebesdienst? Welches sind die Früchte der Christlichen Wissenschaft? Welches sind die Ergebnisse der Anordnungen, die diese weise, liebreiche Lehrerin traf, und die sich Gott so zu nähern vermochte, daß Sein Wort zu ihr sprach, um uns lehren zu können, wie auch wir Ihm näherkommen? Lieber Vater, dieses Hindernis, dieses törichte Argument, stellt sich fast jedem entgegen, der den Weg geht, den auch Sie betreten haben und versucht, ihn von diesem Wege wieder abzubringen. Zu Ihrem Besten hoffe ich, werden Sie sich weigern, dem nichtigen Irrtumswicht soviel Rückgrat zu geben, daß er Sie noch länger zurückhalten kann. Es ist verwunderlich, wie dieser Irrtum, ohne einen einzigen wesentlichen Bestandteil der Wahrheit oder der Vernunft zu besitzen, fähig zu sein scheint, so viele Menschen zurückzuhalten und ihnen ihre kostbare Zeit zu stehlen.«

Herr Evringham betrachtete die Sprechende mit gespannter Aufmerksamkeit. »Sie sind ein guter Anwalt,« bemerkte er, als sie schwieg.

»Es ist leicht, die Wahrheit auszusprechen,« sagte sie.

Er nickte gedankenvoll. »Sie haben für mich ein neues Licht auf die Sachlage geworfen. Ich sehe sie jetzt von einem ganz anderen Standpunkt aus an.«

Hier wurde er durch die Rückkehr des Trios unterbrochen. Vater und Kind lachten herzlich und waren fast ebenso außer Atem wie Topas, der in seiner freudigen Erregung das Maul so weit aufsperrte, daß man alle Zähne und die ganze Zunge sah.

Harry warf sich in die Hängematte, und Juwel kauerte neben Topas nieder, der, den Kopf auf die Seite geneigt, sie erwartungsvoll ansah. Harry lachte. »Juwel, er sieht dich gerade so an, als wollte er sagen: Du bist aber wirklich ganz nach meinem Geschmack.«

»Sie ist auch ganz nach seinem Geschmack,« sagte Juwels Mutter, »und ich bin überzeugt, daß sie sein Herz erobern wird.«

»Er hat mich jetzt schon gern,« erklärte die Kleine. »Nicht wahr, Topas?« fragte sie zärtlich und lehnte das Köpfchen an sein goldhaariges Fell. »Eigentlich müßte noch eine Geschichte in meinem Buch sein,« fügte sie hinzu, »eine, die wir jetzt lesen könnten, als Schlußfeier meines Geburtstages.«

»Weshalb wollen wir nicht »den goldhaarigen Hund« noch einmal lesen,« schlug Herr Evringham vor, der behaglich in seinem Korbstuhl saß und Juwel und Topas beobachtete. »Das wäre doch sehr angebracht.«

»Ach ja,« rief die Kleine und sah ihre Mutter an.

»Ach nein,« entgegnete Julia lächelnd. »Für den Geburtstag müßten wir uns eine ganz neue Geschichte ausdenken. Wir könnten es jetzt tun.«

»Eine neue, Mutter?« fragte Juwel entzückt. »Kannst du das?«

»Nicht allein, aber wenn jeder dazu beitrüge –«

»O ja,« rief Juwel mit noch größerer Begeisterung. »Großpapa fängt an, denn er ist der Älteste, dann kommt Vater, dann Mutter, dann – na, ich, wenn mir etwas einfällt.«

»Es ist sehr unrecht von dir, Juwel,« sagte Herr Evringham, »mich unter diesen Umständen daran zu erinnern, daß ich der Älteste bin. Was hast du mir erst heute morgen gesagt?«

Das Kind lehnte den Kopf zur Seite und schmiegte sich an ihn. »Ich weiß gar nicht, wie alt du bist,« erwiderte sie sanft, »und es ist auch ganz einerlei.«

»Dann laß uns mit der Jüngsten anfangen,« schlug er vor.

»Nein,« sagte seine Schwiegertochter, »ich glaube, Juwels Plan ist der beste. Fangen Sie an, Vater.« Sie erwartete nicht im entferntesten, daß er zustimmen würde; aber Juwel, die die Hände auf Topas Halsband gelegt hatte, sah den alten Herrn liebreich an und erklärte:

»Großpapa bringt alles fertig.«

Herr Evringham betrachtete sie belustigt. »Ich kenne nur eine Geschichte,« sagte er schließlich, »und von dieser nur den Anfang.«

»Weiter brauchen Sie ja auch nichts,« warf Julia ermutigend ein, »denn Harry muß fortfahren, wenn Sie es wünschen.«

»Wirklich?« entgegnete Harry. »Ich bedaure Euch, wenn Ihr mir zuhören müßt.«

»Es ist doch mein Geburtstag, Großpapa,« bat Juwel eindringlich.

»Dessen bin ich mir bewußt,« entgegnete der alte Herr. »Nun, warte ein Weilchen, bis ich Pegasus gesattelt habe.«

»Gütiger Himmel!« rief sein Sohn. »Du meinst das doch nicht etwa im Ernst, Julia? Du erwartest doch nicht so etwas von mir – ganz aus dem Stegreif?«

»Gewiß tu ich das,« erwiderte sie lachend.

»Erlaß es mir diesmal, ich bin verhindert. Wir sind eins, weißt du, und wenn es sich um Autorschaft handelt, bist du die eine.«

»Ruhig,« flüsterte Julia, »Du störst Vater im Nachdenken.«

Aber Herr Evringham schien seine Gedanken, wie sie auch sein mochten, gesammelt zu haben. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, stützte die Ellbogen auf die Seitenlehnen und legte die Fingerspitzen gegeneinander. Die ganze Zuhörerschaft richtete sofort ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Annabel saß allein in einem Stuhl und sah gleichfalls aufmunternd zu dem alten Herrn hinüber. Es war wünschenswert, daß der Stolz ihr die kühle Ruhe bewahrte, denn sie war trotz des milden Septemberabends in ihren neuen Pelz gehüllt, und ihre Hände steckten in dem großen Muff.

