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7. Kapitel.
Frau Evringhams Geschenke.

Frau Evringham öffnete am nächsten Morgen die Augen mit dem unklaren Gefühle, daß eine große Veränderung stattgefunden habe; aber dann kam ihr schnell zum Bewußtsein, wie glückverheißend die Zukunft vor ihnen lag.

»Vor mir sind grüne Auen!« dachte sie, und ihr Herz füllte sich mit Dankbarkeit.

Ihr Gatte schlief noch; sie erhob sich, ging leise zu Juwels Zimmer hinüber und öffnete behutsam die Tür. Zu ihrem Erstaunen fand sie das Bett leer. Das Bettzeug war abgelegt, und die reine Morgenluft durchflutete das geräumige Zimmer.

Sie ging zurück, um zu sehen, wie spät es sei. Ihr Gatte bewegte sich und öffnete die Augen. Ehe sie sprechen konnte, tönte ein fernes Lachen an ihr Ohr.

Sie lief ans Fenster und lüftete die Jalousie. »Harry, komm' rasch!« rief sie, und er gehorchte schlafbefangen. Die Auffahrt hinunter sahen sie Herrn Evringham und Juwel eben fortreiten.

»Wie lieb sie aussehen, wie lieb!« rief Julia.

»Vater sieht tatsächlich großartig aus,« bemerkte Harry. Den Tag vorher hatte er schließlich doch Essex Maid geritten. Nun verfolgte er das Paar, das sich augenscheinlich mit größter Befriedigung unterhielt, mit scharfem Blick, bis es im Trab zwischen den Bäumen verschwand.

»Wie ist doch alles ideal, geradezu ideal, Harry.« Julia schöpfte tief Atem. »Ich war so überrascht heute morgen beim Aufwachen, als ich mir bewußt wurde, daß dies alles wirklich ist.« Sie sah nachdenklich zu ihrem Gatten hinüber. »Ich bin gespannt, worin meine neue Arbeit bestehen wird!«

»Davon willst du doch jetzt nicht reden, hoffe ich!« antwortete er lachend. »Ich glaube, du wirst zunächst lernen müssen, untätig zu sein. Sitz' nur einmal still und sieh' dir an, was du schon alles geleistet hast.«

»Was denn?«

»Daß ich hier bin, und du hier bist, daß das Wirken der Wahrheit diese Wunder vollbracht hat.« – – –

Nach dem Frühstück wurde Abschied genommen.

»Du bist doch glücklich, Vater?« fragte Juwel zweifelnd, als sie an seinem Halse hing.

»Ich war niemals so glücklich wie jetzt, Juwel,« antwortete er.

Sie wandte sich zu ihrem Großvater mit der Frage: »Wann kommt Vater zurück?«

»Sobald er kann,« lautete die Antwort.

»Du kannst mich nicht vor September gebrauchen, denke ich,« sagte der junge Mann kurz. Er hatte noch immer das halb belustigte, halb verletzte Gefühl, sein Vater hielte ihn für überflüssig.

»Aber September ist fast nächsten Winter,« warf Juwel klagend ein.

Herr Evringham sah seinem Sohne voll in die Augen und freute sich über den geraden Blick, der ihm begegnete.

»Der Hausschlüssel steht dir von heute an zur Verfügung, Harry. Ich möchte in dir das Gefühl erwecken, daß er jetzt dir so gut gehört wie mir.«

Der Sohn antwortete nicht, aber die Art, in der die beiden Herren sich plötzlich die Hände drückten, befriedigte Juwel sehr.

»Und du bist kein bißchen traurig darüber, daß du allein nach Chicago gehst?« fuhr sie ganz zu ihrem Vater gewandt fort und umarmte ihn aufs neue.

