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Nach jenem Tage, an dem die Familie Evringham gemeinsam an der geschützten Seite der Sanddüne die Geschichte von Johnnie und Fips gelesen hatte, dauerte es eine Weile, ehe die letzte Erzählung in dem Geschichtenbuch an die Reihe kam.
Das Landhaus, in dem sie wohnten, lag in der Nähe eines Teiches, der während einer Verschiebung der Dünen durch das Einströmen des Meerwassers entstanden war. Hier hatte Juwel noch einen zweiten Wasserplatz zum Spielen.
»Ich hoffe sehr,« sagte an dem ersten Morgen Herr Evringham nachdenklich, als er mit Juwel an dem grünen Ufer stand, »ich hoffe sehr, daß die peinlich ordentliche Haushälterin Natur diesen Teich unbehelligt lassen wird, bis wir fortgehen!«
Juwel sah in sein ernstes Gesicht; er hatte die Stirne krausgezogen.
»Diesen großen Teich würde sie doch nicht anrühren, glaubst du das?«
»Ha, sicher, was glaubst denn du?«
»Aber sie ist im Sommer in den Schluchten und anderwärts viel zu beschäftigt,« warf Juwel ein und begleitete ihre Worte mit dem bekannten Achselzucken.
»Oh,« Herr Evringham nickte, »die Natur besorgt alles.«
»Großpapa!« rief Juwel, und ihre Augen leuchteten, »könnte sie wohl dem Sommer befehlen, diesen großen Teich anzurühren? Weshalb sollte sie das wohl tun?«
»Wahrscheinlich des Reinmachens wegen.«
Die Kleine lachte in sich hinein, als sie über die blauen Wellen blickte, die der Wind bewegte und hier und dort mit weißen Schaumkrönchen schmückte. »Du weißt doch; er wird immerfort gereinigt,« antwortete sie. »Eben jetzt scheuern die Wogen ihn rein; kannst du es nicht sehen?«
»Ja,« nickte der Makler ernst, »deshalb braucht sie ihn wohl nicht so oft rein zu machen. Manchmal läßt sie ihn auch auf längere Zeit in Ruhe; aber dann besinnt sie sich eines Tages und berechnet, wieviel Bodensatz auf dem Grunde des Teiches liegt; schließlich sagt sie: »Jetzt ist es Zeit; jetzt muß das Wasser heraus.«
»Aber, wie kann sie es herausholen?« fragte Juwel höchst interessiert. »Jeder Bach läuft irgendwo hin; das tut der Teich doch aber nicht. Wie kann sie ihn ausschöpfen? Die heißeste Sommersonne würde ein Jahr dazu gebrauchen!«
»O ja, dazu ist die Natur viel zu klug; die Winde sind ihre Diener, weißt du, und sie verstehen ihr Geschäft gründlich. Wenn sie also sagt, der Teich da muß reingemacht werden, läßt sie einen Sturm ausbrechen in der Nacht, wenn alle Leute zu Bett gegangen sind. Die haben den Teich schön und voll gesehen, als die Sonne unterging. Die ganze Nacht heult der Wind; die Fenster klappern und die Bäume neigen sich. Wenn die Bewohner des Landhauses, anstatt im Bett zu liegen, sich drüben am Strande befänden,« – der alte Herr deutete mit der Hand nach dem glänzenden weißen Sand, der trotz der weiten Entfernung deutlich sichtbar war, – »dann würden sie zahllose Wellen sich rastlos mühen sehen, einen Durchgang durch den festen Sand zu wühlen. Der Wind schickt eine mächtige Woge nach der andern, um ihnen zu helfen, und wenn eine Riesenwelle sich bricht und zurückfließt, zerren alle die kleinen Wellen mit voller Gewalt an dem weichgewordenen Sand, bis nach Stunden unentwegter Arbeit der Durchbruch von der See zum Teich vollständig gemacht ist.«
Herr Evringham bemerkte, daß die Kleine ihn aufmerksam ansah.
»Aber weshalb, weshalb?« fragte Juwel, »füllt sich der Teich, wenn die großen Wogen heranbrausen, nicht noch mehr als vorher?«
Der alte Herr legte den Zeigefinger an die Nase. »Ah–h! dazu ist die Natur viel zu klug; wenn sie auch keine Hochschule besucht hat, so versteht sie trotzdem das Ingenieurfach. Es vollzieht sich alles gerade in dem richtigen Augenblick, wenn die Ebbe mit mächtiger Hand an dem Teiche zerrt, und nun kannst du dir vorstellen,« er machte eine Kunstpause, – »was geschieht, wenn der tiefe Durchbruch fertiggestellt ist.«
»Muß der Teich dann auslaufen, Großpapa?«
»Das muß er, und zwar schleunigst.«
»Ob es ihm leid tut? Was meinst du?« fragte Juwel zweifelnd.
»Das mag sein. Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht; aber du kannst dir die Gefühle der Leute im Landhaus vorstellen, die abends vor dem Schlafengehen noch den lächelnden kleinen See gesehen haben und beim Erwachen stattdessen eine fast leere schlammige Mulde vorfinden.«
Juwel überlegte und seufzte tief: »Nun, hoffentlich wartet die Natur, bis wir fort sind; ich habe diesen Teich so gern.«
»Das hoffe ich auch, denn das leere Teichbett würde für keinen angenehm sein.«
Juwels nachdenkliche Miene hellte sich auf, »nur für die kleinen Fische und Wassertiere, die in die See hineingetrieben werden, für die wäre es ein Spaß. Würden sie nicht sehr überrascht sein, wenn sich das ereignete, Großpapa?«
»Das sollte ich meinen; glaubst du, der Wind warne sie vorher, oder ließe ihnen Zeit zum Packen?«
Juwel lachte. »Ich weiß nicht; aber stell' dir vor, ganz plötzlich direkt aus diesem ruhigen Teiche heraus in die großen Wellen hineinzukommen.«
»Hm, es scheint beinahe so zu sein, als wenn man von Bel-Air-Park direkt nach der Wallstraße kommt.«
Juwel wurde ernst. »Ich denke mir, Fische führen ein sehr lustiges Leben,« sagte sie, »weißt du, Großpapa, wenn ich nicht deine kleine Enkelin wäre, möchte ich am liebsten ein Hummer sein.«
Der Makler warf den Kopf zurück und lachte laut auf. »Einige Kinder könnten wohl beides vereinen, aber du nicht.«
»Was?« fragte Juwel.
»Nichts. Warum möchtest du nicht lieber ein Fisch sein; Fische sind doch viel zierlicher in ihren Bewegungen!«
»Aber sie können nicht zwischen den Korallen herumkriechen und in die Austernschalen hineinäugen, um nach Perlen zu suchen.«
»Stell' dir einen äugenden Hummer vor!« Dabei riß Herr Evringham die Augen auf, so weit er konnte, und stierte Juwel so seltsam an, daß sie herzlich lachen mußte.
»Gerade so sehen die Sandflöhe aus,« rief sie.
»Ich denke,« sagte der alte Herr und nahm wieder seinen gewohnten Gesichtsausdruck an, »du tust am besten, ein kleines Mädchen zu bleiben. Dann kannst du bei Tiffany zwischen den Korallen herumkriechen und nach Perlen äugen.«
»Wer ist Tiffany?«
»Jemand, für den du dich mehr interessieren wirst, wenn du älter bist,« antwortete er kopfschüttelnd. »Der Unterschied liegt nur darin, daß der Hummer die Korallen und Perlen gar nicht tragen mag.« – – Nach einer Pause fügte er dann hinzu: »Manchmal überkommt mich ein schrecklicher Gedanke, Juwel.«
Das Kind sah ernsthaft zu ihm auf und erwiderte schnell: »Den kann man bekämpfen.«
Herr Evringham lächelte. Allmählich hatte er ihre eigenartigen Ausdrücke verstehen gelernt: »Ich glaube kaum,« antwortete er, »es ist der Gedanke daran, daß du bald erwachsen sein wirst.«
Juwel sah auf die blaue See hinaus und erwiderte hoffnungsvoll: »Du bist doch erwachsen; siehst du, vielleicht hast du mich dann ebenso gern, wie ich dich jetzt gern habe!«
Er drückte ihr zärtlich die Hand: »Hoffen wir es.«
»Und außerdem, Großpapa,« fuhr sie fort, denn sie hatte ihn dieselbe Befürchtung schon einmal aussprechen hören, »werden wir ja täglich zusammensein, und du wirst vielleicht gar nicht merken, daß ich größer werde. Ich habe manchesmal versucht, es sehen zu können, wie eine Blume sich öffnet. Ich wußte, daß sie sich öffnen würde, und ich habe alles getan, um zu sehen, wie sie es tut; ich habe gewartet und gewartet, aber niemals konnte ich es sehen, wenn die Blätter sich entfalteten. So sehr ich auch aufpaßte, es half mir nichts, und doch wurde aus der Knospe eine Blume. Vielleicht wird jemand eines Tages zu dir sagen: ›Siehmal an, Juwel ist jetzt eine erwachsene Dame geworden.‹ Und dann wirst du antworten: ›Ist sie das wirklich? Wieso denn, ich habe es gar nicht bemerkt.«
»Das ist ein tröstlicher Gedanke,« meinte Herr Evringham kurz.
