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12. Kapitel.
Die sprechende Puppe.

Herr Evringham bekam beim Reiten jede der gelesenen Geschichten zu hören; Juwel erzählte sie ihm mit großer Begeisterung, während sie auf den Waldwegen Schritt ritten, und man kann mit Recht behaupten, daß die Erzählungen beim zweiten Vortrage ebensoviel Unterhaltung gewährten wie beim ersten.

»Der goldhaarige Hund« hatte tiefen Eindruck auf Juwels Phantasie gemacht; Herr Evringham schüttelte den Kopf, als sie mit leuchtenden Augen die Geschichte zu Ende erzählt hatte.

»Stern scheint mir mühsame Arbeit zu bekommen,« bemerkte er und faßte die Zügel fester, da Essex Maid galoppieren wollte.

»Wieso, Großpapa?«

»Um mit diesem Hund konkurrieren zu können.«

Juwel sah nachdenklich vor sich hin. »Ich glaube nicht, daß es etwas nützen würde, Stern das Tanzen beizubringen,« sagte sie.

»Ja, doch. Ponys lernen tanzen. Wir müssen mal in den Zirkus gehen, damit du es siehst; aber wie würde es dir gefallen, wenn Stern, sobald er Straßenmusik oder eine Drehorgel hörte, sich auf die Hinterbeine stellte und anfinge zu tanzen?«

Juwel lachte und klopfte dem Pony den glänzenden Hals. »Ich glaube doch, ich mag Stern am liebsten, so wie er ist,« sagte sie, »aber, Großpapa, hast du jemals in deinem Leben von so einem reizenden Hund gehört?«

»Nein, niemals, das muß ich zugeben.«

»Es gibt doch vielleicht irgendein Kunststück, das Stern lernen könnte,« fügte Juwel nachdenklich hinzu.

»Ja, natürlich, das gibt es. Sag' nur Sek, du möchtest Stern lehren, Fuß zu geben. Sek wird dir gern helfen.«

Dieser Gedanke gefiel Juwel außerordentlich, und im Laufe der Zeit wurde dieses Kunststück wirklich ausgeführt; aber bis Stern begriffen hatte, daß er seinen kleinen Huf hochheben und vorsichtig in die Hand seiner Herrin stellen mußte, ehe er als Belohnung ein Stück Zucker bekam, hatte auch er wohl eine ähnliche Empfindung verspürt, wie sie in Gräfin Gertrud mit dem Wunsche rege geworden war: hätte es doch nie einen goldhaarigen Hund auf der Welt gegeben!

Als Frau Evringham, Juwel und Annabel sich das nächstemal in der Schlucht niedergelassen hatten, war die Reihe an der Kleinen, eine neue Geschichte auszuwählen. Die Mutter nannte die Titel der noch nicht vorgelesenen Erzählungen. Juwel zögerte, zuckte die Schultern und hob die Augenbrauen mit einem bedeutsamen Blick auf die Vorlesende. Frau Evringham dachte verwundert, was ihr Kind wohl im Sinne haben möge, als es nach weiterem kurzen Überlegen sich an Annabel wandte, die gegen einen Stamm lehnte und die Augen weit geöffnet hatte.

»Verzeih' einen Augenblick, mein Liebling,« sagte sie und flüsterte dann der Mutter ins Ohr: »Kommt in der »sprechenden Puppe« irgend etwas vor, was Annabel verletzen könnte?«

»Nein, – ich glaube, es wird ihr sehr gefallen,« antwortete Frau Evringham.

»Ja, siehst du,« flüsterte Juwel weiter, »sie weiß doch nicht, daß sie eine Puppe ist.«

»Gewiß nicht,« antwortete Frau Evringham.

Juwel lehnte sich zurück. »Ich wähle,« sagte sie dann laut, »die sprechende Puppe.«

Da Annabel ihren gewöhnlichen liebenswürdigen Ausdruck interessierter Anteilnahme beibehielt, begann Frau Evringham zu lesen:

 

Die sprechende Puppe.

Als Gladys an ihrem Geburtstagmorgen die Augen öffnete, schien die Sonne hell in ihr Zimmer, das ganz in Rosa und Weiß gehalten war. Ein hübscheres Zimmer konnte kein kleines Mädchen haben. Alles sah so frisch darin aus, und man sollte meinen, sie müsse allein über den schönen Morgen vor lauter Freude lachen; statt dessen gähnte sie laut, als sie sich im Bett aufrichtete, und ihr Blick folgte gelangweilt dem Schattenspiel im Sonnenstrahl.

»Ellen,« rief sie. Ein junges Mädchen trat in das Zimmer.

»Ach, schon aufgewacht, Gladys! Hat Mutter Natur dir nicht schönes Wetter zum Geburtstag beschert?«

Die freundliche Bonne half dem kleinen Mädchen beim Baden und Anziehen und versuchte währenddessen, durch allerlei Scherze einen fröhlicheren Ausdruck auf Gladys Gesicht hervorzuzaubern. »Kannst du wohl raten, welche Überraschung deine Mama für dich hat?« fragte sie schließlich.

»Ich weiß nicht,« erwiderte das Kind und verzog das Mäulchen. »Es gibt nichts, was mir fehlt. Ich habe versucht, mir auszudenken, was ich wohl haben möchte, aber mir fällt nichts ein.« Das kam in einem Ton heraus, als sei sie durch die Unfreundlichkeit anderer beleidigt worden.

Ellen schüttelte den Kopf. »Unglückliches Kind!« sagte sie nachdrücklich.