»Es war einmal,« begann Herr Evringham seine Erzählung, »ein alter Mann. Er hatte nie gehört, daß es Irrtum sei, alt und schwach zu werden, und er hatte oft das Gefühl, als sei er neunzig Jahre alt, obgleich er viel jünger war. Er lebte in dem Tal »Das nutzlose Bedauern«. Das Klima dieses Ortes wirkte ungünstig auf die Herzen, und ihm war dort das seine so zusammengeschrumpft, daß es ganz klein, dürr und dazu hart und kalt geworden war.

Der alte Mann war nicht arm; er lebte in einem schönen Schloß und hatte viel Bedienung zu seiner Verfügung; aber er war das einsamste aller Geschöpfe. Er wollte einsam sein. Er liebte keinen Menschen; daß die Leute sich von ihm fernhielten und nur dann mit ihm redeten, wenn er es wollte, war alles, was er von ihnen verlangte. Ich versichere Euch, dies kam nicht häufig vor! Es ist leicht verständlich, daß jedermann einen so griesgrämigen Alten gern mied. Er war in der ganzen Nachbarschaft gefürchtet. Es fröstelte allen, wenn er sich näherte, und jeder beeilte sich, wieder in die Sonne zu kommen. So war er es gewohnt, daß die Menschen, die an den schönen Anlagen seines Schlosses vorübergingen, es nur mit einem scheuen Blick streiften, und das war ganz nach seinem Wunsch. Aber trotzdem fühlte er sich immer unglücklich, und sein verschrumpftes Herz schuf ihm viel Unbehagen. Einmal hatte er in einem alten Schriftstück von einem Lande gelesen, das sehr verschieden war von dem Tal »Das nutzlose Bedauern«. In diesem Lande lag das Schloß »Wahre Glückseligkeit«, und der Alte verbrachte manche Stunde in ruheloser Sehnsucht, um zu erfahren, wo es zu finden sei; denn – so hatte er gelesen –, wenn ein Mensch erst einmal durch das Tor jenes Schlosses gegangen sei, würde er nie wieder Kummer oder Unzufriedenheit empfinden, sondern ein glückvoller Tag würde dem andern in endloser Abwechslung und Befriedigung folgen.

Oftmals bestieg der Alte ein mutiges Pferd und ritt davon, um das Schloß »Wahre Glückseligkeit« zu suchen; er schlug immer einen anderen Weg ein; aber jeden Abend kehrte er entmutigt heim, denn er konnte kein Wegzeichen in dem ganzen Tal »Das nutzlose Bedauern« finden, das ihm irgendwelche Hoffnung oder Ermunterung gab, sondern es schien ihm, als sei er wie ein Gefangener in dem Tal eingeschlossen.

Als er eines Tages, von bitteren Gedanken geplagt, auf der Terrasse vor seinem Schloß auf und ab wandelte, bot sich seinen Augen ein seltsamer Anblick. Ein kleines Mädchen stieß die schwere, eiserne Gartenpforte auf, die er für geschlossen gehalten hatte, und schritt auf ihn zu. Einen Augenblick war er ob solchen Wagemuts so erstaunt, daß er nicht sprechen konnte; das kleine Mädchen kam näher und lächelte, als es seinen Blick auffing. Es hatte dunkle Augen und braunes, lockiges Haar. Der süße Ausdruck in dem Gesicht des Kindes würde den meisten Menschen aufgefallen sein; aber den alten Mann erboste dieser Anblick aufs höchste.

»Scher' dich fort,« befahl er ärgerlich und wies auf die Pforte.

Das kleine Mädchen lächelte jedoch freundlich weiter, wandte sich auch nicht ab, sondern ging geradeswegs auf ihn zu.

Das kleine verschrumpfte Herz in des alten Mannes Brust hämmerte laut vor Ärger. Er wandte sich an einen Diener, der in der Nähe stand und zwei große Hetzhunde an der Leine hielt.

»Laß die Hunde auf sie los,« befahl er, und obgleich der Diener zögerte, dem Befehl nachzukommen, wagte er doch nicht, sich zu widersetzen. Er gab die Hunde frei, die auf das Gebot ihres Herrn schnell auf die Kleine losstürzten.

Ihre liebreiche Miene veränderte sich nicht, als sie die Tiere herankommen sah, und sie hielt ihnen die Hände entgegen. Als die Hunde sie erreicht hatten, leckten sie ihr die kleinen Hände und beugten die großen Köpfe vor ihr, um geliebkost zu werden. So näherte sie sich dem Manne, an jeder Seite einen Hund, dem sie die Hand auf den Hals gelegt hatte.

Er starrte sie sprachlos an, als sie vor ihm stand und ihre Augen lächelnd den seinen begegneten. Ihr Gewand war weiß und von fremdartiger Machart.

»Woher kommst du?« fragte er, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte.

»Aus dem himmlischen Reich,« antwortete sie.

»Und wie heißt du?«

»Reinheit.«

»Ich befahl dir, meinen Besitz zu verlassen!« rief der alte Mann.

»Ich habe es nicht gehört,« entgegnete das Kind unbeirrt.

»Fürchtest du dich denn nicht vor den Hunden?«

»Was ist Furcht?« fragte Reinheit mit verwundertem Blick.

»Dieses Land heißt ›Das nutzlose Bedauern‹,« sagte der Mann, »mach', daß du fortkommst.«

»Dies ist ein schönes Land,« entgegnete sie.

Einen Augenblick ließ ihn ihre furchtlose Unbeugsamkeit schweigen; dann besann er sich darauf, die Frage zu stellen, die ihm immer am Herzen lag.