»Ich versichere dich, ich war niemals glücklicher als eben jetzt,« erwiderte er, küßte sie und setzte sie nieder, »Willst du mir erlauben, statt deiner heute nach dem Bahnhofe zu fahren?«

»Alles, was du willst, Vater,« sagte Juwel zärtlich. Es tat ihrem kleinen Herzen weh, ihn allein aus diesem glücklichen Familienkreis ausscheiden zu sehen; aber ihre Mutter war guter Dinge, und das beruhigte sie. Seit Frau Evringhams Ankunft waren Mutter und Kind kaum eine Minute allein gewesen. Als sie dem Vater, der sich zum Wagenfenster hinausbeugte, das letzte Lebewohl zugewinkt hatte, stiegen beide zusammen die breite Treppe hinan und standen vor der großen Uhr still, deren Schlag Juwel so vertraut war seit dem trüben Tage, an dem Frau Forbes ihr verboten hatte, diesen Gegenstand je zu berühren.

»Alles hier im Hause ist so vornehm, Juwel,« sagte die Mutter, »es muß dir zuerst sehr seltsam vorgekommen sein.«

»O ja, Annabel und ich fühlten uns draußen viel mehr zu Hause, weil die Wälder doch Gott gehören, weißt du, und der sorgt sich nicht, daß wir etwas zerbrechen könnten, und Frau Forbes war so ängstlich; aber jetzt ist ja alles ganz anders.«

Sie gingen in das Zimmer, wo der kleine Koffer stand, mit dem Frau Evringham sich für ihre eigene Ausrüstung begnügt hatte.

Für viele Kinder ist der Augenblick, in dem die Mutter nach der Rückkehr von einer Reise auspackt, voll freudiger Erwartung auf Geschenke. Hier war es anders, denn Juwel erinnerte sich keiner früheren Reise ihrer Mutter, und ihre Geschenke waren mit Ausnahme von Annabel stets so bescheiden gewesen, daß sie jetzt von dem Schiffskoffer, den ihre Mutter auspackte, nichts Besonderes erwartete.

Jeder Schritt auf dem dicken Teppich, jeder Blick durch die klaren Spiegelglasscheiben auf den Park, jede leichtbewegliche Schieblade, jede unerwartete Bequemlichkeit, wie das elektrische Licht im Wandschrank für dunkle Tage, bestärkten in Julia das Gefühl freudiger Verwunderung. Die andere Frau Evringham, die kurz vor ihr inmitten dieses Luxus hier gewohnt hatte, hatte alles übellaunig, als ihr gebührend, hingenommen; der hohe Spiegel, der jetzt Julias leuchtende Augen widerspiegelte, warf damals ein von Sorgen und Unmut durchfurchtes Antlitz zurück.

»Juwel, ich komme mir hier vor wie eine Königin,« sagte die glückliche Frau leise. »Ich habe schöne Sachen so gern, aber ich habe noch nie in meinem Leben welche besessen. Komm', Liebling, wir müssen die Lektion lesen;« damit schloß sie den Koffer.

»Ja, aber warte, bis ich Annabel geholt habe.« Die Kleine lief in ihr Zimmer und brachte die Puppe; dann sprang sie der Mutter auf den Schoß; in dem großen Stuhl am Fenster war Raum für alle drei.

Unwillkürlich erinnerte sich Juwel der früheren Zustände. »Dies war Tante Magdas Stuhl – hier saß sie gewöhnlich in einem wunderhübschen Spitzenmorgenrock,« begann sie, »ich war nur ein- oder zweimal in diesem Zimmer« – der benommene Ton wurde frei – »aber jetzt wohnt meine eigene Mutter hier, und Cousine Heloise würde sich freuen, wenn sie es hörte, auch darüber, daß ich jetzt ihr Zimmer habe. Ich muß es ihr doch schreiben.«

»Du mußt mich bald mal hinaufbringen und mir das Zimmer zeigen, das du vorher bewohnt hast. Ach, was ist da alles zu besehen, Juwel; werden wir je damit fertig werden?« Frau Evringham sprach in fröhlichem Ton; sie umarmte ihr Kind impulsiv und legte die Wange auf den kleinen Flachskopf. »Liebling,« fuhr sie leise fort, »denk' doch, was die göttliche Liebe für Mutter getan hat, hierher hat sie sie gebracht! Ich habe viel gearbeitet, mein Kleinchen, und wenn mir die göttliche Liebe auch die ganze Zeit über geholfen hat, und ich mich glücklich fühlte, hatte ich doch auch viel Sorgen und fast nie einen Tag Muße, um mal eine Pause zu machen und an etwas anderes als an meine Arbeit zu denken. Ich hatte gemeint, ich müsse mit Vater gleich wieder in das Joch zurück und ich war nicht betrübt, weil ich wußte, Gott führte mich, – aber, Süßes, als ich heute morgen aufwachte,« sie hielt inne, und als Juwel den Kopf hob, sahen Mutter und Kind sich tief in die Augen – »da sagte ich, – du weißt, was ich sagte?«