»Also, wenn der Teich nicht ausläuft, dann wollen wir recht viel Spaß daran haben,« fuhr Juwel erleichtert fort, »die Wirtin hat mir gesagt, wir könnten dieses Boot zum Rudern nehmen.« Sie zog die Schultern hoch und lächelte.
»Hm,« sagte er, »gleichzeitig eine Ruderpartie und ein Bad! Ich bin erstaunt, daß sie nichts Besseres haben, als dieses wackelige Boot. Du wirst es ausschöpfen müssen, wenn wir es benutzen wollen.«
»Was heißt ausschöpfen?«
»Das Wasser mit einer Kelle herausnehmen.«
»Das wird spaßig; das kann ein Abenteuer werden, Großpapa, meinst du nicht auch?«
»Ich hoffe nicht,« war die ernste Antwort; aber Juwel saß schon im Grase und zog Schuhe und Strümpfe aus; dann kletterte sie gewandt in das nasse Boot. Herr Evringham stieg ihr behutsam nach und suchte sich die trockenen Stellen aus, um seine Segeltuchschuhe nicht zu beschmutzen.
»Ich denke,« sagte das Kind fröhlich, als sie abstießen, »wenn der Wind und die Wellen sehen, wieviel Spaß wir von dem Teiche haben, werden sie ihn in Ruhe lassen, nicht wahr?«
»Wenn sie überhaupt ein Herz haben,« entgegnete Herr Evringham und legte sich in die Ruder.
»Großpapa, du kannst großartig Geschichten erzählen!« rief Juwel voll Bewunderung aus.
»Das ist mir schon öfter gesagt worden,« erwiderte der Makler bescheiden.
+++
Als die Familie Evringham eines Tages wegen anhaltender Regengüsse auf Vergnügungen im Freien verzichten mußte, wurde Juwels Geschichtenbuch hervorgeholt und zum Zeitvertreib die letzte der darin enthaltenen Erzählungen gelesen.
Der kleine Kreis versammelte sich in dem Wohnzimmer und die Frage, ob Herr Evringham dabei sein sollte, kam gar nicht erst zur Erörterung.
»Heute gibt es keine Auswahl mehr,« bemerkte Frau Evringham, »wir werden uns wohl alle einig sein über die Geschichte, die wir hören wollen!«
»Laß trotzdem Annabel doch noch einmal wählen,« bat Juwel, »weil sie nicht so viel Vergnügen hat wie wir; sie hat die erste ausgesucht und soll auch die letzte auswählen.« Sie drückte die Puppe zärtlich an sich und küßte sie tröstend auf die Backen. In der letzten Zeit hatte Annabel tatsächlich nicht alle Ausflüge mitgemacht. Sie ging aber jeden Abend mit Juwel zu Bett, und es kam nur selten vor, daß das Kind zu schläfrig war, um ihr alle Ereignisse des Tages anzuvertrauen. Da Annabel seßhafter Natur war und am Tage gern träumte, schien sie ganz zufrieden zu sein.
Herr Evringham setzte sich in einem großen bequemen Lehnstuhl zurecht, die Leserin in einem kleineren, der am Fenster stand; Juwel saß auf dem Fell vor dem Kamin und hielt Annabel im Arm.
»Nun können wir anfangen,« sagte Herr Evringham.
»Schlafen Sie nur ruhig ein, wenn Sie wollen, Vater,« bemerkte die Verfasserin lächelnd, und dann begann sie zu lesen:
St. Valentin.
An einem Februartage gab es in Fräulein Joslyns Schulzimmer ein erregtes Geflüster, denn eine neue Schülerin war angekommen. Der Ankömmling war ein kleines Mädchen mit großen, staunenden Augen. Ihr Aussehen und ihre Kleidung waren nur einfach; sie trug eine hoch am Hals geschlossene Kattunschürze mit langen Ärmeln.
»Setz' dich hierher, Alma,« sagte Fräulein Joslyn, und das kleine Mädchen gehorchte. Ada Singer, die hinter ihr sitzende Schülerin, stieß ihre Freundin Luzie Berry an und machte sie auf die Art der Fremden, verwundert im Raum umherzusehen, aufmerksam, indem sie ihre Bewegungen nachahmte.
Der erste Tag in der Schule ist eine Feuerprobe für die meisten Kinder; aber Alma fühlte weder Furcht noch Scheu. Sie sah sich sehr befriedigt in ihrer neuen Umgebung um, und dieses unschuldige Vergnügen belustigte Ada sehr.
»Sieht sie nicht komisch aus?« fragte sie, als sie in der Pause mit Luzie im Garderobenzimmer auf der Fensterbank saß, wo sie immer ihr Frühstück zusammen verzehrten.
»Ja, sie hat so große Augen,« bemerkte Luzie, »wer ist sie?«
»Ihre Mutter hat gerade angefangen, in Vaters Fabrik zu arbeiten. Ihr Vater ist tot oder im Gefängnis oder sonstwo.«
»O nein,« rief eine Stimme, und als die beiden von ihrem hohen Sitz hinuntersahen, stand Alma Driscoll mit hochroten Backen vor ihnen, eine große Blechdose in der Hand. »Mein Vater ging fort, um eine Anstellung zu suchen, aber er kommt zurück.«
Ada zuckte die Schultern und biß ein Stück von ihrem Obstkuchen ab. »Wie wenig Appetit du haben mußt,« sagte sie mit einem Seitenblick auf Luzie und deutete auf die große Blechdose.
»Ach, sie ist nicht voll, sie paßt nicht gut als Butterbrotdose, aber wir hatten nichts anderes,« entgegnete Alma und nahm den Deckel ab; ein kleines Päckchen Butterbrot wurde sichtbar. Damit setzte sie sich auf den Boden im Zimmer und fing an zu essen.
»Sieh' mal einer an, ist das nicht dreist?« rief Ada und sah auf die unscheinbare Gestalt herab.
Alma blickte sanft auf. Sie war in das Garderobenzimmer gekommen, um ihr Frühstück dort zu essen, wo sie Luzie Berry betrachten konnte, die ihr mit den braunen Augen, den roten Backen und dem weichen Kaschmirkleid sehr schön erschien. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie lästig sein könnte.
Ada kräuselte die Lippen und fragte Luzie: »Wäre es dir nicht auch peinlich, das fünfte Rad am Wagen zu sein?« Das klang so anzüglich, daß selbst Alma es verstehen mußte. Tränen traten ihr in die Augen. Sie legte ihr Brot in die Dose zurück und suchte einen einsamen Winkel auf; sie war so gekränkt worden, wie noch nie.
»Ach, warum hast du das gesagt, Ada,« rief Luzie und machte eine Bewegung, als wollte sie von der Fensterbank hinunterspringen und der Kleinen nacheilen.
»Daß du ihr nicht einen Schritt nachgehst, Luzie,« befahl Ada. »Meine Mutter wünscht nicht, daß ich mich mit den Kindern der Fabrikleute abgebe. Sie wird genug Freundinnen finden, die zu ihr passen.«
»Aber du hast ihr wehgetan,« entgegnete Luzie.
»Ach nein, das glaube ich nicht,« sagte sie sorglos, »und wenn ich es auch getan hätte, wird sie es rasch vergessen; ich mußte sie doch merken lassen, daß sie nicht bei uns bleiben konnte; möchtest du, daß eine Fremde, wie sie, alles hört, was wir uns erzählen?«
»Ich möchte ihr doch lieber nachgehen und sehen, ob sie jemand gefunden hat, mit dem sie zusammen frühstücken kann.«
»Schön, Luzie, wenn du zu ihr hältst, kann ich nicht mit dir gehen; das steht fest. Du kannst ja wählen.«
Der bestimmte Ton, in dem Ada sprach, nahm Luzie den Mut. Die kleinen Mädchen hielten sehr viel voneinander, und Luzie stand ganz unter dem Einfluß von Adas starkem Willen.
Ada war ein sehr anziehendes kleines Wesen. Ihr Vater war Fabrikbesitzer und der reichste Mann der Stadt; auf Adas wundervollem Klavier zu spielen, an dem man nur mit den Füßen zu treten brauchte, um die lustigste Musik hervorzuzaubern, oder mit ihr im Automobil zu fahren, waren anregende Vergnügungen für ihre Freundinnen. Sie hatte immer Geld in der Tasche und ganze Schachteln voll Süßigkeiten für andere; Luzie war stolz darauf, Adas intimste Freundin zu sein. Als es sich darum handelte, zwischen dieser glänzenden Gefährtin und der ärmlich gekleideten Tochter einer Fabrikarbeiterin zu wählen, schwanden Luzie Berrys Mut und Teilnahme, und sie sank auf den Fensterplatz zurück, während Ada anfing, von etwas anderem zu reden.
Dieser erste Schultag, den Alma Driscoll ohne den liebevollen Schutz ihrer Mutter verbrachte, war ihre Einführung in die Welt. Die Kleine hatte sich niemals so einsam gefühlt, wie in der Umgebung dieser Mädchen, von denen jede ihre intime Freundin hatte, so daß sie sich überflüssig fühlte. Sie konnte nicht umhin, allmählich zu empfinden, daß sie anders war als ihre Mitschülerinnen, und von Tag zu Tag blickten ihre Augen scheuer und trüber. Sie mied die Kinder außerhalb der Schulstunden und verbarg ihrer Mutter tapfer, daß die Kattunschürze, die immer ihr verblichenes Kleid verdeckte, ihr ein Zeichen der Entwürdigung zu sein schien, das sie von den gutgekleideten Schulgefährtinnen trennte.