»Hast du in deinem Land je von dem Schloß ›Wahre Glückseligkeit‹ gehört?« fragte er.

»Oft,« erwiderte Reinheit.

»Ich möchte gern dort eingehen,« erklärte er eifrig.

»Warum tust du es denn nicht?« fragte sie.

»Ich kann den Weg nicht finden.«

»Das ist traurig,« sagte die Kleine. »Es liegt in meinem Lande.«

»Und du hast es gesehen?«

»Ja, viele, viele Male.«

»Dann sollst du mir den Weg zeigen.«

»Wann immer du bereit bist,« entgegnete Reinheit. Während sie so sprach, schritt sie an ihm vorüber, noch immer von den Hunden begleitet, stieg die Stufen zu dem Schloß hinan, trat hinein und entschwand seinen Blicken.«

Der Erzähler machte eine Pause. Juwel hatte sich von ihrem Platz erhoben und auf einen Korbschemel zu Herrn Evringhams Füßen gesetzt; Topas schlug mit dem Schwanz auf den Boden, als sie sich bewegte.

»Ich wollte, du wärst dabeigewesen, Großpapa, um dieses kleine Mädchen zu beschützen,« sagte sie und sah ernst zu ihm auf. »Was kam dann?«

»Frage deinen Vater,« war die Antwort.

Harry Evringham drehte sich in der Hängematte herum, damit er seiner Tochter Gesicht sehen konnte. Sie erhob sich wieder, setzte ihren Schemel dicht neben ihn, und Harry begann seine Fortsetzung der Geschichte:

»Als Reinheit das Haus betrat, winselten die Hunde; auf den Ruf des Dieners liefen sie zu ihm zurück. Der Alte stand einen Augenblick ganz verwirrt da; dann klatschte er in die Hände.

»So ist es doch wahr. Sogar diese Kleine hat es gesehen. Ich will sofort zu ihr gehen, und dann wollen wir uns gleich auf den Weg machen.«

Der alte Mann begab sich ins Schloß und befahl, man solle das Kind suchen und zu ihm bringen.

Die Diener kamen eilends diesem Befehl nach, aber das kleine Mädchen war nicht zu finden.

»Schließt die Tore, damit es nicht entschlüpft,« beorderte der Herr, »das Kind ist hier. Findet es, oder es ist um Eure Narrenköpfe geschehen.«

Das war eine schreckliche Drohung. Ihr könnt Euch denken, wie die Diener hierhin und dorthin liefen und jede Ecke, jeden Schlupfwinkel durchsuchten; doch nirgends war von dem kleinen Mädchen eine Spur. Der Herr tobte und schäumte vor Wut; aber er erwog, daß es ihm ernste Unbequemlichkeiten machen würde, wenn alle seine Diener geköpft wären; deshalb ließ er seine Drohung nicht ausführen. So setzte er sich nieder, biß sich auf den Daumen und versuchte, über einen anderen Weg nachzusinnen, um zu dem Schloß »Wahre Glückseligkeit« zu gelangen.

Er war überzeugt, daß das Kind die Wahrheit gesprochen und wirklich das Schloß gesehen hatte. Es lag sogar in dem Lande, das des Kindes Heimat war. Er sah seinen Fehler ein, die kleine Fremde nicht höflicher behandelt zu haben. Sogar die Hunde, die er hielt, um alle Eindringlinge zu vertreiben, waren freundlicher zu ihr gewesen als er.

Plötzlich kam ihm ein lichter Gedanke. Der Vogel Roc, der älteste und weiseste unter den Vögeln, lebte auf dem Gipfel des Berges, der sein Schloß überragte.

»Der wird mir den Weg zeigen, denn er kennt die Welt von ihrem Anfang an.«

Er befahl, daß man ihm sein kräftigstes Roß sattle, und ritt dann viele Stunden mühselig den Berg hinan, bis er dahin gelangte, wo Vogel Roc in den Wolken wohnte.

Dieser hörte höflich des Mannes Frage an. »Ihr seid also Eures Lebens müde,« sagte er. »Mancher Pilger kommt mit der gleichen Frage zu mir, und ich gebe jedem dieselbe Antwort. Zahlreiche Hindernisse versperren den Ausgang aus dem Tal »Das nutzlose Bedauern«, denn es gibt nur einen Weg, und der bietet unendliche Schwierigkeiten; was aber das Überstehen der Gefahren fast unmöglich macht, das ist der Drache, der auf die Wanderer lauert, und der so viele Augen hat, daß zwei davon immer Wache halten. Es gibt jedoch noch eine Möglichkeit. Wenn Ihr meine Flügel prüfen und Euch ein gleiches Paar anfertigen wollt, dann könnt Ihr über die Abgründe und die Drachenhöhle fliegen und sicher das Schloß erreichen.«

Bei diesen Worten breitete Vogel Roc langsam seine großen Flügel aus, und der Mann betrachtete sie prüfend von oben und von unten.

»Und nach welcher Richtung muß ich fliegen?« fragte er schließlich.

»Der aufgehenden Sonne entgegen,« antwortete Vogel Roc; dann klappte er die Flügel zusammen, steckte seinen Kopf darunter, schlief ein, und kein weiteres Wort war ihm zu entlocken.

Der Mann ritt heim und arbeitete mit anderen zusammen viele Wochen an dem Bau eines Luftschiffes, das ihn aus dem Tal »Das nutzlose Bedauern« hinausbringen sollte. Schließlich war das Luftschiff fertig. Es war geschickt zusammengesetzt und hatte so weit auszubreitende Flügel wie Vogel Roc, aber an dem Tage, an dem der Mann es schließlich bestieg und in Bewegung setzte, brachte es ihn nur eine kurze Strecke aus den Schloßtoren hinaus, dann sank es in die Äste eines hohen Baumes. Trotz aller anstrengenden Versuche, die der Mann anstellte, konnte er das Schiff nicht zu einer längeren Fahrt tauglich machen.