»Das bin ich nicht,« entgegnete Gladys mit erstauntem Blick auf Ellen. Welche Idee, sie, die vom Morgen bis zum Abend von ihren Eltern als deren größter Schatz behütet wurde, unglücklich zu nennen! Sie hatte nie im Leben einen Wunsch ausgesprochen, der nicht befriedigt worden wäre. »So etwas darfst du nicht zu mir sagen, Ellen,« fügte das Kind hinzu; es ärgerte sie, daß ihre Jungfer den gemachten Fehler gar nicht zu bedauern schien.

Ellen war seit Gladys Geburt als deren Pflegerin im Hause, und keiner als sie wußte besser, welch glückliches Leben das Kind führte, und wie sehr es von seinen Eltern verwöhnt wurde; aber Ellen schüttelte nur den Köpf. Als Gladys angezogen war, ging sie hinunter ins Eßzimmer, wo ihre Eltern sie erwarteten, um ihr Glück zu wünschen. Sie küßten sie liebevoll, und die Mutter sagte:

»Nun, was möchte mein Töchterchen wohl geschenkt haben?«

»Was habt ihr denn für mich?« fragte Gladys wenig interessiert. Sie hatte Schränke und Schiebladen voll Spielsachen und Bücher; sie war wie jemand, den man unaufhörlich festlich bewirtet hat und dann auffordert, sich von neuem an einen mit Leckerbissen überladenen Tisch zu setzen.

Anstatt zu antworten, zog ihre Mutter hinter einem Schirm eine wundervolle Puppe hervor. Sie war größer und schöner als alle, die Gladys zuvor besessen hatte; hinter den geöffneten Lippen blitzten kleine perlweiße Zähne hervor. Gladys sah sie an, ohne sich zu rühren, aber sie lächelte. Dann legte die Mutter die Hand um die Taille der Puppe und plötzlich sagte diese: »Ma–ma, Pa–pa.«

»O, wenn sie sprechen kann!« rief Gladys und sah für einen Augenblick strahlend aus, als sie auf die Puppe zustürzte und sie in die Arme nahm.

»Sie heißt Vera,« sagte die Mutter, ganz beglückt, daß es ihr gelungen war, ihr Kind zu erfreuen. »Und hier ist etwas, das Großmutter für dich geschickt hat, Liebling. Ist das nicht ein eigenartiger alter Gegenstand?« Dabei wies sie auf eine schwere, antike silberne Schale mit einem Deckel, auf dem eingraviert war: ›Geben ist seliger denn Nehmen‹.

»Wo Großmama dieses seltsame alte Ding aufgefunden haben mag, und weshalb sie es einem so kleinen Mädchen wie dir schickt, weiß ich nicht; aber sie meint, es wäre ein Erbstück für dich.«

Gladys besah und betastete die Schale neugierig. Der Deckel paßte so genau, und das Silber schien so blank; es gefiel ihr, ein Besitztum zu haben, das eigentlich nur für eine Erwachsene bestimmt war.

»Augenscheinlich ist es wertvoll,« sagte die Mutter. »Ich will es zu unserm Silber stellen lassen.«

»Nein,« sagte Gladys in dem eigensinnigen Ton eines verzogenen Kindes. »Ich will es oben in meinem Zimmer haben. Ich mag es leiden.«

»Na ja, schön,« antwortete die Mutter. »Es wird Großmama freuen, daß es dir Spaß macht.«

Für Gladys war heute ein Ausflug aufs Land geplant. Sie hatte einen Cousin und eine Cousine dort; das Mädchen war in demselben Alter wie sie, der Knabe etwas älter. Seit fünf Jahren hatte sie Fides und Ernst nicht gesehen. Die Eltern waren auf lange Zeit abwesend; die Kinder lebten in dem alten Landhause unter der Obhut einer Tante ihres Vaters. Gladys Mutter hatte gedacht, es wäre bei dem schönen Juniwetter eine nette Abwechslung für die Kleine, und Gladys gefiel der Gedanke, sich den Kindern in ihrer ganzen Zierlichkeit, in den feinen Kleidern zu zeigen; vielleicht würde sie ihnen auch ein oder zwei alte Spielsachen, die sie am wenigsten leiden mochte, mitnehmen; aber Veras Erscheinung ließ sie diese Idee völlig vergessen. Was würde Fides zu einer sprechenden Puppe sagen! –

Gladys konnte kaum die Zeit für die Abfahrt erwarten; und da Vera verschiedene Toiletten besaß, war sie bald gleich ihrer Mama mit einem hübschen sommerlichen Straßenkleid geschmückt und zur Abfahrt bereit.

Gladys Vater hatte Gäste, deshalb blieb ihre Mutter auch daheim, und Ellen übernahm die Begleitung.

Auf der Fahrt nach dem Bahnhof und während der einstündigen Eisenbahntour war Gladys in bester Laune, plapperte über ihre Puppe und beschäftigte sich mit den hübschen Puppenkleidern; jedesmal, wenn Vera ihre üblichen Worte hören ließ, lachte das Kind fröhlich auf, und Ellen lachte mit. Gladys war zehn Jahre alt, aber für die Bonne war sie noch das Baby, und wenn Ellen auch überzeugt war, daß die Eltern täglich Fehler in der Erziehung ihres Kindes machten, so war sie doch gleich ihnen froh, wenn die Kleine artig war; daher stimmte sie in deren Freude über das Geburtstagsgeschenk herzlich ein.

»Wird Fides nicht Augen machen, wenn sie Vera sieht?« fragte Gladys fröhlich.