So lagen die Dinge, als der St. Valentinstag anbrach. Für Alma waren die zwei Schulwochen von endloser Dauer gewesen; an diesem Tage aber fühlte sie, daß etwas Ungewöhnliches in der Luft lag, und sie ließ sich von der freudigen Erregung mitreißen. Sie wußte, wofür der große, weiße Kasten an der Tür bestimmt war. Als Fräulein Joslyn nach der Schule ihres Amtes walten wollte, die Valentinkarten auszuteilen, folgte Alma unwillkürlich den Schülerinnen, bis sie, dicht an Luzie Berrys Seite gedrängt, im Mittelpunkt der fröhlichen Gruppe stand. Während die zierlichen Kuverte herumgereicht wurden, machte Alma ein nachdenkliches Gesicht und preßte die Hände fest an die karierte Schürze, als ob sie befürchtete, sie möchten sich sonst nach den schönen Karten ausstrecken, die so verlockend in Rot und Blau, in Gold und Silber glänzten. Plötzlich rief Fräulein Joslyn ihren Namen auf – »Alma Driscoll«, d. h., sie sagte »Fräulein Alma Driscoll« und wirklich, es war kein Irrtum, sie hatte es von einem Kuvert, das mit Weinranken verziert war, abgelesen.
»Ist dir je so etwas Dummes vorgekommen,« rief Ada Singer, als sie sah, wie Alma halb scheu, halb eifrig ihre Valentinkarte nahm und den Umschlag öffnete.
Wie glücklich schlug ihr das Herz! Arme kleine Alma! Doch wie wurde ihr zu Mute, als sie das gewöhnliche, grelle Bild einer Näherin sah, mit einem häßlichen Vers darunter. Sie ließ die Karte fallen, stieß einen tiefen Seufzer der Enttäuschung aus; Tränen traten ihr in die Augen. Sie drängte sich durch die Kinderschar und stürzte aus dem Zimmer.
»Was soll das bedeuten?« fragte Fräulein Joslyn.
Als Antwort händigte ihr eines der Kinder das Bild ein. Die junge Dame sah es an, riß es in Stücke und blickte betrübt im Kreise ihrer Schülerinnen umher.
»Wer das geschickt hat, weiß, daß Almas Mutter in der Fabrik arbeitet. Ich schäme mich meiner ganzen Schule, wenn ich mir denke, daß eine meiner Schülerinnen so boshaft sein konnte, das zu tun.« Damit trat Fräulein Joslyn aus der Mitte der Kinder, die bestürzt schwiegen, ließ den halbgeleerten Kasten stehen und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, nach Hause.
»Wieviel Lärm um nichts,« sagte Ada Singer, »und was für eine Idee, zu heulen, weil sie eine ulkige Karte bekommen hat. Was konnte Alma Driscoll denn anderes erwarten?«
Die Röte auf Luzie Berrys Backen hatte sich während dieser Szene mehr und mehr vertieft. Jetzt wandte sie sich an Ada.
»Sie hatte ein Recht, etwas ganz anderes zu erwarten,« entgegnete sie erregt, »aber wir sind alle so gehässig gegen sie gewesen, daß es ein Wunder ist, wenn sie überhaupt eine Karte erwartet hat. Ich wollte, ich wäre schon früher gut gegen sie gewesen,« fuhr sie fort, und die Erinnerung an die einsame, kleine Gestalt mit der großen, leeren Frühstücksdose schmerzte sie; »aber jetzt will ich ihre Freundin sein, für immer, und ihr könnt unsere Freunde sein, wenn ihr wollt, oder auch nicht, wie es euch paßt.« Damit wandte sich Luzie Berry von der erstaunten Ada ab und verließ das Schulzimmer. Luzie fürchtete, weinen zu müssen, wenn sie noch länger bliebe, und sie war überzeugt, daß ihr zuverlässiger Freund Frank Morse etwa noch an sie gerichtete schöne Karten für sie aufbewahren würde. Zwischen denen, die sie schon bekommen hatte, war eine, die seine Handschrift trug, und die sie beim Fortgehen betrachtete.
»Eine hübschere habe ich nie gesehen,« dachte sie, als sie eine Rose und eine Gruppe Engelsköpfe zurückklappte, um die zärtlichen Grüße darunter zu lesen.
»Ich weiß, was ich jetzt tue,« rief sie laut, »ich will sie Alma schicken; Frank wird es auch recht sein. Damit legte sie die Karte in das Kuvert zurück und fing an zu laufen. An der nächsten Ecke rannte sie mit jemand zusammen, der in gleicher Eile von der entgegengesetzten Richtung kam.
Wäre gerade ein Dritter vorübergegangen, so hätte er sich an dem Anblick eines Knaben und eines Mädchens belustigen können, die auf der Erde saßen, sich die Köpfe rieben und sich gegenseitig überrascht anstarrten.
»Luzie Berry!«
»Frank Morse!«
»Was ist vorgefallen?«
»Nichts, hingefallen ist etwas, und das bin ich.«
»Bitte, entschuldige,« sagte Frank, »ich wette, du hast nicht mehr Funken sprühen sehen als ich. Ich mach' mir nichts mehr aus dem Vierten 4. Juli: Erinnerungstag an die nordamerikanische Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1776., denn ich habe so viel Feuerwerk zu sehen bekommen, daß ich für ein Jahr genug davon habe.«
Beide Kinder lachten. »Du hast Schneid, Luzie,« fügte Frank hinzu, indem er hochsprang und ihr aufhalf, »die meisten Mädchen würden jetzt geheult haben.«
»Ich nicht,« sagte sie, »ich bin viel zu aufgeregt.«
»Ja, was ist denn los,« drängte Frank, »ich bin aus der Nebentür geschlüpft, um dir entgegenzulaufen.«
»Na, das ist dir gelungen,« lachte Luzie. »Ach, Frank, ich weiß gar nicht, wie ich lachen kann, ich verdiene es gar nicht.«
»Was gibt es denn? Handelt es sich um das kleine Driscollkind? Sie weinte. Ich war im Hintergrund und hörte nicht, was Fräulein Joslyn sagte, aber ich sah ›Großauge‹ hinausgehen und dich hinterher, und da dachte ich, ich wollte auch nach dem Feuer laufen, wenn es brennte.«
»O ja, es brennt,« gestand Luzie, »hier drinnen brennt es.« Sie legte die Hand auf das klopfende Herz.
Frank Morse war älter als sie und Ada, und sie wußte, daß er einer von den wenigen ihrer gemeinsamen Freunde war, auf dessen gute Meinung Ada etwas gab. Ihn für Alma zu gewinnen, würde sehr wichtig sein.
»Ist Ada noch dort?« fragte sie.
»Ja, sie übernahm das weitere Austeilen der Karten, nachdem Fräulein Joslyn fortgegangen war.«
»Ach, Frank, meinst du, daß sie Alma die häßliche Karte geschickt haben könnte?« Luzies Stimme bebte vor aufrichtigem Kummer.
»Na, wenn auch,« entgegnete Frank. »War es das, worüber »Großauge« weinte? Ich hasse es, wenn man empfindlich ist und gleich bei jeder Kleinigkeit heult.«
»Du weißt nicht alles. Ihre Mutter arbeitet in der Fabrik, und dies war ein häßliches Bild, das sie verspotten sollte. Stell' dir vor, deine eigene Mutter verdiente sich ihren Unterhalt selbst und würde deswegen verhöhnt.«
»So etwas würde Ada nicht tun,« antwortete Frank kurz, »was hat dich auf den Gedanken gebracht?«
»Es war wohl ein Irrtum, das zu sagen,« seufzte Luzie, »ich habe manches Irrtümliche getan, seitdem Alma in unserer Schule ist. Frank, du bist doch auch ein Christlicher Wissenschafter, du mußt mir helfen, alles wieder gutzumachen.«
»Man braucht kein Christlicher Wissenschafter zu sein, um einzusehen, daß es keine anständige Handlung war, dem armen Würmchen solches Bild zu schicken.«
»Nein, ich weiß; aber zuerst, als Alma kam, sagte Ada, ihre Mutter erlaubte ihr nicht, sich mit den Fabrikkindern abzugeben, und daher wagte ich nicht, mit Alma freundlich zu sein; ich stand so sehr unter Adas Einfluß, Frank.«
Der Knabe lächelte. »Denkst du an die Geschichten, die deine Mutter uns über das Wirken der Irrtumskobolde erzählte?«
»Jawohl, ich habe in dieser letzten Viertelstunde immer daran denken müssen. Seit vierzehn Tagen habe ich nichts anderes getan, als den Irrtumskobolden Rückgrat gegeben; ach, und es soll mir einerlei sein, was für mich daraus folgt, oder welche Strafe ich dafür bekomme, wenn ich nur wieder das Rechte tun kann.«
»Wer sollte dich denn strafen?« fragte Frank, der den Gefühlsausbruch nicht recht verstand.
»Ada. Wir haben zusammen immer so viel Vergnügen gehabt, und nun ist alles vorbei.«
»Ach, das denke ich nicht; Ada Singer ist viel zu vernünftig.«
Luzie war anderer Meinung. Sie hegte die Überzeugung, daß ihre Freundin der armen Alma diese Lieblosigkeit angetan hatte, und gerade der Schreck über diese Entdeckung verursachte ihr so viel Kummer.