Sein armes verschrumpftes Herz pochte heftig vor Zorn und Enttäuschung. »Ich will den weisen Eremiten aufsuchen,« sagte er, und darauf wanderte er durch weite Wälder nach der Hütte des weisen Einsiedlers; der gab ihm den gleichen Bericht über die grausigen Schwierigkeiten, die er auf dem Wege finden würde, der ihn aus dem Tal »Das nutzlose Bedauern« hinausführen könnte. Zum Schluß fügte er hinzu: »Es gibt jedoch noch eine Möglichkeit, nämlich, die Gefahren auf unterirdischem Wege zu umgehen.«

Da nahm sich der alte Mann eine große Anzahl Minenarbeiter und ließ sie mit ostwärts gewandtem Gesicht die Bohrarbeit beginnen; sie sprengten und gruben, um einen unterirdischen Weg anzulegen, dem der Mann bei jeder Stufe des Erfolgs mit immer größer werdendem Eifer nachging, aber gerade, als seine Hoffnungen der Erfüllung nahe waren, stießen die Erdarbeiter plötzlich auf eine unterirdische Höhle, nachtschwarz und bodenlos, von deren Rande sie eben noch zurückspringen konnten, um sich zu retten.

Es war unmöglich, weiter vorzudringen. Die ganze Mannschaft legte den Weg wieder zurück, auf dem sie gekommen war, und die Arbeiter waren froh, wieder auf der Oberfläche der Erde zu sein; aber des Alten Enttäuschung war bitter.

»Alles ist vergebens,« sagte er, als er wieder auf der Terrasse vor seinem Schlosse stand. »Alles Ringen ist nutzlos. Ich bin Zeit meines Lebens in dem Tal ›Das nutzlose Bedauern‹ gefangen.«

Juwels Vater schwieg. Das Kind hatte aufmerksam zugehört und wandte sich jetzt an seinen Großvater.

»Meintest du, Großpapa,« fragte sie, daß die Geschichte so weiterging?«

Herr Evringham nickte. »Ja, das meinte ich.«

»Dann erzähl' weiter, Vater, bitte, denn ich mag gern viel von Glück in Geschichten erzählen hören, und ich möchte, daß der Mann sich aufrafft und einsieht, daß, – daß der Irrtum ihn betrügt.«

»Dann mag deine Mutter zu Hilfe kommen,« erwiderte Harry lächelnd.

Juwel erhob sich wieder und setzte ihren Schemel neben den Schaukelstuhl, in welchem Frau Evringham sich zurückgelehnt hatte.

Die Mutter sah in ihres Kindes Augen, die so ernst dareinschauten, nickte beruhigend und begann dann:

»Niemals war dem traurigen, alten Manne alles so schwarz erschienen wie jetzt, als er auf der Terrasse stand. Er war des Hassens so müde, so müde. Er sehnte sich nach tausenderlei Dingen, ohne sie genau bestimmen zu können; doch eins wußte er, daß sie sicherlich in dem Schlosse ›Wahre Glückseligkeit‹ zu finden sein würden; aber er war eingesperrt! Es führte kein Weg hinaus. Während er diesen verzweifelnden Gedanken nachhing und sich in der Umgebung umsah, die ihm verhaßt geworden, gewahrte er etwas, das ihn stutzig machte. Das große eiserne Tor, das den Ausgang aus dem Garten verschloß, wurde, wie schon einmal, plötzlich geöffnet. Wieder trat ein kleines Mädchen in weißem Gewande herein und kam auf ihn zu. Bei dem Anblick schlug ihm das Herz heftig, und es weitete sich sogar ein wenig.

Anstatt das Kind hinauszuweisen, eilte er ihm dieses Mal entgegen, und obgleich er in seinem Eifer finster dareinsah, lächelte es ihm doch zu und blickte ihn liebevoll an.

»Ich kann weder den Weg in dein Heimatland, noch nach dem Schlosse ›Wahre Glückseligkeit‹ finden,« sagte der Mann, »und ich brauche dich als Führerin. Da du zweimal den Weg hierhergefunden hast, kannst du ihn sicher auch zurückfinden.«

»Ja, sehr leicht,« antwortete Reinheit, »und da du jetzt erkannt hast, daß du meiner bedarfst, bist du vorbereitet, den Weg zu gehen, und der König heißt alle willkommen.«

»Er wird keinen Gefallen an mir finden,« sagte der betrübte Mann, »denn mich hat keiner gern.«

»Aber ich,« antwortete das Kind, und bei dem liebevollen Ton weitete sich dem Manne das Herz noch ein wenig mehr.

»In meinen Augen steht Wasser,« sprach er wie zu sich selbst. »Was bedeutet das?«

»Es wird deinen Blick klarer machen,« entgegnete das Kind. »Dieses Wasser macht auch das Herz weich, und damit wird die Einsicht schärfer.«

»So möge es sein. Vielleicht kann ich dann den Weg besser erkennen; aber der Weg ist voll unzähliger Gefahren, Kind. Hast du vielleicht einen andern Pfad gefunden?«

»Es gibt nur einen,« antwortete Reinheit.

»Das sagte Vogel Roc auch,« erklärte der Mann. »Wie bist du an dem Drachen vorübergekommen?«

Reinheit blickte verwundert auf. »Ich sah keinen Drachen,« war die Antwort.

Der Mann starrte sie überrascht an. »Auf dem Wege sind Abgründe und unzählige Hindernisse,« wiederholte er, »und ein ewig wachsamer Drache. Du bist vielleicht bei Nacht an ihm vorübergekommen und warst so klein, daß er dich nicht bemerkte.«

»Ich sah keinen,« wiederholte sie.