»Das will ich meinen,« antwortete Ellen. »Was hast du denn als Geschenk für sie und ihren Bruder mitgenommen?«

Das Kind zuckte mit den Schultern. »Nichts. Ich wollte es; aber ich vergaß es aus Freude über Vera. Hat sie nicht schönes Haar, Ellen?« Gladys wickelte die weichen goldigen Haare um die Finger.

»Ja; aber es wäre netter gewesen, wenn wir den beiden etwas mitgebracht hätten. Sie bekommen nicht so viel geschenkt wie du.«

»Natürlich nicht. Ich glaube, sie haben überhaupt nicht viel. Du weißt doch, daß sie arm sind. Mutter schickt ihnen manchmal Geld; das genügt.« Gladys bohrte die Spitze des Fingers zwischen Veras rosige Lippen und berührte deren kleine weißen Zähne.

Ellen schüttelte den Kopf; Gladys sah es und schmollte.

»Warum hast du denn nicht daran gedacht oder Mutter?« fragte sie.

»Du wirst nicht immer im Leben jemand haben, der für dich denkt,« entgegnete Ellen. »Du tätest besser, schon jetzt zu lernen, an andere zu denken, Gladys. Was steht auf der silbernen Schüssel von deiner Großmutter?«

»Ach, ich weiß nicht. Irgend etwas über Nehmen und Geben.«

»Ja. ›Geben ist seliger denn Nehmen‹, das steht darauf,« und Ellen sah ihre kleine Gefährtin fest an, wenn auch mit sehr sanftem Blick; sie liebte das Kind, dem sie so oft den Schlaf in der Nacht und ihre freie Zeit am Tage geopfert hatte.

»Ja, ich weiß,« entgegnete Gladys. »Großmama ließ es daraufsetzen, weil sie mich daran erinnern wollte, wieviel lieber sie mir etwas schenkt, als daß sie sich von anderen etwas schenken läßt. Aber das sage ich dir, Ellen, wenn du an meinem Geburtstage böse mit mir sein willst, dann möchte ich lieber, Mama wäre mitgekommen, und du wärest zu Hause geblieben.« Mißmutig verzog die Kleine das Gesicht, und Ellen beeilte sich, das Kind aufzuheitern, indem sie das Thema wechselte. Sie wußte genau, daß Gladys Eltern sie tadeln würden, wenn sie ihren Abgott erzürnte. Immer wenn das Töchterchen besonders unartig oder selbstsüchtig war, sagten sie: »Ach, Gladys wird das mit der Zeit ablegen. Wir wollen nicht viel Aufhebens davon machen!«

Als sie das Reiseziel erreichten, war Gladys wieder guter Stimmung; sie nahm die Puppe auf den Arm und stieg fröhlich mit Ellen aus dem Zuge.

Fides und Ernst erwarteten sie. Kein Wunder, daß die Kinder sich gegenseitig nicht erkannten; sie waren noch klein, als sie sich zuletzt gesehen hatten. Gladys neugieriger Blick fiel auf das kleine Landmädchen, und sie fühlte sich in dem Augenblicke wie eine Prinzessin, die unterwürfige Untertanen mit ihrem Besuche beehrt.

Fides und Ernst würden sich nie für unterwürfige Untertanen gehalten haben. Ihre reiche Tante, die in einer ihnen unbekannten Stadt lebte und ihrer Mutter manchmal Geldgeschenke machte oder Zeug schickte, hatte oft ihre Dankbarkeit wachgerufen. Daher waren sie erfreut, als sie hörten, daß ihre Cousine Gladys an ihrem Geburtstage das Gut besuchen möchte und trafen gleich nach besten Kräften Vorbereitungen, um ihr den Tag recht angenehm zu gestalten. Sie waren immer guter Dinge, und jetzt, am Anfange der Ferien, schienen ihnen die Tage eitel Freude und Sonnenschein. Sie stellten es sich sehr hart vor, in einer Stadtstraße leben zu müssen, wie die Mutter es ihnen beschrieben hatte, und wenn diese auch jetzt fort war und ihnen nicht raten konnte, waren sie doch sicher, daß Gladys sich bei ihnen amüsieren würde.

Fides trug das Haar so kurz geschnitten wie ihr Bruder; ihr Kattunkleid war einfach, aber sauber und frisch. Sie beobachtete genau alle Personen, die aus dem Zuge stiegen. Als ein hübsches kleines Mädchen mit braunen Augen und lockigem Haar, eine große Puppe im Arm, erschien, war sie sehr erfreut, daß das die erwartete Cousine war. Sie nahm ohne weiteres an, die fein in Schwarz gekleidete Ellen, mit dem freundlichen Gesicht, sei ihre Tante und begrüßte sie dementsprechend; aber Gladys sah sie erstaunt an und sagte: »Meine Mutter konnte nicht kommen, Papa hatte Besuch. Dies ist meine Bonne Ellen.«

»Ach so,« sagte Fides, ganz eingenommen von solcher Vornehmheit. »Wir dachten, Tante Helene würde mitkommen. Ernst hält das Pferd da drüben,« damit ging sie auf einen zweisitzigen Wagen zu, neben dem ein zwölfjähriger Knabe wartete. Er war mit einem gestreiften Flanellhemd bekleidet und hatte einen alten Filzhut auf dem Kopfe.

Fides machte sie miteinander bekannt und half dann Gladys und Ellen auf den Hintersitz, ohne zu ahnen, daß die Cousine sich über den Mangel an elegantem Geschirr und Tuchkissen wunderte. Dann kletterte Fides selbst über das Rad auf den Sitz neben ihrem Bruder und fort ging es. Um bequemer sprechen zu können, drehte sie sich zu ihrem Gaste herum.