Als Antwort lächelte die Kleine freudig und begann die bekannte Hymne zu singen. Ihre Mutter fiel mit ihrer Altstimme in die klaren hohen Töne ein, wie sie es seit Jahren gewohnt waren, und voll Inbrunst sangen sie die Worte:

Vor mir sind grüne Auen,
Die vormals ich nicht fand.
Hell muß der Himmel blauen,
Wo Wolkendunkel stand.
Schier endlos ist mein Hoffen,
Mein Lebensweg ist frei,
Gott hält den Schatz mir offen;
Er leitet mich getreu.

Juwel sah glücklich darein.

»Die grünen Auen waren im Bel-Air-Park, nicht wahr, Mama?« sagte sie, »und du hattest sie vormals nicht gefunden.«

»Nein,« erwiderte Frau Evringham sanft, »und eben jetzt ist nicht eine Wolke an unserm blauen Himmel.«

»Vater ist fort,« warf Juwel zweifelnd ein.

»Nur um sich auf seine Rückkehr vorzubereiten. Wie wunderbar ist alles, Juwel!«

»Ja, das ist es. Ich weiß, es macht Gott froh, uns so glücklich zu sehen.«

»Davon bin ich auch überzeugt, und das beste daran ist, daß Vater erkennt, einzig und allein die göttliche Liebe habe dieses Glück zuwege gebracht, wie sie alles wahre Glück bringt, das je in die Welt kommt. Er sieht ein, daß es ihm nur durch die Gotteserkenntnis, die er gewonnen hat, möglich war, in das Haus zurückzukehren, das von Rechts wegen sein ist, in seines Vaters offenes Haus! Vater sieht ein, daß es ein Beweis der göttlichen Liebe ist, und das ist wichtiger als alles andere; denn was immer uns die Wahrheit tiefer erfassen läßt und uns mehr Verständnis von ihrem Wirken verleiht, ist von großem Werte für uns.«

»Hatte denn Großpapa Vater vorher nicht lieb?« fragte Juwel erstaunt.

»O ja; aber Vater enttäuschte ihn, und der Irrtum drängte sich zwischen sie, und daher konnte der Mißklang erst schwinden, als Vater anfing, die Wahrheit zu begreifen und Gott um Hilfe zu bitten. Ist es nicht herrlich, daß es nun so gekommen ist, Juwel?«

»Ich glaube, Mißklang hat nicht viel zu bedeuten, Mutter,« erklärte die Kleine.

»Natürlich nicht,« entgegnete die Mutter, »er ist nichts.«

»Als ich hierher kam, war so vieles, was Großpapa traurig machte, und alle anderen hier waren traurig, – und nun sind sie alle glücklich. Selbst Tante Magda war froh über die schönen Kleider, mit denen sie abreiste.«

»Und eines Tages wird sie auch über andere Dinge froh sein,« sagte Frau Evringham, die schon eine ziemlich klare Vorstellung von ihrer Schwägerin gewonnen hatte. »Heloise hat gelernt, wie sie ihr helfen kann.«

»O ja – ja! Sie fürchtet sich nicht mehr vor Mißklang.«

»Jetzt wollen wir unsere Lektion lesen, mein Liebling. Wie schön, daß es uns nicht an Zeit gebricht!«

Als sie fertig waren, lehnte Frau Evringham sich in dem weiten Stuhl zurück und klopfte Juwel auf das Knie. Dann öffnete sie die Tasche, die neben ihr stand, nahm eine kleine Schachtel heraus und reichte sie der Kleinen, die sie erwartungsvoll öffnete. Ein glänzender kleiner Granatring lag darin auf weißem Sammet.