»Dennoch will ich es wagen,« rief der Mann eifrig. »Lieber den Tod als dieses Leben. Warte, bis ich mich mit meinem Schwert umgürtet und unsere Pferde bestellt habe.«

Er wandte sich zum Gehen, aber das Kind erfaßte seine Hand.

»Wir brauchen keine Pferde,« sagte es sanft, »und warum willst du das Schwert mitnehmen?«

»Zu unserer Verteidigung.«

Das Kind drückte ihm leicht die Hand. »Wer wahre Glückseligkeit gewinnt, macht nur von dem Schwert des Geistes Gebrauch,« sagte es.

Der Mann blickte Reinheit finster an, und doch wunderte er sich. Wieder hatte er die ihm unbegreifliche Empfindung, daß das Herz sich ihm weitete.

Das Kind lächelte und schritt auf die schweren Tore zu. Der Mann folgte. Er wunderte sich über sich selbst, aber er folgte.

Als sie den Wald betraten, schlug Reinheit einen Pfad ein, der für ein Pferd zu eng und schwierig gewesen wäre, doch der Mann sah, daß dieser Pfad der aufgehenden Sonne zuführte. Reinheit schien ihres Weges ganz sicher zu sein; dann und wann schaute sie sich nach dem Pilger um und blickte ihn freundlich an. Des alten Mannes Herz begann zu zittern bei dem Gedanken an die bevorstehenden Schwierigkeiten. Er hatte nur die Hände als Verteidigungsmittel und als Führer nur dieses sanfte, weißgekleidete Kind, dessen Furchtlosigkeit, wie ihm schien, nur auf Unkenntnis der Gefahren beruhen konnte. Tatsächlich machte dies die Sache nur noch schlimmer, als wenn er allein gewesen wäre; denn jetzt mußte er sie und sich verteidigen. Sie war so jung und hilflos, und sie hatte ihn so voll Liebe angesehen. Bei diesem Gedanken stieg ihm das seltsame Wasser wieder in die Augen, und das enge Herz weitete sich ihm noch mehr.

Der Wald wurde dichter und dunkler. Scharfe Dornen beengten den Weg mehr und mehr und schlossen ihn schließlich wie mit einem Netzwerk ab.

»Du wirst dir weh tun, Reinheit!« rief der Mann. »Laß mich vorangehen;« er schob das Kind zurück und versuchte, die dornigen Zweige abzubrechen, um sich einen Weg zu erzwingen, aber er zerriß sich vergebens die Hände. Als er schließlich nach hartem Kampfe die Hoffnungslosigkeit seines Beginnens einsah, wandte er sich traurig an seine Führerin.

»Ich sagte es dir ja!« seufzte er.

»Ja,« sagte sie und blickte klaren Auges in das Dickicht. »Auf diesem Pfad wird menschlicher Wille nichts ausrichten, aber dem, der mit mir diesen Pfad beschreitet, steht tausendfache Hilfe zur Verfügung.«

Während sie noch sprach, kam eine ganze Schar helläugiger, kleiner Eichhörnchen herangesprungen. Die Tierchen nagten Dornen und Hecken vor den Pilgern nieder, bis diese sicher auf freiem Felde standen.

»Von Herzen Dank, ihr lieben Kleinen,« rief Reinheit den dann wieder entfliehenden Eichhörnchen nach.

»Weshalb taten sie das für uns?« fragte der erstaunte Mann.

»Weil sie wissen, daß ich sie liebe,« antwortete das Kind und ging leichten Fußes neben seinem Gefährten weiter.

Sie waren wohl eine halbe Stunde gewandert, als das Tosen rauschender Wasser an ihr Ohr drang. Bald darauf erreichten sie einen breiten Fluß, der tief und reißend war, über den jedoch keine Brücke führte.

»Ach, Kind, sieh' doch die Flut!« rief der Mann verzweifelt und starrte auf den brausenden Strom. »Selbst wenn ich ein Floß bauen könnte, würden wir in die See hinausgetrieben werden, und kein Schwimmer könnte, mit dir im Arm, gegen den Strom schwimmen. Wie bist du nur allein hinübergekommen?«

»Die Liebe half mir,« antwortete Reinheit.

»Ach, mir wird sie nicht helfen,« sagte der Mann. »Ich kenne den Haß besser.«

»Aber du lernst jetzt die Liebe kennen, sonst würdest du mich nicht so freundlich ansehen,« antwortete das Kind. »Glaube nur und komm' ans Ufer.« Es legte seine kleine Hand in die des Mannes, und er umfaßte sie fest; dann schritten sie bis zum Rande des Flusses. Plötzlich durchbrachen silberne Lichter das Dunkel des Wassers; mit jedem Augenblick wurde die helle Linie dichter und fester. Ohne Zögern betrat Reinheit den silbernen Pfad und zog den Mann mit sich. Zu seiner Verwunderung sah er zahllose große Fische, die die Köpfe gegen den Strom richteten, heftig mit den Flossen ruderten und auf diese Weise mit ihren Körpern eine schwimmende Brücke bildeten, über die die beiden sicher hinwegschreiten konnten.

»Tausend Dank, ihr Lieben,« sagte Reinheit, als sie das andere Ufer erreicht hatten, und sogleich brach das Silberband funkensprühend auseinander, und der reißende Strom verschlang die freundlichen Fische.

Der Mann ging stumm vor Staunen neben seiner Führerin her. Von Zeit zu Zeit sang sie ein kleines Lied, und während sie sang, fühlte er, wie das Herz sich ihm weitete, und eine ihm fremde, neue Glücksempfindung in ihm geboren wurde, die ihrem Lied Antwort zu geben schien, obgleich seine Lippen stumm blieben.

Und dann erzählte Reinheit ihm von ihrem König und von den reichen Freuden, die sich unaufhörlich über die ergießen, die einmal ihren Weg in das himmlische Reich gefunden haben, und der Mann hörte eifrig und zugleich demütig zu und klammerte sich an Reinheit, die seine einzige Hoffnung war.