»Was für eine wunderschöne Puppe!« sagte sie voll Bewunderung.

»Ja,« antwortete Gladys, »heute ist mein Geburtstag, weißt du.«

»Ach, ist sie ganz neu? Das sieht man gleich. Was für reizende Sachen sie hat! Hast du ihr schon einen Namen gegeben?«

»Sie heißt Vera. Mutter sagt, das bedeutet wahr oder Wahrheit, oder so etwas Ähnliches.«

Ernst drehte sich halb herum, um einen Blick auf den Gegenstand zu werfen, den die kleinen Mädchen bewunderten; aber er fand Gladys viel anziehender als die Puppe.

»Von dir, junger Herr, kann Gladys wohl nicht viel Bewunderung für ihre Puppe erwarten,« sagte Ellen. Ihr gefielen die blühenden Kinder von vornherein so gut, wie die frische sonnenwarme Luft, die ihnen die Backen rosig gefärbt hatte.

»Doch, sie ist hübsch,« entgegnete Ernst; er setzte sich wieder zurecht und trieb das Pferd an.

Gladys weidete sich an Fides Entzücken. Veras höchste Leistung wollte sie bei diesem rasselnden, stoßenden Fahren nicht preisgeben. Wie schrecklich der Wagen über die vielen Steine auf dem ländlichen Fahrdamm fortholperte!

Ellen lächelte Gladys freundlich an, als die Kleine sich an ihren Arm klammerte, aus Furcht, das Gleichgewicht zu verlieren. Das war ein »Komplimenthopser«, sagte sie, als der Wagen plötzlich über einen kleinen Hügel hopste. »Hast du nicht gesehen, welch' artige Komplimente wir alle machten?«

Aber Gladys fand es nur recht unbehaglich und meinte, Ernst führe in Anbetracht des schlechten Weges wohl zu rasch.

»Dieser Wagen hat so gute Federn,« sagte Fides. Sie hätte gar zu gern Vera auch einmal auf den Arm genommen, aber es war ja kein Wunder, daß Gladys sie lieber selbst behalten wollte, da sie die Puppe erst so kurze Zeit besaß.

Tante Martha stand auf der Terrasse, um die Ankommenden zu begrüßen. Sie war eine ältere Dame; auch ihr mußte auseinandergesetzt werden, daß Ellen nicht Gladys Mutter sei.

Die Bonne sah in ihrem einfachen Straßenkleide so gut angezogen aus, daß Tante Martha schon in Gedanken darüber seufzte, eine moderne, städtische Bonne bewirten zu müssen; sie fühlte sich daher sehr erleichtert, als die Fremde aufsah und bescheiden sagte: »Ich bin Ellen, Gladys Bonne.«

Sie hatten bis zum Mittagessen noch eine Stunde Zeit, und so gingen die Kinder mit Gladys an einen Platz, den sie den Hain nannten.

Das Landhaus war hellgelb und weiß angestrichen. Es stand auf einer mit Gras bewachsenen Anhöhe; davor lag ein größerer Teich, der in einen Bach auslief. Von der Terrasse aus konnte man bei ruhigem Wetter das sanfte Murmeln des kleinen Flusses hören. In der Nähe stand eine große Ulme, so breitästig, daß die beiden Goldamseln, die ihr Nest in einem der Zweige hatten, kaum auf dem Grüßfuße standen mit den Rotkehlchen, die auf der anderen Seite im Baum wohnten. Die Luft war voll süßer Blütendüfte.

Gladys war ihren Gastgebern willig nach der Rechtswand des Hauses gefolgt, wo eine Steinmauer den Garten von einem Wäldchen trennte. Die Kinder sprangen über die Mauer, und Gladys versuchte, einen bequemen Platz zum Übersteigen zu finden. Ihre zierlichen dünnen Schuhe und die große Puppe hinderten sie jedoch, sich frei zu bewegen.

»Ach, laß mich sie nehmen!« rief Fides eifrig, als sie ihre Cousine in dieser Notlage sah. Während sie die schöne Vera sorgsam herüberhob, rief sie Ernst zu: »Hilf doch Gladys.«

Ernst war durchaus nicht an kleine Mädchen gewöhnt, die der Hilfe bedurften; er benahm sich recht ungeschickt bei diesem Versuche, und so faßte Gladys nach seiner starken Schulter, als sie auf den wackeligen Steinen ausglitt, und sprang rasch hinunter.

»Papa und Ernst haben diesen Hain für uns ausgeholzt,« erklärte Fides.

Alles Unterholz war entfernt worden, und die geraden, duftenden Fichten breiteten ihre Zweige über einen Teppich von trocknen Nadeln. Zwischen den Bäumen hing eine Hängematte, die mehr von der Mutter der Kinder benutzt wurde als von diesen selbst, da sie zu lebhaft waren, um ruhig darin zu liegen; aber Gladys lief gleich darauf zu mit der wiedergewonnenen Puppe im Arm und setzte sich bequem in dem Netz zurecht. Die Kinder betrachteten sie voll Bewunderung, wie sie so niedlich dasaß und die Hängematte mit den zierlichen Fußspitzen in schaukelnde Bewegung brachte.

»Ich will dich schaukeln,« sagte Ernst und begann sofort die Hängematte mit solcher Kraft zu schwingen, daß Gladys rief: »O nicht so stark, nicht so stark!« – Da ließ der Knabe beschämt die Hände sinken.