»O, o, o!« rief Juwel entzückt, probierte den Ring, der genau paßte, und umarmte ihre Mutter, ehe sie ihn noch einmal ansah.

»Liebe, gute, kleine Annabel, wenn du erst ein großes Mädchen bist« – begann sie, »dann,« – aber Frau Evringham unterbrach sie,

»Warte einen Augenblick, Juwel, hier ist etwas für Annabel.«

Damit nahm sie aus einer zweiten Schachtel eine reizende Halskette, an der Steine glänzten, die die drei kleinen Granaten völlig in den Schatten stellten. Juwel wippte vor Vergnügen auf und nieder, als sie die Kette ihrer Puppe um den runden Hals gelegt hatte.

»O Mutter, Mutter!« rief sie und streichelte ihr die Wange, »du hast jeden Tag an uns gedacht, nicht wahr? Gib deiner Großmama einen Kuß, Liebste,« und die stolze, glückliche Annabel tat wie ihr geheißen, und zwar mit einem Eifer, der Frau Evringhams Vorderzähne in Gefahr brachte.

»Ich habe dir noch etwas mitgebracht, Juwel,« sagte ihre Mutter, die Arme um die Kleine geschlungen. »Ja, ich habe jeden Tag an dich gedacht, und auf der Hinreise war mir recht schwer ums Herz, weil ich noch niemals von meiner kleinen Tochter fortgewesen war und nicht genau wußte, wie es ihr erging, nicht einmal die Menschen kannte ich, bei denen sie weilte. Da begann ich, um meine Gedanken von Irrtum freizuhalten, etwas für dich zu arbeiten.«

»Ach, und was war das?« fragte Juwel eifrig.

»Ich konnte es auf der Hinreise nicht ganz beenden und fand dann nicht eher Zeit dazu, bis wir auf dem Schiff waren, das uns zurückbrachte. Da war ich leichteren Herzens und froher, weil ich wußte, daß mein kleiner Liebling »grüne Auen« gefunden hatte, und – ich beendete es; nun weiß ich nicht, wie es dir gefallen wird.«

Juwel sah fragend in die dunklen Augen und auf den lächelnden Mund.

»Was ist es, Mutter; ein Beutel für meine Schlittschuhe?«

»Nein.«

»Ein – ein Taschentuch?«

»Nein.«

»Sag' es mir, Mutter, ich kann es nicht abwarten.«

Frau Evringham ließ die Kleine von ihrem Schoß gleiten, ging auf den Koffer zu und entnahm ihm den einzigen Gegenstand, der noch darin lag. Es war ein langes, flaches Buch mit Pappumschlägen, die hinten mit kleinen Bändern zusammengebunden waren. Als sie sich wieder in dem tiefen Stuhl niedergelassen hatte, stützte Juwel sich auf die Lehne.

»Ist es ein Bilderbuch?« fragte sie voll Interesse.

Ihre Mutter hielt ihr den oberen Umschlag vor die Augen, so daß sie die deutlich darauf geschriebenen Worte lesen konnte:

 

Juwels Geschichtenbuch.

Dann streifte Frau Evringham mit den Fingern den Rand des Buches und ließ die beschriebenen Bogen vor den Augen der entzückten Besitzerin aufflattern.

»Du hast Geschichten für mich geschrieben, Mutter!« rief Juwel.

Die seltenen halben Stunden, in denen ihre vielbeschäftigte Mutter Zeit gefunden hatte, ihr eine Geschichte zu erzählen, waren für sie der Höhepunkt der Freude gewesen.

Ihre Augen strahlten vor Entzücken. »Ach, Mutter, du bist die Allerbeste und Liebste!« fuhr sie fort, »und jetzt hast du auch Zeit, sie mir vorzulesen! Annabel, wird das nicht herrlich? Wir wollen in die Schlucht gehen und sie da lesen, nicht wahr, Mutter?«

Frau Evringham stieg eine warme Röte in die Wangen. Sie lächelte glücklich über des Kindes Freude. »Hoffentlich werden sie dich nicht enttäuschen,« sagte sie.

»Aber du hast sie doch aus Liebe geschrieben. Wie könnten sie dann wohl?«

»Das ist wahr, Juwel; das ist wahr, mein Liebling.«


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