Als die Nacht hereinbrach, wagte er nicht, die Augen zu schließen, aus Furcht, das Kind könne ihm entschlüpfen, aber es lächelte über seine Furcht.

»Ich kann dich nie verlassen, solange du nach mir verlangst,« antwortete Reinheit, »auch möchte ich dich gar nicht verlassen, denn ich liebe dich. Hast du das vergessen?«

Nach diesen Worten legte der Mann sich beruhigt nieder. Das Herz war ihm frei und leicht. Er war weich gestimmt, und das seltsame Wasser, das seine Augen füllte, netzte seine Wangen.

Am Morgen aßen sie Beeren und Früchte; dann setzten sie ihre Reise fort; doch schon nach kurzer Zeit drohte eines der anderen Hindernisse, die Vogel Roc und der Eremit vorausgesagt hatten, ihrer Pilgerfahrt ein Ende zu machen. Es war ein steil abfallender Abgrund, so tief und breit, daß der Mann, als er hinuntersah, vor ihm zurückschauderte. Ehe er Zeit fand, seinen Kummer zu äußern, stand plötzlich ein großer Steinbock neben den Wanderern. Der Mann erschrak heftig, doch als die hellen, wilden Augen des Tieres ihn erspähten, verschwand es so leise und schnell, wie es gekommen.

»Ach, weshalb geschah das?« rief Reinheit. »Hegtest du einen lieblosen Gedanken?«

»Es war ein schöner Bock. Hätte ich nur Pfeil und Bogen gehabt, würde ich ihn erlegt haben!« antwortete der Mann erregt.

»Zu welchem Zwecke?« fragte Reinheit, und ihr verwunderter Blick trübte sich. »Man erreicht das himmlische Reich nicht durch Töten. Wir müssen jetzt warten, bis die Liebe alles Böse ausgetrieben hat.«

Der reuige Mann ließ den Kopf hängen und blickte auf die breite Kluft. »Hätte ich doch nicht den Wunsch gehabt, dieses schöne Geschöpf zu töten,« sagte er, »ich möchte das eigene Leben nicht verlieren, und es ist doch weniger wert, als das des Steinbocks.«

Reinheit lächelte ihm zu und ließ ihre Hand in die seine gleiten; wieder sprang der Steinbock vor ihnen auf, diesmal gefolgt von seinem Weibchen.

Das Kind streichelte sie. »Steig' auf seinen Rücken,« sagte es zu dem Manne und wies auf das größere Tier. Er gehorchte, wenn auch zitternd, während das kleinere Tier niederkniete und das Kind sich auf dessen Rücken setzte.

Die Tiere stiegen mit sicheren Füßen zu einem niedrigeren, vorspringenden Felsstück hinunter, von dem aus sie mit einem Satze die Kluft übersprangen und jenseits den Abhang wieder hinaufkletterten.

»Wir sind euch herzlich dankbar, ihr Lieben,« sagte Reinheit, als die Tiere davoneilten.

Der Mann zitterte. »Ich habe manches Geschöpf Gottes zu meinem eigenen Vergnügen getötet,« stammelte er. »Möge er mir vergeben!«

»Wenn du es nicht wieder tust, vergibt er dir, aber nur dann,« sagte Reinheit

Sie schritten weiter, und der Mann redete ernst und demütig von den Wundern, die sie erlebt hatten.

»Der göttlichen Liebe sind alle Dinge möglich,« antwortete das Kind, »aber nur der göttlichen Liebe.« Ihr Gefährte hörte tiefbewegt zu.

Spät am Nachmittage stießen die Reisenden auf unübersteigbare Klippen, die von einem tiefen Gewässer umspült wurden. Eine glatte Felsenwand, die nirgends einen Halt bot, ragte viele Meter hoch vor ihnen auf.

Der Mann starrte sie schweigend an, und es schien, als ob die Felsenwand dieses Anstarren unerbittlich erwiderte. Seine Gefährtin beobachtete sein Gesicht, das nur stumme Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck brachte.

»Hast du noch – noch keinen Glauben?« fragte sie.

»Ich kann mir nicht vorstellen, wie –,« stammelte der Mann.

»Nein, du kannst dir nicht vorstellen, wie –, aber was schadet das?« fragte Reinheit. »Laß uns jetzt etwas essen,« fügte sie dann hinzu. Sie setzten sich und aßen von den Früchten und Nüssen, die das Kind unterwegs in sein weißes Kleid gesammelt hatte.

Währenddessen hatten ein paar große Adler über ihnen weite Kreise gezogen und ließen sich nun langsam herab.

»Willkommen, ihr lieben Vögel,« sagte Reinheit. »Ihr kennt das himmlische Reich gut, und wir bitten um eure Hilfe, um dahin zu gelangen, denn wir haben keine Flügel, um diese felsigen Abhänge zu überfliegen.«

Die Adler drängten schmeichelnd die Köpfe an die ihnen entgegengestreckten, kleinen Hände, zum Zeichen des Gehorsams, und als Reinheit auf dem Rücken des einen Adlers Platz nahm, kam der Mann ihrem Winke nach und vertraute sich den ausgebreiteten Flügeln des anderen Vogels an.

Höher, immer höher kreisten die Adler, hinweg über den düstern See, über den steilen Fels; weiter und weiter ging der sichere, gleichmäßige Flug, bis die Tiere sich schließlich nach einmaligem Kreisen sanft auf blumenübersätem Boden niederließen.

Der Mann und seine Führerin standen auf einer grünen Wiese, und Reinheit warf den Adlern dankbar Kußhände zu, als diese wieder in die Lüfte stiegen und ihren Blicken entschwanden.

»Dies hier ist ein sehr schönes Land,« sagte der Mann und pflückte eine weiße Blume.