Frank und Luzie unterhielten sich hierüber noch einen Augenblick länger und verabredeten, daß der erstere nach der Schule zurückgehen sollte, um die Karten zu holen, die vielleicht noch für Luzie und ihn vorhanden sein könnten. Dann wollten sie, wenn es dunkelte, mit einem Geschenk zu Driscolls laufen.
Spät an diesem Nachmittage fanden im Städtchen zwischen drei Müttern und drei kleinen Töchtern drei Unterredungen statt. Luzie Berry stürmte in das Zimmer ihrer Mutter, die mit einer Näharbeit beschäftigt war.
»Ach,« rief sie, »ich bin so betrübt, Mutter.«
»Dann mußt du dich darauf besinnen, weshalb du es nicht zu sein brauchst,« antwortete Frau Berry; aber ein Blick auf das erhitzte Gesicht der Kleinen veranlaßte sie, ihre Arbeit beiseite zu legen.
Luzie setzte sich auf den Schoß ihrer Mutter, – sie hielt sich sonst eigentlich zu groß dafür, – legte die Arme um ihren Hals und beichtete die ganze Geschichte.
»Und zu denken, daß Ada so etwas tun konnte,« schloß Luzie mit einem tiefen Seufzer.
»Sei vorsichtig, sei vorsichtig; du weißt nicht, ob sie es tat; du sollst nicht falsch Zeugnis reden.«
»Ach, ich hoffe so sehr, daß sie es nicht getan hat,« erwiderte Luzie, »aber Ada ist hochmütig; ich habe das in der letzten Zeit immer mehr eingesehen.«
»Und wie ist es mit dem Balken im Auge meines Töchterchens?« fragte Frau Berry sanft.
»Habe ich dir nicht alles gestanden? Ich bin so selbstsüchtig und feige gewesen, wie ich nur sein konnte,« flüsterte Luzie voll Verzweiflung.
»Ich glaube, da ist noch ein Balken; ich glaube, du bist böse auf Ada.«
»Was kann ich dafür. Wenn ich nicht auf sie Rücksicht genommen hätte, wäre ich nicht so schlecht gewesen.«
»Ach, liebe Luzie,« sagte Frau Berry und streichelte den Kopf, der an ihrer Schulter lag, »da ist der alte Adam wieder, der einen anderen für seinen Fall verantwortlich machen möchte. Hast du vergessen, daß es nur eine Person gibt, an der du das Recht hast, zu arbeiten und sie umzuwandeln?«
»Es ist mir einerlei,« rief Luzie heftig. »Ich habe Böses gut geheißen; das habe ich getan. Ich habe Ada gut genannt und zu ihr gehalten. Ich habe ihr erlaubt, mich zu beeinflussen.«
»Geschah es, um etwas von ihr zu haben, oder um etwas für sie zu tun?« fragte Frau Berry.
Luzie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie: »Sie brauchte mich; sie mochte mich lieber, als alle anderen.«
»Siehst du nun, was aus selbstsüchtigen Beziehungen werden kann?« antwortete Frau Berry. »Erinnerst du dich der Lehre von der Wertlosigkeit der Liebe, die aus dem sterblichen Bewußtsein hervorgeht? Hier seid ihr beide, du und Ada; gestern dachtet ihr, ihr liebtet euch, und heute seid ihr in Feindschaft.«
»Ich will jetzt mit Alma Driscoll gehen; ich will mein Frühstück zusammen mit ihr essen und alles! Ich sollte denken, das wäre dann selbstlos.«
»Vielleicht wäre es das. Wir werden ja sehen. Ist es dir nicht schon ein kleiner Trost zu denken, daß es für Ada eine Strafe sein wird, es mitanzusehen?«
»Ich weiß nicht,« sagte Luzie zögernd in dem Bestreben, ehrlich zu sein.
»Nein? Dann denke darüber nach, bis du es weißt und überzeuge dich, ob es ganz liebevolle Gedanken sind, die dich dazu leiten. Du weißt doch, mein Liebling, für uns alle ist in Zeiten der Aufregung die Versuchung sehr groß, am verkehrten Ende anzufangen, das heißt, mit uns selbst anzufangen, statt mit Gott. Der alliebende Schöpfer von Ada, Alma und dir hat drei liebe Kinder geschaffen, von denen ihm eines eben so lieb ist wie das andere. Wenn die Lieblichkeit seiner Schöpfung durch irgend etwas Disharmonisches verborgen wird, so müssen wir das Störende forträumen, und nur unser eigenes Bewußtsein ist es, an dem wir zu arbeiten berechtigt sind. Damit ist allen geholfen. In der Bibel steht: ›Wenn Gott Frieden gibt, wer will verdammen?‹ Du kannst jetzt Ruhe finden in dem Gedanken an Gottes Frieden; dann wirst du ihn widerspiegeln.« Frau Berry schwieg und setzte ihren Schaukelstuhl in Bewegung.
»Du verstehst schon genug von der Christlichen Wissenschaft,« fuhr sie nach einer Pause fort, »um zu wissen, daß wochenlanges Beleidigtsein gegen Ada keine andere Wirkung haben würde, als in ihr den Wunsch zu erwecken, dich zu strafen. Du weißt, daß Liebe durch Liebe widergespiegelt wird, und daß ihr Gegenteil ebenso sicher widergespiegelt wird, wenn man Gottes Wahrheit nicht kennt.«
»Aber du sagst gar nichts über Alma,« warf Luzie ein, »und sie ist doch die Hauptperson.«
Frau Berry lächelte. »Nein,« entgegnete sie sanft, »du bist die Hauptperson. Sobald dein Denken nur ganz richtig ist, wirst du gleich wissen, daß dein himmlischer Vater dir zeigen wird, wie du diese kleine Verwicklung lösen kannst. Denke daran, daß Irrtum nicht persönlich ist, ob er sich nun an Ada oder an dich zu heften scheint.«
Luzie richtete sich auf; die Backen waren noch gerötet, aber die Augen hatten den erregten Ausdruck nicht mehr. »Sobald es dunkel wird, wollen Frank Morse und ich Alma ein paar hübsche Valentinkarten bringen,« sagte sie.
»Das ist nett! Laß uns jetzt die heutige Lektion noch einmal lesen, damit wir wissen, wie viele Freuden das Leben in sich birgt.«
»Mutter, willst du Frau Driscoll nicht einmal besuchen?«
»Ja, das will ich und zwar am Sonntag, denn an den anderen Tagen wird sie zu sehr beschäftigt sein.«
In das Haus der Familie Singer kam auch ein aufgeregtes Kind aus der Schule gestürzt, suchte die Mutter und fand sie.
Frau Singer las gerade eine höchst interessante Stelle in dem neuesten Roman, als Ada hastig in das Zimmer trat und die Tür hinter sich zuwarf. »Mutter,« rief sie, »du weißt doch, du hast mir verboten, mit den Kindern der Fabrikarbeiter zu verkehren.«
»Natürlich, was gibt es denn?« antwortete Frau Singer kurz und legte die Finger zwischen die Seiten des aufgeschlagenen Buches.
»Ja, Luzie Berry ist böse mit mir, aber ich frage gar nichts danach. Ich werde nie wieder mit ihr verkehren!«
»Himmel, Ada, du solltest diese kleinen Zwistigkeiten doch erledigen können, ohne mich damit zu behelligen. Aber was hat denn die Fabrik damit zu tun, bitte?«
»Ach, da ist eine neue Schülerin, Alma Driscoll, und ihre Mutter arbeitet in der Fabrik. Sie versuchte, sich Luzie und mir anzuschließen, und Luzie würde es erlaubt haben, wenn ich ihr nicht gesagt hätte, du möchtest es nicht. Und überhaupt –, wir wollten sie nicht bei uns haben. Als nun heute der Kasten mit den Valentinkarten geöffnet wurde, bekam Alma Driscoll eine ulkige Karte; aber sie verstand den Spaß nicht und weinte und ging nach Hause. Ich kann solche Heulliesen nicht leiden. Dann machte Fräulein Joslyn großes Aufsehen davon und ging auch nach Hause; darauf machte mir Luzie Berry eine Szene. Sie sagte mir, sie würde sich jetzt mit Alma befreunden. Dann ging sie auch nach Hause. Es hat uns allen den Spaß verdorben, daß sie sich so albern benahm. Luzie ließ sich ihre Valentinkarten von Frank Morse herausbringen. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben, einerlei, ob sie mit Alma geht oder nicht!«
Adas Augen funkelten erregt; sie gab sich anscheinend die größte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
»Wie war denn diese Valentinkarte, die so viel Ärger erregt hat?«
»Ach, es war ein Bild von einem Fabrikmädchen. Du weißt ja, die Verse, die darunterstehen, sind immer so einfältig.«
»Immerhin war es durchaus nicht nett, sie ihr so öffentlich zu schicken, das muß ich sagen. Wer, meinst du, kann es wohl getan haben?«
»Wer die Karten schickt, verrät es nie,« erwiderte Ada abwehrend, »das wird man nie herausbekommen.«
»Wenn das törichte Kind, welches es auch sein mag, nur die wahren Umstände gekannt hätte, würde es gewußt haben, daß der Witz und die beabsichtigte Unfreundlichkeit nicht zutreffen. Frau Driscoll ist keine gewöhnliche Fabrikarbeiterin; sie ist Assistentin in der Buchhalterei.«
»Jedenfalls müssen sie entsetzlich arm sein, denn Alma ist so ärmlich gekleidet.«
»Ich glaube wohl, daß sie arm sind. Ich hörte zufällig, wie Herr Knapp deinen Vater bat, einer Frau Driscoll diese Stellung zu geben, und dein Vater willigte schließlich ein. Ich entsinne mich, wie Herr Knapp ihm erzählte, wie lange Frau Driscolls Mann sich vergeblich um eine Stellung bemüht habe, und welch' ehrenwerte Leute die Driscolls sind, alte Freunde von ihm. Sie lebten in einer benachbarten Stadt und kamen hierher, als Frau Driscoll diese Stellung erhielt. Sie wohnen –«
»Ach, ich weiß, wo sie wohnen,« unterbrach Ada, »und ich wußte doch, daß sie Fabrikleute sind, und daß du mich mit solchen Kindern, wie Alma, nicht verkehren läßt.«
»Jedenfalls wünsche ich aber, daß du freundlich mit ihnen bist,« antwortete Frau Singer.