Während sie beide vor ihr standen, bot sich eine gute Gelegenheit für Gladys, mit ihrer Überraschung herauszukommen; sie legte beide Hände um Veras Taille und gleich ertönte es in dem stillen Hain: »Ma–ma, Pa–pa.«

Ernst spitzte die Ohren. »Ich höre ein Lamm,« sagte er und blickte suchend umher.

Gladys stieg das Blut in die Wangen, aber sie suchte bei Fides Beifall und ließ die Puppe ihre Kunst wiederholen.

»O, das ist die süße Vera!« rief Fides und sank vor Gladys in den Tannennadeln auf die Knie. »Ach, laß sie es noch einmal tun, Gladys, bitte, bitte!«

Der Besuch lächelte und tat ihr den Gefallen, erfreut über das Entzücken der kleinen Landcousine.

»Denk' doch, eine Puppe, die sprechen kann!« rief Fides.

»Ich finde, sie blökt,« lachte Ernst und ahmte Veras hohe Töne nach.

Fides lachte mit, aber Gladys blitzte ihn mit den braunen Augen an.

»Was weiß ein Junge von Puppen,« sagte Fides. »Wie mußt du überglücklich sein, Gladys!«

»Das bin ich,« erwiderte Gladys gleichmütig. »Was hast du denn für Puppen, Fides?«

»Niedrigsten Pöbel,« scherzte Ernst.

»Sei ruhig,« sagte seine Schwester, »ich will dir meine Puppen zeigen, wenn wir zu Tisch gehen, Gladys. Ich spiele nicht so viel mit ihnen, weil Ernst nichts danach fragt, und jetzt in den Ferien spielen wir beide viel zusammen; aber ich habe sie lieb, meine Puppen, und wenn du länger hier bliebest, würden wir viel Spaß mit ihnen haben.«

Fides sah so fröhlich aus, als sie sprach, daß Gladys wünschte, sie hätte ihr etwas mitgebracht. Über Ernst war sie sich nicht so recht klar. Er war ein hübscher, kräftiger Junge, aber er hatte sich über Vera lustig gemacht. Eben jetzt ließ er seine überschüssige Kraft im Klettern auswirken.

»Nimm dich vor Harz in acht, Ernst,« warnte die Schwester und sprang mit den Worten: »Sieh' her, Gladys, mein Pferd,« auf einen niedrigen, biegsamen Fichtenzweig, der ihr einen bequemen Sattel bot. Gladys nickte gleichgültig, während Fides sich vergnügt auf und ab schwang.

»Ich habe ein Pony,« bemerkte Gladys aus ihrer schaukelnden Wiege.

»Das muß fein sein,« sagte Fides. »Emst reitet manchmal ohne Sattel auf unserm alten Tom um die Wiese herum, aber ich kann das nicht.«

Bald darauf wurden die Kinder zu Tisch gerufen, und Gladys fand die Speisen sehr wohlschmeckend; sie merkte sich besonders Weichkäse, Apfelweinsauce und in Schmalz gebackene Kuchen, um sie auch gleich daheim bestellen zu können.

Als sie im Begriff waren, vom Tische aufzustehen, kam ein Telegraphenbote in einem einspännigen Wagen vorgefahren und brachte ein Telegramm für Ellen. Nachdem sie es gelesen, sah sie erstaunt auf und fragte Tante Martha: »Dürften wir wohl ein paar Tage hierbleiben?«

»Was steht darin, Ellen,« fragte Gladys.

»Der Freund deines Vaters möchte deine Eltern auf eine kleine Tour mitnehmen, und deine Mutter meint, du würdest vielleicht gern ein bißchen hierbleiben. Ich soll antworten, ob es möglich ist, dann will sie uns die nötigen Sachen herschicken.«

Tante Martha hatte die gute, vernünftige Ellen schon liebgewonnen und ging gern darauf ein; so wurde dem Boten eine bejahende Antwort mitgegeben, und Fides und Gladys sprangen fröhlich umher, vergnügt über die Verlängerung des Besuchs; auch Ernst schien sich zu freuen. Trotz ihrer etwas zimperlichen, unbeholfenen Art und Weise bewunderte er Gladys sehr; sie liefen alle zusammen hinaus und ließen Vera auf einem Stuhl im Wohnzimmer sitzen.

»Hast du Schildkröten gern?« fragte Fides ihren kleinen Gast.

»Ich weiß nicht,« antwortete Gladys.

»Hast du nie welche gesehen?« fragte Ernst erstaunt.

»Ich glaube nicht.«

»Dann komm' mit!« rief der Knabe mit einem freudigen Jauchzer, »und laß uns jetzt Schildkröten jagen.«

Gladys lief mit ihnen an den Bach.

»Ernst soll drüben am Wasser entlanggehen,« sagte Fides, »und wir beide gehen an dieser Seite.«

»Was wollen wir denn machen?«

»Nach Schildkröten suchen; komm' nur.«

Ernst sprang über den Bach. Gladys ging in dem weichen Grase hinter Fides her, und der murmelnde Bach kräuselte seine kleinen Wellen um die Steine und zog sanft die Köpfe der Gräser ins Wasser.

Im nächsten Augenblick gewahrte Fides' geübtes Auge einen dunklen Körper auf einem Steine, gerade vor ihnen. Es war eine Schildkröte, die sich sonnte. Ihr Rückenschild war mit hellen, gelben Flecken bedeckt, und ihre Augen zwinkerten schläfrig in dem warmen Lichte.