»Ja,« entgegnete Reinheit lächelnd, »jetzt beginnst du, es zu erkennen.«

Frau Evringham schwieg. Juwels Blicke waren unverwandt auf ihre Mutter gerichtet. »Ach, bitte, Mutter, weiter, weiter,« sagte sie.

»Ich denke, ich habe nun genug erzählt,« antwortete Frau Evringham.

»Ach, du mußt zu Ende erzählen. Du kannst es so wunderschön.«

»Vielen Dank, Liebling, aber jetzt ist die Reihe an dir.«

»Jawohl, Juwel,« sagte ihr Vater, »jetzt ist die Reihe an dir.«

»Aber ich glaube, ein kleines Mädchen kann Erwachsenen keine Geschichten erzählen.«

»O ja, an seinem Geburtstage kann es das,« warf der Vater ein.

»Nur weiter, wir hören alle zu; keiner schläft, außer Topas.«

Der Großvater hatte, die Lider halb geschlossen, Juwels gespanntes Gesicht während der ganzen Zeit beobachtet. »Mir scheint, sie haben den schwersten Teil für dich gelassen, Juwel,« sagte er – »den Bericht über den Drachen.«

»Ach nein,« antwortete das Kind geringschätzend, »der Teil ist leicht.«

Der alte Herr zog vor Erstaunen die Augenbrauen hoch. »Wirklich?« fragte er.

Juwel trug ihr seidenes Kleid zu Ehren ihres Geburtstages. Die weißen Bänder, Annabels Geschenk, bauschten sich breit hinter den Ohren. Wie sie da auf dem Korbschemel saß, sah sie nicht aus, wie jemand, der irgendwelche Erfahrung mit Drachen gemacht hatte.

»Nun gut,« sagte sie nach einer Weile, lächelnd zu ihrem Großvater gewandt, und zuckte die Schultern, »soll ich es versuchen?«

»Auf alle Fälle,« entgegnete der alte Herr.

So faltete Juwel die Hände im Schoß und begann mit ihrer hellen, süßen Stimme:

»Als der Mann die Blumen und die schönen Bäume und Bäche ringsumher betrachtete, sagte er: »Dies ist ein schönes Land.«

Und Reinheit antwortete: »Ich bin froh, daß du es jetzt siehst. Du erinnerst wohl, daß ich dir gesagt habe, es ist schön.«

»Damals sprachen wir von dem Tal ›Das nutzlose Bedauern‹,« sagte der Mann, »wenn du das Tal besser gekannt hättest, würdest du es sicher nicht herrlich genannt haben.«

Da lächelte das kleine Mädchen, denn es wußte etwas sehr Schönes, was der Mann noch nicht wußte, aber er sollte es bald erkennen.

Sie wanderten und wanderten durch hübsche Gegenden, und währenddessen erzählte Reinheit dem Manne von dem großen König, – wie liebevoll er sei und was nicht noch alles mehr, – und der Mann hielt ihre Hand und hörte so eifrig zu, wie er nur konnte, denn er fühlte sicher, daß sie ihm die Wahrheit sagte, und das machte ihn froh und rein und sein Herz, das so vertrocknet gewesen war wie eine Feige, war so groß, so groß geworden wie eine Wassermelone und voll von schönen Gefühlen.

»Ich bin glücklich, Reinheit,« sagte er zu der Kleinen.

»Das freut mich,« antwortete sie und drückte ihm zärtlich die Hand, weil sie ihn jetzt lieb hatte, so lieb, als wäre er ihr Großvater.

Sie gingen weiter und weiter, und zuletzt kamen sie in einen Wald, und darin war ein schmaler Weg. Der Mann dachte, sie müßten wohl wieder die Eichhörnchen rufen, als mit einem Mal – Juwel machte eine Pause und sah sich im Kreise ihrer Zuhörer um, deren Gesichter sie in der zunehmenden Dämmerung kaum noch erkennen konnte –, mit einem Mal der Mann dachte, er sähe den Drachen, von dem er so viel gehört hatte, und er zitterte und blieb zurück, aber Reinheit schritt weiter und wunderte sich, was dem Mann wohl fehle.

»Da ist der Drache!« rief er mit der alten ängstlichen Stimme und zog das Kind so heftig zurück, daß es sich nicht bewegen konnte.

Als Reinheit sah, wie er sich fürchtete, streichelte sie ihn. »Ich sehe nichts, nur den herrlichen Wald.«

»Ach, Reinheit, kehr' um, kehr' um, wir können nicht weitergehen,« flehte der Mann, und er starrte noch immer auf etwas zwischen den Bäumen, ganz dicht vor ihnen.

»Was siehst du?« fragte das kleine Mädchen.

»Einen großen roten Drachen mit sieben Köpfen und zehn Hörnern,« antwortete der Mann und zog sie noch weiter zurück und wollte umkehren.

»Aber nein,« rief Reinheit, »schleicht das alte Lügending hier umher und versucht dich zu betrügen? Ich habe davon gehört.«

»Es würde jeden bange machen,« sagte der Mann. »Es hat sieben Köpfe, und mit jedem könnte es uns verschlingen.«

»Ja, das könnte es, wenn es da wäre,« sagte Reinheit, »aber so etwas gibt es gar nicht, und deshalb kann es nicht da sein. Der König des Landes ist allmächtig, und er weiß, daß wir kommen, und er wünscht, daß wir kommen. Hat er uns nicht auf dem ganzen Wege beschützt und uns über alle schweren Stellen geholfen? Müßtest du jetzt nicht wissen, daß wir immer und überall beschützt sind?«

»Hilf, Himmel,« jammerte der Mann, »wir werden nie das himmlische Land erreichen, und das Schloß ebensowenig, und niemals wissen, was wahre Glückseligkeit ist, denn an dem Drachen kann niemand vorbei.«

Reinheit wurde traurig, denn sein Gesicht war so trostlos, und seine Stimme klang wie Weinen. Sie legte den Arm um ihn. »Sei nicht so betrübt,« sagte sie, »alles ist noch ebenso glücklich wie früher. Da ist gar kein Drache. Sag' mir, wo du ihn siehst.«

Der Mann zeigte auf die Wurzel eines großen Baums, der in der Nähe stand.