»Wenn ich freundlich gewesen wäre, würde sie sich uns aufgedrängt haben. Du weißt wohl nicht mehr genau, wie es in der Schule zugeht.«
Frau Singer seufzte und öffnete gedankenvoll ihr Buch. »Du sollst mit jedem Menschen freundlich sein,« sagte sie zerstreut, »ich glaube wirklich, ich muß dich aus der öffentlichen Schule herausnehmen; die Gesellschaft ist dort zu sehr gemischt. Ich hätte es längst getan, aber dein Vater meint, es wäre für dich die beste Erziehung.«
Ada wußte, daß ihre Mutter in der nächsten Minute wieder ganz in ihre Geschichte vertieft sein würde. »Aber was soll ich denn mit Frank und Luzie machen?« fragte sie dringend, dem Weinen nahe.
»Wieso, ist Frank auch hinein verwickelt?«
»Ja, ich weiß, daß Luzie mit ihm darüber gesprochen hat. Er kam zurück, um ihre Valentinkarten zu holen.«
»Ach, Unsinn, mach' keinen Streit daraus! Sei einfach höflich mit Alma. Driscolls sind durchaus ehrenwerte Leute. Du brauchst sie nicht zu meiden. Und nun reg' dich nicht auf. Luzie wird bald über den kleinen Ärger hinwegkommen, und du kannst sicher sein, daß sie dann gern Frieden mit dir schließt und befreundeter mit dir sein wird als je.«
Frau Singer nahm ihr Buch wieder auf und las weiter. Ada sah ein, daß es nutzlos sein würde, dieses Thema jetzt noch weiter zu verfolgen. Sie verließ unentschlossen das Zimmer und preßte die Lippen fest aufeinander. Mochte Luzie sich immerhin mit Alma anfreunden. Sie wollte sie einfach nicht mehr ansehen. Dann würde es sich ja zeigen, wer dieses Zustandes zuerst überdrüssig werden würde.
Dieser Entschluß schien der kleinen Hartherzigen im Augenblick viel Trost zu gewähren. Sie sehnte den nächsten Tag herbei, um zeigen zu können, was Luzie Berry an ihr verloren hatte.
Inzwischen war Alma Driscoll in ihr einsames Heim geeilt, wo sie sich auf das einfache Bett warf. Hier ließ sie ihren gekränkten Gefühlen freien Lauf, bis sie sich in den Schlaf geweint hatte.
So fand ihre Mutter sie, als sie von der Arbeit heimkehrte. Frau Driscoll hatte genug eigene Sorgen in dieser Zeit. Sie mußte sich in ihre gegenwärtige Lage hineinfinden und mühte sich tapfer, die Stellung auszufüllen, die ihr alter Freund, Herr Knapp, ihr verschafft hatte. Alma wußte das wohl; daher empfing sie ihre Mutter jeden Abend fröhlich und hielt ihr liebevoll alle ihre Schulsorgen fern, die schwer auf ihr lasteten, und die sie sich oft so gern vom Herzen geredet hätte. Aber ein Blick auf das Gesicht ihrer Mutter ließ sie immer wieder schweigen. So jung sie auch war, wußte sie doch, daß ihre Mutter das Leben in der großen Schule der Welt ebenso hart fand, wie sie das ihre in dem hübschen Schulzimmer von Fräulein Joslyn. Darum hielt sie ruhig aus; aber ihre Augen wurden immer größer, und ihre Mutter sah es wohl.
Als Frau Driscoll an diesem Abend heimkehrte, bemerkte sie zu ihrer Überraschung, daß die Wohnung noch nicht erleuchtet war. Sie zündete die Lampe an und fand Alma schlafend auf dem Bette liegen: »Armes Kleinchen,« dachte sie, »die Stunden bis zu meiner Heimkehr müssen ihr lang geworden sein.«
Sie besorgte geräuschlos das Abendessen und weckte dann Alma durch einen Kuß.
»Möchte mein Töchterchen nicht ein wenig essen?« fragte sie.
Alma drehte sich um und öffnete die Augen.
»Rate, was es ist,« fuhr Frau Driscoll fort, »Frühstück oder Abendessen.«
»Ach, bist du da?« Alma richtete sich auf und umarmte die Mutter. »Bitte, bitte, laß mich nie wieder in die Schule gehen,« sagte sie mit einem tiefen Seufzer.
»Weshalb, was ist geschehen, Liebling?« rief Frau Driscoll ernst.
»Das möchte ich dir lieber nicht sagen, Mutter, laß mich nur, bitte, zu Hause bleiben, ich will hier ebenso fleißig arbeiten wie in der Schule.«
»Du würdest dich tagsüber hier zu einsam fühlen, Alma.«
»Ich möchte gerade allein sein,« entgegnete das kleine Mädchen.
»Wir wollen uns an den Tisch setzen,« sagte Frau Driscoll ruhig, »dein Ei wird sonst kalt.«
Alma setzte sich ihrer Mutter gegenüber. Gewöhnlich war das Abendessen die schönste Stunde des Tages, aber heute war sie sehr trübe.
»Du mußt mir nachher alles erzählen, Alma; aber jetzt wollen wir erst essen,« sagte Frau Driscoll, während sie den Tee einschenkte.
»Es ist nicht von großer Bedeutung,« sagte die Kleine, von dem Verlangen nach Teilnahme und dem Wunsche, ihrer Mutter keinen Schmerz zu bereiten, hin- und hergerissen. »Nur – in der Schule gibt es keine anderen einsamen Kinder; jedes hat einen Spielgefährten, den es gern hat.«
Ein schmerzliches Verstehen durchzog der Mutter Herz; aber liebevoll zwang sie sich zu einem Lächeln. »Ach, mein Liebling,« sagte sie, »das erinnert mich an einen alten Vers:
›Jedes Mädchen hat 'nen Burschen,
Nur ich bin allein,
Und doch lächelt jeder freundlich,
Trifft er mich am Rain.‹
Wenn meine Alma alle Kinder anlächelt, dann lächeln alle wieder!«
Alma schüttelte den Kopf. Es war schwer, ihrer Mutter alle Zurücksetzungen und enttäuschten Hoffnungen zu erklären, die sie täglich erfahren hatte.
Vor unterdrücktem Schluchzen konnte sie ihr Ei nicht essen.
»Heute ist Valentintag,« sagte sie mit Überwindung. »Sie hatten einen Kasten für die Karten in der Schule. Alle bekamen hübsche Karten, nur ich bekam eine häßliche.«
Das Kind versuchte tapfer, die Tränen hinunterzuschlucken, aber es gelang nicht.
»Sollte sie dich vielleicht nur zum Lachen bringen, Kleinchen?«
»N–nein, es war eine boshafte. Ich – kann es dir nicht erzählen.«
Frau Driscoll runzelte die Stirn. Sie malte sich in Gedanken die Szene lebhaft aus. Sie schluckte gleichfalls, beherrschte sich jedoch schnell und sagte:
»Törichte Bilder können uns nicht verletzen, Alma.«
»Aber, bitte, laß mich nicht wieder in die Schule gehen,« wiederholte das Kind dringend. »Ich habe geweint und bin fortgelaufen, und ich weiß, daß alle Kinder gelacht haben; bitte, Mutter, laß mich daheim bleiben.« Sie schluchzte laut und versuchte, sich mit der Schürze die Tränen zu trocknen.
Frau Driscoll preßte die Lippen fest zusammen.
»Mutter,« sagte Alma ganz niedergedrückt, sobald sie wieder sprechen konnte, »wann glaubst du, wird Vater zurückkommen?«
Die Mutter konnte nicht sofort antworten. Der letzte Brief ihres Mannes war nur voll entmutigender Nachrichten gewesen, und seit sechs Wochen hatte sie überhaupt nichts von ihm gehört. Ihre Besorgnis war sehr groß. Infolgedessen war ihre Stellung in der Fabrik für sie und ihr Kind mehr als je von Bedeutung, während ihre Sorge um den Gatten die Ausführung ihrer Arbeit erschwerte.