»Rasch, Ernst!« rief Fides, denn die Schildkröte lag an seiner Seite des Baches.

Er sprang vor, aber nicht schnell genug. Die Schildkröte brauchte sich nur einen kräftigen Ruck mit den Hinterfüßen zu geben, und plumps fiel sie ins Wasser. Das Wasser wurde sofort trübe an der Stelle, denn Frau Schildkröte wußte wohl, daß sie sich sehr sputen müsse, um den eifrigen Kindern, die ihr nachstellten, zu entkommen.

Sie grub sich in die weiche Erde, während Ernst und Fides sich mit dem Leib platt auf den Boden legten. Gladys sah mit weitaufgerissenen Augen, wie die Kinder mit aufgekrempten Ärmeln blindlings mit den Händen umhertauchten, in der Hoffnung, ihre widerspenstige Spielgefährtin einzufangen.

Ernst hatte Erfolg. Er brachte die schlammige Schildkröte aus ihrem Zufluchtsort hervor und spülte sie im Wasser ab, bis ihre goldenen Flecke wieder glänzten.

»Hurra,« rief Fides, »wir haben sie. Laß mich sie Gladys zeigen, bitte, Ernst.« Der Knabe legte die Beute in die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

Sobald das Tier herausgefunden hatte, daß Strampeln und Wehren nichts nützte, zog es Kopf, Beine und Schwanz unter sein hübsches Schild.

Fides legte die Schildkröte in Gladys Hand, aber das kleine Stadtfräulein schrie auf und ließ sie ins Gras fallen.

»Entschuldige,« lachte Fides, »ich dachte, du wolltest sie sehen.«

»Das wollte ich auch, aber ich mag sie nicht anfassen.«

»Wieso, sie sind so lieb und rein,« sagte Fides, nahm die Schildkröte auf und zeigte ihrer Cousine das hübsche Bauchschild und die runden Goldpünktchen auf dem schwarzen Rückenschild.

»Aber ich sah doch, wie sie strampelte und Ernst kratzte und den Kopf lang herausstreckte,« sagte Gladys zweifelnd, »und ich mag sie nicht anfassen, weil sie alle ihre Beine wieder ausstrecken könnte.«

Fides lachte. »Sie hat nur vier Beine und einen lustigen kleinen Schwanz; wir verstehen sie so zu halten, daß sie uns nicht kratzen kann; aber sie wird ihren Kopf nicht eher wieder herausstrecken, bis sie denkt, daß wir fort sind, denn dies ist ein altes Tier. Sieh' mal, das Schild bedeckt meine ganze Hand. Die kleinen sind viel lebhafter und strecken viel eher mal den Kopf heraus. Ich glaube, wir haben diese bis jetzt noch gar nicht gefangen gehabt, Ernst,« fügte Fides nach genauer Musterung hinzu. »Wir gebrauchen die großen fast immer als Pferdchen, und dann bleibt ein Bohrloch in dem Schild zurück.«

»Wer mag wohl so etwas tun?« rief Gladys und trat zurück.

»Wieso? Ernst tut es!« sagte Fides, und auf den entsetzten Blick ihrer Cousine hin, erklärte sie: »Es tut ihnen nicht weh. Wir würden ihnen um keinen Preis wehtun. Wir haben sie ja gern, und wenn sie nicht so dumm wären, würden sie uns auch gern haben.«

»Ihr gebraucht sie als Pferdchen. Wie meint ihr das?«

»Sie müssen meine kleinsten Puppen in niedlichen Wägelchen ziehen.«

»Ach so,« sagte Gladys. Das klang ja ganz geheimnisvoll und interessant. Sie ließ sich sogar das reine feste Schild einen Augenblick in die Hand legen, ehe Fides ihren Kleiderrock hochnahm und die Schildkröte darin unterbrachte; dann gingen die drei weiter am Bach entlang und hielten sorgsam Umschau.

Der warme, sonnige Tag lockte die Schildkröten heraus; die nächste, die sie sahen, war nicht größer als Ernsts Handfläche. Sie schwamm gemächlich mit dem Strom dahin.

Sie sahen sie alle drei zu gleicher Zeit; aber so flink Fides auch war, das lebhafte kleine Tier war flinker. Als Fides und Ernst darauf losschossen, krabbelte es an die Seite und grub sich rasch unter der Graskante ein. Das war der sicherste Schutzplatz für die Schildkröten, das wußten die Kinder wohl.

»Sie darf mir nicht entwischen, nein, sie darf nicht!« rief Fides, und Gladys wunderte sich über die furchtlose Energie, mit der Fides die Hand in den Schlamm grub, ohne Rücksicht darauf, an welchem Körperteil sie das kleine Tier zu fassen bekam, wenn sie es nur fing und wirklich, sie fing es. Mit einem Jubelschrei zog sie die Schildkröte hoch, die in der Luft weiter heftige Schwimmbewegungen machte.

»Die ist fein und so lebendig!« rief Fides. »Du kannst sie im Grase laufen sehen, Gladys.« Das kleine Mädchen setzte das Tier nieder und ließ es landeinwärts laufen; es lief, so schnell es konnte, um seinen Bezwingern zu entkommen. »Weißt du, Ernst schirrt sie an eine kleine Pappschachtel, und ich setze meine kleinsten Puppen hinein, das macht Spaß,« – aber inzwischen hatte die Schildkröte begriffen, daß sie landeinwärts reiste, und kehrte schnell um.