»Gut,« sagte Reinheit. »Ich will mich gerade vor den Baum hinstellen, bis du aus dem Wald heraus bist, und dann will ich laufen und dich einholen.«

Der Mann bückte sich und umarmte das Kind so zärtlich, als wäre es seine eigene kleine Enkelin.

»Das werde ich nicht tun,« sagte er, »lieber soll der Drache mich auffressen als dich. Lauf' du davon, Reinheit, und ich will bleiben, und wenn er dich zu fassen kriegen will, will ich mich vor ihn hinwerfen. Aber vorher küsse mich einmal, Liebling, weil wir so glücklich zusammen waren.«

Reinheit küßte ihn wieder und wieder, weil sie so froh über seine Güte war. Sie sah in seinen Augen die Tränen, die die Leute besser sehen machen. Sie wußte, was der Mann sehen würde, wenn er sich wieder aufrichtete.«

Die Erzählerin schwieg einen Augenblick; aber keiner sagte ein Wort, obgleich sie die Zuhörer fragend ansah; so fuhr sie denn fort:

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie erstaunt der Mann war, als er aufstand und umherblickte.

»Der Drache ist fort!« sagte er.

»Nein, er ist nicht fort,« sagte Reinheit und sprang vor Freude hin und her. »Er ist nicht fortgegangen, denn er war niemals da!«

» Er ist nicht da!« wiederholte der Mann immer und immer wieder. »Er ist nicht da!« und sah so glücklich aus – o, so glücklich, als wäre sein Geburtstag oder so etwas.

So gingen sie in dem Sonnenschein weiter, und überall blühten die süßesten Blumen, wie er sie nie gesehen hatte, und ein Vogel, der auf einem Baum saß, sang ein neues Lied, das der Mann noch nie gehört hatte.

Sie kamen an einen lieblichen, grünen Berg. »Reinheit, sag' mir,« fragte der Mann, dem plötzlich etwas einfiel, »ist dies das himmlische Reich?«

»Ja,« antwortete Reinheit und klatschte in die Hände vor Freude, daß der Mann das wußte.

Sie schritten weiter, und der Vogelgesang tönte lauter und süßer. »Ich glaube,« sagte der Mann leise, »er singt das Lied von der wahren Glückseligkeit.«

»Das tut er!« sagte Reinheit.

Nachdem sie noch eine kurze Strecke gewandert waren, sahen sie vor sich ein prächtiges Schloß am Fuß des Berges.

»O,« rief der Mann und war so glücklich wie nur irgendeiner, »ist das endlich unser Heim?«

»Ja,« sagte Reinheit, »das ist das Schloß ›Wahre Glückseligkeit‹.«

Der Mann fühlte sich jung und stark und ging so schnell, daß das kleine Mädchen laufen mußte, um mitzukommen. Der Vogel flog ihnen um den Kopf und sang: »Liebe, Liebe, Liebe, wahre Glückseligkeit, wahre Glückseligkeit!«, ganz deutlich sang er das.

Juwel gab den Vogelgesang naturgetreu wieder, dann löste sie die gefalteten Hände. »Mutter,« sagte sie zu Frau Evringham gewandt, »nun erzähl' du die Geschichte zu Ende. Willst du?«

»Ja, gern, ich kenne den Schluß,« antwortete Frau Evringham ruhig und nahm den Faden der Erzählung wieder auf:

»Als der Mann mit Reinheit an das große Tor des Schloßgartens kam, öffnete es sich von selbst, und die Wanderer traten ein. Beim Anblick der sammetgrünen Terrassen kam dem Mann die schöne Gegend plötzlich merkwürdig bekannt vor. Er staunte, dann blickte er finster drein, doch dann lächelte er. Ein helles Licht des Erkennens durchleuchtete sein Bewußtsein.

»Reinheit,« fragte er langsam, »ist dies mein Schloß?«

»Ja,« antwortete sie mit glücklich leuchtenden Augen.

»Und willst du hier zusammen mit mir leben, mein teures Kind?«

»Für immer. Der große König will es so.«

»Aber was – wo – wo ist das Tal ›Das nutzlose Bedauern‹?«

Reinheit schüttelte den Kopf, und ihre klaren Augen lachten. »Es gibt kein Tal ›Das nutzlose Bedauern‹,« antwortete sie.

»Aber ich habe darin gelebt,« sagte der Mann.

»Ja, ehe du den König, unsern Vater, kanntest. Für des Königs Kind gibt es kein nutzloses Bedauern.«

»Dann bin ich – auch ich des Königs Kind?« fragte der Mann erstaunt, aber strahlend, denn er begann, vieles zu verstehen.

»Du auch,« entgegnete Reinheit und schmiegte sich fest an ihn; er umfaßte sie zärtlich, während der Vogel über ihnen klar und lieblich sang: »Liebe, Liebe, Liebe; wahre Glückseligkeit, wahre, wahre, wahre Glückseligkeit.«

+++

Die Erzählerin schwieg. Juwel begriff, daß die Geschichte zu Ende sei. Sie sprang von ihrem Schemel auf und klatschte in die Hände. Dann lief sie auf Herrn Evringham zu und kletterte auf seinen Schoß. Es war inzwischen auf der Terrasse so dunkel geworden, daß sie kaum sein Gesicht sehen konnte. Er nahm sie fest in die Arme und legte ihren Kopf an seine Schulter. »War das nicht entzückend, Großpapa? Dachtest du, daß deine Geschichte so enden würde?«

Er streichelte den blonden Kopf eine Weile schweigend, dann antwortete er mit etwas heiserer Stimme: »Ich hoffte es, Juwel.«

 


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