»Ich weiß es nicht, Liebling,« flüsterte sie, »wir müssen beten und warten.«
Als sie dies gesagt hatte, wurde laut an die Tür geklopft. Ein sehr seltener Ton für beide, denn bis jetzt hatte sie niemand besucht außer Herrn Knapp, der in geschäftlichen Angelegenheiten kam.
»Ich will sehen, wer da ist,« sagte Frau Driscoll, »trockne dir die Augen, Alma.«
Zu ihrer Überraschung war niemand da, als sie die Tür öffnete, aber sie sah in der Dämmerung etwas Weißes auf der Schwelle liegen. Es war ein Pappkästchen, auf dem sie beim Lampenlicht die Adresse: »Fräulein Alma Driscoll« las. Ihr Herz war noch von dem Gehörten zu sehr beschwert, als daß sie das Kästchen dem Kinde hätte aushändigen können, ohne sich vorher von der Harmlosigkeit des Inhalts überzeugt zu haben. Nach einem Blick auf die farbenprächtige Karte schloß sie jedoch den Deckel wieder, trug das Kästchen zum Tisch und setzte sich.
»Was bedeutet das,« sagte sie dann, »es scheint für dich zu sein, Alma. Es war niemand da, aber dies fand ich auf der Schwelle.«
Alma sah verwundert auf das zierliche Kästchen. Als sie den Deckel abnahm, entdeckte sie eine künstlerisch ausgearbeitete Valentinkarte.
»Nein, was für eine schöne Karte,« rief die Mutter.
Die Kleine klappte die roten Rosen zurück und las die Verse.
Noch halb schluchzend, lächelte sie.
»Und wer behauptete eben, er hätte keine Freunde?« fragte Frau Driscoll.
»Irgend jemand hat mich bedauert,« erwiderte Alma, »ich wollte, sie hätten keine Ursache, mich zu bemitleiden.«
»Wie kannst du das wissen. Als ich ein kleines Mädchen war, machte es uns den größten Spaß, am Valentintag nach Dunkelwerden mit den Karten von Haus zu Haus zu laufen. Woher weißt du, ob diese Karte nicht schon vorher für dich bestimmt gewesen war?«
»Weil ich sie wiedererkenne. Fräulein Joslyn hat sie in der Schule Luzie Berry aus dem Kasten gegeben. Luzie ist die hübscheste –«
Es wurde wieder an die Tür geklopft.
Frau Driscoll sah hinaus. Ein großes, weißes, an Alma adressiertes Kuvert lag auf der Schwelle. Die Kleine lächelte etwas freier, als sie eine hübsche, mit Guirlanden und schaukelnden Engeln verzierte Karte herausnahm, auf der stand: »An meine Valentine«.
»Aber wirklich, hübschere Karten habe ich nie gesehen,« sagte Frau Driscoll.
»Aber sie haben sie nicht für mich gekauft,« meinte Alma kleinlaut.
Als bald danach wieder ein Klopfen an der Tür ertönte, und eine dritte Valentinkarte erschien, die mit blühenden Veilchen und darüberschwebenden Schmetterlingen geschmückt war, neigte sich Frau Driscoll liebreich zu ihrer Tochter.
»Alma,« sagte sie, »ich glaube, alle Kinder haben nicht gelacht, als du die häßliche Karte bekamst. Jetzt wollen wir uns einen Spaß machen,« fügte sie in verändertem Tone hinzu. »Laß uns den nächsten, der kommt, abfangen und sehen, wer deine Freunde sind, die dir ihre besten Karten geben.«
»Ach nein,« antwortete Alma lächelnd und schreckte noch schüchtern vor diesem Gedanken zurück.
»Komm' doch, wir haben es immer versucht, als ich klein war; ich will mich hinter die Tür stellen, sie ein wenig offen halten, und du sollst sehen, ob ich nicht jemand fangen kann.«
Alma zuckte mit den Schultern. Ganz recht war ihr das Vorhaben ihrer Mutter nicht; aber Frau Driscoll führte es aus. Sie erwartete eigentlich nicht, daß noch weitere Gäste kommen würden, sondern tat es nur, um Alma zu erheitern, die mit trübem Lächeln ihre Karten betrachtete; aber nach einer kurzen Pause wurde wieder an die sonst so vernachlässigte Tür geklopft. Schnell wie der Blitz öffnete Frau Driscoll und erfaßte eine Hand. Ein leiser Schrei ertönte, und in der nächsten Sekunde hatte sie eine junge Dame auf den Vorplatz gezogen.
In der Dunkelheit konnten sie sich gegenseitig nicht erkennen.
»Ich bitte um Verzeihung,« rief Frau Driscoll sehr verlegen, »ich wollte nur eine Valentinkarte abfangen.«
»Das ist Ihnen gelungen,« lachte die Fremde, »es liegt eine auf der Schwelle, wenn ich sie nicht infolge des Erschreckens mit meinem Rock weggeschoben habe. Es war nicht meine Absicht, jetzt hereinzukommen, obwohl ich bei Ihnen vorsprechen wollte, nachdem ich eine Besorgung gemacht hatte. Da ich aber nun einmal hier bin, will ich, wenn es Ihnen paßt, einen Augenblick verweilen.«
»Wenn Sie, bitte, den noch nicht abgeräumten Tisch entschuldigen wollen,« antwortete Frau Driscoll, »Alma und ich haben erst spät Tee getrunken.« Dabei hob sie die Valentinkarte von der Schwelle auf und führte ihren Gast in das Zimmer. Alma stand mit roten Backen und großen Augen da; sie traute ihren Ohren kaum, als sie die bekannte Stimme hörte.
Als der Besuch ins Lampenlicht trat, sah die Kleine, daß die Dame, die die Mutter im Dunkeln eingefangen und hereingebracht hatte, wirklich Fräulein Joslyn war. Alma war höchst erstaunt über das fröhliche, errötende Gesicht, das sie sonst so ernst und beobachtend zu sehen gewohnt war. Alle Schüler bewunderten die hübsche Lehrerin; aber sie hatte eine Würde und eine Strenge, die ihnen gleichzeitig Scheu einflößte, und es erschien Alma ganz wunderbar, diese wichtige Persönlichkeit in ihrem eigenen Wohnzimmer mit ihrer Mutter lachen zu sehen.
Fräulein Joslyns scharfe Augen sahen Tränen in dem Gesicht ihrer Schülerin, doch auch zugleich die schönen Valentinkarten auf dem Tisch liegen. »Aber, aber, Alma,« rief sie gütig, »da hast du ja eine ganze Ausstellung!«
»Und hier ist noch eine,« sagte Frau Driscoll. Alma lächelte ihrer Lehrerin dankbar zu, während sie das Kuvert öffnete und eine Karte mit einer fliegenden Taube, die ein Blatt im Schnabel hielt, herausnahm. Auf dem Blatt war mit goldenen Buchstaben das Wort » Liebe« gedruckt.
»Ich bin auf frischer Tat ertappt,« lachte Fräulein Joslyn, »ich glaube, ich bin zu alt und nicht behende genug, um im Dunkeln Valentinkarten auszuteilen.«
»Diese gefällt mir am besten,« sagte das kleine Mädchen, »die ist für mich gekauft,« fügte sie in Gedanken hinzu, und sie hatte recht. Vor zwanzig Minuten hatte die weiße Taube noch in einem Laden gelegen mit der besten Aussicht, dort zu bleiben bis zum nächsten Valentintag.
»Bitte, setzen Sie sich, Fräulein Joslyn,« sagte Frau Driscoll.
»Nun ja, einen Augenblick,« antwortete die junge Dame und nahm den ihr angebotenen Stuhl, »aber ich möchte, daß Sie sich währenddessen nicht bei Ihrem Abendessen stören lassen.«
»Wir sind gerade fertig; sonst würde ich nicht solches Spiel an der Tür getrieben haben. Sie sind doch nicht etwa die Geberin all dieser schönen Karten?'
»O nein, das nicht, sie sind zweifellos von einigen Kindern aus der Schule. Ich habe schon seit längerer Zeit versucht, mich einen Abend für Sie, Frau Driscoll, frei zu machen, aber nach der Schulzeit ist meine Arbeit noch nicht beendet.«
»Davon bin ich überzeugt,« antwortete Frau Driscoll, während Alma mit ihrer Taubenkarte in der Hand dasaß und die fröhliche Sprecherin beobachtete, die sich trotz der ungewohnten Umgebung ganz zu Hause zu fühlen schien. Es kam ihr ganz seltsam vor, so nahe bei Fräulein Joslyn zu sitzen, die hier keine Glocke vor sich hatte und keinen Befehl erteilte, sondern sie freundlich anschaute und sagte: »Die öffentliche Schule ist für neue Schüler zuerst ein wenig hart, zumal, wenn sie in der Mitte eines Quartals eintreten. Du wirst es später schon angenehmer finden, Alma.«
»Das denke ich auch,« warf Frau Driscoll ein. »Ich muß so viele Stunden in der Fabrik zubringen, und es ist mir daher angenehm, Alma in der Schule wohl geborgen zu wissen. Wird sie gut mit ihren Aufgaben fertig, Fräulein Joslyn?«
»Ja, ich habe nichts daran auszusetzen, Frau Driscoll,« sagte die Lehrerin mit einem freundlichen Blick auf Alma. »Du bist noch nicht recht mit den andern Kindern bekannt geworden, Kleine. Es ist mir aufgefallen, daß du beim Frühstück allein bist. Ich bin auch allein; was meinst du, wenn wir beide vorläufig zusammen frühstückten, bis du dich in der Schule heimischer fühlst? Bei meinem Platze steht noch ein Stuhl, und wir wollen es uns dort schon behaglich machen.«
Almas Herz klopfte schneller. Sie hatte nie gehört, daß eine Einladung von Vorgesetzten einem Befehl gleichkomme; aber der Wunsch, den sie gehegt hatte, von der Schule fortzubleiben, schwand augenblicklich. In ihren Gedanken stieg das Bild von Fräulein Joslyn auf, wie sie an ihrem gemütlichen Platze saß, den Schaukelstuhl umdrehte, bis man nur ihr Profil sah, die weiße Serviette auf ihrem Pult ausbreitete, ihr Buch in die Hand nahm und zu gleicher Zeit las und frühstückte. Alma ahnte nicht, welches Opfer es für die freundliche Lehrerin bedeutete, diese kostbare halbe Stunde der Einsamkeit aufzugeben. Fräulein Joslyn wurde jedoch dafür entschädigt, denn bei dieser glänzenden Aussicht leuchteten die Augen des Kindes hell auf; es errötete bis über die Stirn, und vor Bewegung konnte es nur stammelnd seinen Dank sagen. Beglückt sah es zu seiner Mutter hinüber.