»Nein, nein, meine Liebe, noch nicht!« rief Fides lachend und hob das kleine, flinke Tier auf. »Sieh, so muß man sie halten;« sie hielt das Schild zwischen Daumen und Mittelfinger, so daß die vier Beinchen vergebens in der Luft umherruderten. »So, du kleine Listige,« sagte sie mit einem Blick in die hellen Augen der Schildkröte, »geh' und begrüße deine Tante oder deinen Onkel, oder wer es sonst sein mag.« Damit legte sie sie zu der ersten in ihren Rock und ging mit den anderen weiter.

»Hoffentlich finden wir einen Prinzen,« sagte Ernst. »So einen müßte Gladys sehen.«

»O ja,« antwortete Fides. »Die können wirklich kneifen und werden größer als die gewöhnlichen; sie sind so hübsch, aber so schwer zu finden; wir nennen sie Prinzen. Ihr Rückenschild ist grau und so glatt und blank wie Atlas, und das Bauchschild – wie das hübsch ist! manchmal schlicht elfenbeinfarbig und manchmal leuchtend rot, und wo das untere und das obere Schild zusammentreffen, sind entzückende gelbe und schwarze Flecke. Ich möchte, du könntest eine Babyschildkröte sehen, Gladys. Einmal habe ich eine gefunden, die war nicht größer als der vierte Teil eines Talers. Ich glaube, sie war noch niemals im Wasser gewesen.«

»Ach ja, das möchte ich gern,« sagte Gladys begeistert. »Vor einer ganz, ganz kleinen würde ich mich gar nicht fürchten.«

»Die kleine, die Fides damals fand, war natürlich eine ganz gewöhnliche wie diese,« sagte Ernst, »aber einen Babyprinzen – wenn wir den finden könnten!«

»Ja, das wäre aber was,« seufzte Fides entzückt. »Wenn ich einen Babyprinzen finden könnte mit einem roten Bauchschild, wüßte ich nicht, was ich vor Freude tun würde! Dann wäre ich zu, zu glücklich! Zwei ganze Sommer habe ich nach einem gesucht. Die großen kneifen so, daß man nicht viel Spaß an ihnen haben kann, trotzdem sie so hübsch sind.«

Die Kinder gingen weiter, Gladys jetzt mit demselben Jagdeifer wie die andern. Ehe sie sich auf den Rückweg machten, fingen sie noch zwei gefleckte Schildkröten.

Aber dieser Tag sollte in der Geschichte ihrer Schildkrötenjagden rot angestrichen werden, denn auf dem Heimweg fanden sie schließlich noch den vielgesuchten Babyprinzen. Er war schon lange genug auf dieser Welt, um sich zu einem glattgepanzerten Geschöpfchen ausgebildet zu haben; alle seine Schönheitspunkte waren bereits voll hervorgetreten; aber er hatte doch noch nicht lange genug gelebt, um Verdacht zu hegen und wild davonzurasen, als er die Kinder kommen sah.

Fides geübte Augen erspähten zuerst den zierlichen, dunklen Gegenstand, der sich in kindlicher Unschuld fröhlich sonnte und das saftige Gras beäugte, das um seinen Steinsitz wuchs. Fides Herz klopfte laut, und sie dachte: »Ach, es wird wohl wieder eine ganz gewöhnliche sein!« Rasch eilte sie auf den Fußspitzen näher. Nein, es war keine gewöhnliche. Es war ein Prinz! Es war ein Prinz!

Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Den aufgenommenen Kleiderrock mit den Schildkröten in der einen Hand trat sie leise heran, kniete nieder und ergriff den Prinzen, gerade als er sie bemerkte und mit den kleinen Beinchen zum Stoße ausholte, um sich von dem Stein in den Bach gleiten zu lassen.

»O – o – o!« war alles, was sie sagen konnte, als sie dasaß, den Oberkörper hin und her wiegte und den kleinen Prinzen an ihre heiße Backe drückte.

»Was hast du? Sag'!« rief Ernst und sprang über den Bach an ihre Seite.

Ohne ein Wort zu reden, nickte sie dem Bruder und Gladys zu und hielt den Prinzen hoch, so daß man das rote Bauchschild sah, während das Tierchen, sehr erstaunt darüber, daß es frei in der Luft umgedreht wurde, sich in sein Haus zurückzog.

»Ach, das schlaue, schlaue kleine Ding!« rief Gladys mit strahlenden Augen. »Wie froh bin ich, daß wir es gefunden haben.«

Es ging Gladys, wie es vielen anderen auch geht, sobald sie sah, daß irgend etwas für andere von großem Wert war, strebte sie mit Feuereifer danach, es zu besitzen. Wenn sie gestern den Babyprinzen in irgendeinem Laden gesehen hätte, würde sie nicht daran gedacht haben, ihre Mutter zu bitten, ihn ihr zu kaufen; heute aber war er eingefangen worden, ein wildes, kleines Geschöpf, nach dem Fides verlangt und zwei Sommer hindurch gesucht hatte. Die arme Gladys hatte sich ihr Lebtag einzig und allein nur damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was die Leute ihr wohl schenken würden, und wenn sie es bekäme, ob sie es dann wohl wirklich leiden möchte, daß sie jetzt, statt sich über Fides Entzücken zu freuen, nur eine qualvolle Unruhe und Unzufriedenheit empfand.

»Er ist eine kleine Schönheit,« sagte sie und sah ihre Cousine an in der Erwartung, daß diese ihrem Gast die Babyschildkröte schenken würde.

»Warum habe ich sie nicht zuerst gesehen?« dachte sie mit klopfendem Herzen, denn Fides machte keine Anstalten, ihren Schatz weiterzugeben.