Die junge Dame sprach noch einige freundliche Worte, verabschiedete sich dann und ließ Mutter und Kind in freudiger Stimmung zurück.
»Mutter, was werden die Kinder sagen,« rief Alma aus und schlug fröhlich in die Hände, »ich soll zusammen mit Fräulein Joslyn frühstücken!«
»Ja, wie schön,« erwiderte Frau Driscoll, froh über den veränderten Gesichtsausdruck der Kleinen. Sie wünschte nur, das Leid ihres eigenen Herzens ließe sich ebenso rasch heben. »Was meinst du, ist der Valentintag nun vorüber, oder soll ich mich noch einmal an die Tür stellen?«
»Sie werden mir wohl keine Karte mehr schicken,« erwiderte Alma und betrachtete zärtlich ihre Taube, »es war nett von Luzie Berry, mir ihre hübschen Karten zu schicken, aber ich möchte sie ihr doch gern zurückgeben.«
»O nein, das geht nicht,« antwortete Frau Driscoll, »ich will mich noch einmal hinter die Tür stellen, vielleicht fange ich doch noch jemand, um dir zu beweisen, daß Luzie nicht allein an dich gedacht hat.«
Frau Driscoll begab sich leise auf ihren Posten, und Alma beobachtete sie durch die offene Tür.
Die Kleine hätte gern selbst einige Karten verschickt, aber sie besaß nur fünf Pfennige; dafür hatte sie eine Karte gekauft und sie an Luzie Berry für den Schulkasten adressiert. Sie war froh, daß diese Karte heute abend nicht auch zu ihr zurückgekommen war. Das würde am schwersten für sie zu ertragen gewesen sein.
Gerade als sie dieses dachte, wurde von neuem an die Tür geklopft. Das Kind sah schnell auf, und Frau Driscoll streckte sofort wieder die Hand hinaus, faßte ein Kleidungsstück und zog vorsichtig, aber fest daran.
»Ho, ho, gnädige Frau,« rief eine Baßstimme, und diesmal stieß die Hausfrau einen kleinen Schrei aus; aber bei dem Anblick eines starken, ältlichen Herrn mit Backenbart, der behutsam eintrat, lachte sie auf.
»Ach, Herr Knapp, bitte, entschuldigen Sie, ich dachte, es wäre ein Valentin.«
»Mich mag niemand haben, mich mag niemand. Es würde vollkommen nutzlos sein, an diese Schultern Amors Flügel zu heften. Es müßte ein ungeheuer großes Paar sein, mich tragen zu können. Sieh' mal an,« fügte er mit behäbigem, beifälligem Lächeln auf die frohen Gesichter hinzu, »ich bin wirklich sehr erfreut, Sie bei einem Spiel anzutreffen. Ich fand, daß Sie in den letzten Tagen ein bißchen schmal und niedergeschlagen aussahen, deshalb wollte ich selbst Ihnen einen Brief bringen, der heute nachmittag übersehen worden ist. Vielleicht enthält er glückliche Nachrichten; man kann nicht wissen.«
Frau Driscoll sah erregt in das gutmütige, rote Gesicht des Herrn Knapp, der umständlich in seinen Rocktaschen umhersuchte und schließlich ein Kuvert herauszog, bei dessen Anblick sie die Farbe wechselte.
»Auch für dich eine Valentinkarte,« rief die Kleine.
»Ja, denk' dir mal und vom Vater. Wollen Sie sich nicht setzen, Herr Knapp?«
»Nein, nein, ich will weitergehen und Sie allein Ihren Brief in Frieden lesen lassen. Das ist Ihnen gewiß lieber; ich hoffe, er bringt Ihnen Glück. Sollte dies nicht der Fall sein, dann denken Sie daran, daß die dunkelste Stunde dem Tage vorangeht. Frank Driscoll muß wieder hochkommen; das kann gar nicht ausbleiben; er ist ein guter Kerl.«
Mit diesen Worten verabschiedete sich der treue Freund von den beiden, und Frau Driscoll öffnete erregt das Kuvert.
Gleich, nachdem sie die ersten Worte: »Alles in Ordnung, Nettie,« gelesen hatte, drückte sie glückselig das Papier gegen die Augen und umarmte Alma.
Alles war in Ordnung. Herr Driscoll hatte endlich eine Stellung gefunden. Zum Sommer, meinte er, könnten sie alle wieder zusammensein.
Sie lasen den Brief wieder und wieder, wuschen dann das Geschirr und räumten es fort. Sie waren leichten Herzens, und mit innigem Dank gegen Gott begaben sie sich zur Ruhe.
Am nächsten Morgen ging Frau Driscoll fröhlich in die Fabrik und ließ ein aufgeregtes kleines Mädchen zurück, das in der Vorfreude auf das Frühstück in Fräulein Joslyns Gesellschaft doppelt schnell die Morgenarbeit verrichtete.
Noch zwei andere aufgeregte Kinder machten sich an dem Morgen für die Schule fertig. Sie hatten beide ihren Kummer überschlafen, sich aber sehr verschieden für den Tag vorbereitet. Ada Singer hatte sich vorgenommen: »Ich werde niemals nachgeben, und Luzie Berry soll es schon sehen.«
Luzie fühlte sich getröstet; aber nun handelte es sich um den großen Schritt, mit Alma zu frühstücken und von Ada dafür gestraft zu werden. Ihr Herz zitterte bei dem Gedanken; doch sie wollte versuchen, gar nicht an sich selbst zu denken, sondern nur das Richtige zu tun und sich um die Folgen nicht zu kümmern.
»Es geht gar nicht anders,« hatte ihre Mutter beim Abschied gesagt. »Alles, was du in einem anderen Geist tust, mußt du später noch einmal tun.«
»Heute soll mich kein einziger Irrtumswicht betrügen,« dachte Luzie entschlossen, und damit kam ihr auch ein verwirrender Gedanke: »Wenn nun Alma heute überhaupt nicht zur Schule käme!«
Aber Alma war da, auch Ada Singer, letztere in einem reizenden neuen Kleide; sie hielt den Kopf so steif, daß sie sich nach niemandem umblicken konnte. Frank Morse, der seinen Platz ganz hinten im Zimmer hatte, beobachtete neugierig die drei kleinen Mädchen und schüttelte den Kopf.
In der ersten Pause sprach Ada Singer ihn beim Verlassen des Schulzimmers an. »Warte einen Augenblick, Frank, es ist heute so schönes Wetter; Mutter holt mich nach der Schule mit dem Auto ab, und wir wollen eine lange Spazierfahrt machen. Möchtest du nicht mitfahren?«
»Jawohl, gern,« antwortete Frank, »aber möchtest du nicht lieber Luzie mitnehmen?« fügte er ein wenig unsicher hinzu.
»Wenn ich das wollte, brauchte ich dich ja nicht aufzufordern,« sagte Ada kühl.
»Dann ist es gut, danke,« sagte Frank. Aber als er sich zu den andern Knaben auf dem Spielplatz gesellte, fühlte er sich doch unbehaglich.
Sobald es geschellt hatte, war Luzie Berry geradeswegs auf Alma zugegangen. Ihre Backen glühten, und die braunen Augen strahlten gütig.
Alma sah befangen, aber freudig zu ihr auf. Sie wußte nicht recht, ob sie Luzie für die Valentinkarten danken sollte oder nicht.
Aber es blieb ihr gar keine Zeit dazu, denn Luzie sagte sofort: »Ich bin zu dir gekommen, um zu hören, ob du nicht heute mit mir frühstücken willst.«
Alma errötete. Wie viele freundliche Leute gab es doch in der Welt. »Ich täte es sehr gern,« antwortete sie, »aber mir scheint, Ada möchte lieber mit dir allein sein und –«
»Aber es würde mich freuen, wenn du es tätest,« sagte Luzie fest, »denn ich möchte dich gern näher kennen lernen. Meine Mutter will deine Mutter auch am Sonntagnachmittag besuchen.«
»Das freut mich sehr,« rief Alma und sah beglückt in Luzies sonnige Augen. »Ich möchte gern mit dir frühstücken, aber Fräulein Joslyn hat mich eingeladen, das Frühstück mit ihr einzunehmen.«
»O–oh!« Luzie machte große Augen, »aber das ist ja reizend,« sagte sie ganz überwältigt.
Sie hatten keine Zeit weiterzusprechen, weil die nächste Lehrstunde begann. Als die Kinder sich auf ihre Plätze begaben, bemerkte Alma zu ihrem Erstaunen, daß Ada Singer ohne ein Wort zu sagen, an Luzie vorüberging und sogar den Kopf abwandte, um sie nicht ansehen zu müssen. Das Kind hatte diese enge Freundschaft so sehnsüchtig beobachtet; deshalb sah sie sofort, daß nicht alles stimmte, und instinktiv brachte sie Luzies Einladung damit in Verbindung.
Während der darauffolgenden Pause trübten die Gedanken an diesen möglichen Streit ihr die Freude an dem Zusammensein mit Fräulein Joslyn, die die liebenswürdigste Wirtin war. Viele der Mädchen und Knaben spähten in das verlassene Schulzimmer hinein, als es sich herumgesprochen hatte, daß Alma Driscoll auf dem Katheder mit der Lehrerin lachte und schwatzte und mit ihr in dem Erker frühstückte.
Fräulein Joslyn bestand darauf, einen Teil ihres Frühstücks mit Alma auszutauschen. Sie breitete die Sachen auf der weißen Serviette aus und redete so eifrig und fröhlich auf die Kleine ein, daß deren Gesicht vor Freude strahlte. Auch die gute Nachricht, die am Abend vorher eingetroffen war, wurde der Lehrerin mitgeteilt und von ihr voll Interesse aufgenommen. »Ist die Welt nicht schön?« fragte Fräulein Joslyn lächelnd.
»Ja, Fräulein Joslyn, heute ist die Welt wirklich schön, nur – nur eins, Fräulein Joslyn.«
»Was denn?«
»Ich glaube, Luzie Berry und Ada Singer haben sich gezankt.«
»Die Unzertrennlichen? Das glaube ich nicht,« sagte die Lehrerin lächelnd.
»Ja, doch, und das Schlimmste ist, ich glaube, ich habe Schuld daran. Dürfte ich wohl in die Garderobe gehen, mein Taschentuch zu holen und dabei nachzusehen, ob sie, wie gewöhnlich, auf der Fensterbank sitzen?«
»Das kannst du gern, wenn es dich beruhigt.«
Alma ging hinaus und kehrte bald wieder zurück. Luzie und Ada saßen nicht auf der Fensterbank. Beide hatten sich zu anderen Kindern gesellt.
Fräulein Joslyn sah, wie das der Kleinen naheging und versuchte, sie abzulenken, indem sie auf Herrn Driscolls neue Aussichten zurückkam.
Aber sobald die Pause zu Ende war, kehrten Almas Gedanken zu Ada Singer zurück, denn sie war überzeugt, daß, wie auch die Sache liegen mochte, Ada diejenige von den beiden sei, die beschwichtigt werden müßte. Alma konnte den Gedanken nicht ertragen, daß die freundliche, gute Luzie ihretwegen irgendwelchen Kummer leiden sollte.
Als die Schule aus war, kleidete Ada Singer sich mit hocherhobenem Kopf in der Garderobe an, nur ein paar Schritte von Luzie entfernt, doch ohne von ihr Notiz zu nehmen. »Ich liebe sie,« dachte Luzie, »und sie liebt mich; uns beide kann nichts irreführen.«
Ada ging hinaus, ohne ihr einen Blick zu gönnen und wartete oben an der Treppe auf Frank Morse.
Alma Driscoll trat rasch auf sie zu, doch Ada wandte sich ab. Alma brauchte sich nun nicht einzubilden, daß sie jetzt ebenso gut wie die anderen sei, weil Fräulein Joslyn das Frühstück mit ihr geteilt hatte.
»Kann ich 'mal mit dir sprechen, nur einen Augenblick?« fragte die Kleine so eifrig und doch so bescheiden, daß Ada sich nach ihr umdrehte. Aber als Alma sah, daß sie Gehör fand, wußte sie nicht mehr, was sie sagen wollte. Sie zögerte und strich unruhig mit den Händen über ihre Kattunschürze. »Bitte – bitte,« stammelte sie, »sei nicht böse mit Luzie, sie hatte Mitleid mit mir; aber ich will niemals mit ihr frühstücken, – ganz gewiß nicht.« –
»Du weißt nicht, was du sagst,« erwiderte Ada kalt.
»Das weiß sie doch.« Es war Frank Morses Stimme.
Ada wandte sich schnell um und sah Frank und Luzie ein paar Schritte hinter sich stehen. Die vier Kinder waren allein in der Halle.
»Hört,« sagte Frank unvermittelt, »ich möchte, daß ihr beide euch einen Kuß gebt und euch vertragt.«
Ada errötete heftig, als sie Luzies fragendem, bittendem Blick begegnete.
»Kommst du mit ans Auto, Frank?« fragte sie kühl, »Mutter wartet auf uns.«
»Hör' doch, Ada, sei doch vernünftig. Wenn du und Luzie die Fechthandschuhe anziehen wollt, dann ist es ehrlicher Kampf, aber um Himmelswillen laßt den Unfug mit den eisigen Blicken. Ich bin heilfroh, daß ich kein Mädchen bin!«
Der ehrliche Abscheu in des Knaben Ton bei diesem Schlußwort machte Ada etwas stutzig. Luzie sagte gleich darauf überredend:
»Ach, es ist wie ein böser Traum, Ada, daß wir uns böse sein sollen!«
»Wer hat Schuld?« fragte Ada scharf. »Warum hast du mich gestern so angefahren?«
Beide Kinder hatten Alma nicht beachtet, die betrübt mit großen Augen den Vorgang verfolgte.
»Und ebenso hast du mich beschuldigt, Alma den Ulk geschickt zu haben,« fuhr Ada fort.
»Ach, hast du ihn denn nicht geschickt?« rief Luzie und sprang freudig auf die Freundin zu. »Dann kannst du mit mir machen, was du willst! ich verdiene alles, denn ich habe wirklich gedacht, du hättest es getan.«
Ihr beredtes Gesicht, und die Liebe, die ihr aus den Augen strahlte, zerstörten einen Vorsatz in Adas stolzem kleinen Herzen und erweckten einen andern, der vielleicht ebenso stolz war, aber doch edle Gesinnung verriet. Sie fühlte, daß sie diese Unehrlichkeit nicht länger würde ertragen können.
»Ich habe die Karte geschickt,« sagte sie plötzlich, und warf den Kopf in den Nacken. Ohne auf Frank und Luzie zu achten, wandte sie sich an Alma. »Ich sandte dir die ulkige Karte,« wiederholte sie. »Ich dachte, es würde nur ein Spaß sein, aber das war es nicht, und es tut mir leid. Ich möchte gern, daß du mir verzeihst!«
Ihr Ton klang durchaus nicht bescheiden, aber für Almas Ohren war er Musik. Die Kleine schlug die Hände zusammen. »Ach wie gern,« erwiderte sie ernst, »denn dadurch sind alle so freundlich mit mir geworden. Bitte, mach' dir nichts mehr daraus. Ich habe am Abend noch die schönsten Karten bekommen, und Fräulein Joslyn machte uns einen Besuch, und wir erhielten einen Brief von meinem Vater, und er hat eine sehr gute Stellung gefunden und – und alles!«
Ada atmete schneller, als dieser Redefluß vorbei war. Daß Alma sogar die glückliche Wendung in ihres Vaters Angelegenheiten dieser Karte zuschrieb, rührte sie. In ihrer Verwirrung faßte sie noch einen anderen Entschluß.
»Wenn du es, bitte, entschuldigen willst,« sagte sie, zu Frank gewandt, »möchte ich anstatt deiner Alma im Auto nach Hause fahren.«
»Recht so,« erwiderte der Knabe mit geröteten Wangen, »du bist ein Hauptkerl, Ada!«
Bei diesem Lob von einem, der selten lobte, fühlte sich Ada innerlich gehoben und nahm sich vor, dieses Lob zu verdienen. »Adieu, Luzie,« war alles, was sie sagte, aber ihre Blicke trafen sich, und Luzie wußte, daß alles wieder in Ordnung war.
Als Ada und Alma die Treppe hinuntergingen, lief Luzie an das Treppenfenster, und Frank folgte ihr. »Sie dürfen uns aber nicht sehen,« sagte sie fröhlich.
So spähten die beiden sehr vorsichtig hinaus und sahen das hübsche Automobil vor der Pforte stehen. Frau Singer saß darin, und sie beobachteten, wie Ada etwas zu ihr sagte. Dann kam die kleine Driscoll in ihrem dicken Mantel, der die Kattunschürze bedeckte, mit der großen Brotdose in der Hand; Alma kletterte in das Auto, Ada hinterdrein, und fort fuhren sie. Mit leuchtenden Augen wandte sich Luzie an Frank: »Jetzt ist alles in Ordnung,« sagte sie, »wenn Ada etwas anfaßt, dann läßt sie es nicht wieder los, und jetzt hat sie das Richtige erfaßt!«