»Glaubst du, daß wir noch eine finden?« fragte sie laut, als sie sich weiter auf den Heimweg machten. Der Ton, in dem sie dies sagte, verriet ihr Begehren.

»Nein, das glaube ich nicht,« lachte Ernst. »Zwei solche an einem Tage? Das glaube ich nicht! Laß mich ihn für dich tragen, Fides. Du mußt deinen Kleiderrock ja halten.«

»Nein, danke, Ernst, das macht mir nichts aus, er ist zu niedlich.«

Ernst blieb an der Seite der kleinen Mädchen. Es würde diesem Erlebnis Abbruch getan haben, die Jagd an diesem Nachmittag noch fortzusetzen.

»Wenn ich einen finden könnte,« sagte Gladys, »würde ich ihn mit nach Hause nehmen für mein Aquarium.«

»So, hast du ein Aquarium?« fragte Fides sehr interessiert.

»Ja, ein sehr schönes. Mit Gold- und Silberfischen darin und einer Menge kleiner Wassertiere und einer Grotte mit Pflanzen.«

»Das muß ja wunderschön sein,« sagte Fides, und Gladys sah, wie sie die Lippen an den glatten Rücken des Babyprinzen drückte.

»Wie furchtbar selbstsüchtig sie ist,« dachte Gladys. »Ich würde meine Gäste um keinen Preis derartig behandeln!«

»Du sollst das Aquarium sehen, das Fides und ich haben,« sagte Ernst. »Es ist nur ein Blumenkübel, macht uns aber viel Spaß. Es ist gleichzeitig unser Stall. Hast du bemerkt, daß wir eins von unseren alten Pferden gefangen haben? Zeig' es mal her, Fides.« Ernst wühlte zwischen den Tieren herum und holte eins heraus, das ein kleines Loch in dem Schild aufwies, welches er vorsichtig in dessen Rand gebohrt hatte.

»Das finde ich aber sehr grausam,« sagte Gladys von oben herab.

»Ach nein, das ist es nicht,« entgegnete Fides eifrig. »Eher würden wir uns selbst wehtun als den Schildkröten, nicht wahr, Ernst?«

»Selbstverständlich,« sagte der Knabe ziemlich schroff. Er wollte nicht, daß Gladys ihn für zu weichmütig hielt.

»Es tut ihnen kein bißchen weh,« fuhr Fides fort, »aber weißt du, Schildkröten sind faul. Sie sind alle mit der Schildkröte verwandt, die mit dem Hasen um die Wette lief, wie es in Äsops Fabeln steht.« Sie sah mit lachenden Augen auf Gladys, die nur leicht lächelte. »Und sie wollen nicht besonders gern als Pferde arbeiten, daher behalten wir sie nur ein oder zwei Tage, dann setzen wir sie wieder in den Bach. Ich finde, das ist fast der größte Spaß von der Geschichte; findest du nicht auch, Ernst?«

»Ich weiß nicht,« antwortete ihr Bruder, dem als Mitglied eines Base-ball-Klubs Base-ball ein besonders in Nordamerika übliches Ballspiel auf vier Malen. dieser ganze Schildkrötensport plötzlich ein sehr kindisches Vergnügen zu sein schien.

»Weißt du,« fuhr Fides fort, »wir setzen die Tiere in das Gras, ein, zwei Schritte entfernt vom Bach, und warten.«

»Und sie lassen uns warten,« fügte Ernst hinzu, »denn sie ziehen sich stets in ihr Haus zurück und schließen die Fensterladen, sobald wir sie irgendwo mit hinnehmen.«

»Aber wir drücken sie ein bißchen auf den Rücken,« sagte Fides, »dann stecken sie ihre Nase heraus, und wenn sie den Bach riechen, dann geht die Reise los. Es ist zu komisch, wenn sie hineintauchen, holterdipolter! Dann krabbeln sie umher und vergraben sich im Schlamm und verstecken sich vor uns, gerade als wollten wir sie daran hindern. Sie sind eigentlich recht dumm, das muß ich sagen,« lachte Fides, »und es ist ungeheuer schwer, ihnen beizubringen, daß wir sie gern haben; aber,« setzte sie mit zärtlichem Tone hinzu, als sie den Babyprinzen hochhielt, »du wirst es begreifen, daß ich dich lieb habe, nicht, du kleiner Süßer, wenn ich dir jeden Tag kleine Stücke rohes Fleisch gebe!«

Die Wolke des Unmutes auf Gladys Stirn verdichtete sich.

»Kommt mit, laßt uns schnell die Schildkröten fortbringen und dann ein wenig rudern. Magst du rudern, Gladys?« fragte Ernst.

»O ja, ganz gern,« antwortete sie kühl.

Sie liefen den Hügel hinauf. Dort stand an der Seite des Hauses ein flacher Wasserkübel mit einem Stein in der Mitte, dessen Spitze hoch und trocken war. Auch lag eine Holzschindel darin, so daß die Tiere sich ganz nach Belieben auf derselben sonnen oder schwimmen konnten. Der obere Rand des Kübels war mit Zink bekleidet, an dem die scharfen kleinen Krallen keinen Halt zum Hinausschlüpfen fanden.

»Es macht Spaß, sie hineinkrabbeln zu sehen,« sagte Fides und setzte eine auf den Stein und eine auf das Holz, wo sie zuerst ohne ein Lebenszeichen liegenblieben; aber nach einer Minute kamen Kopf und Beine zum Vorschein, mit den starken Füßen stießen sie von ihren Plätzen ab, und plumps verschwanden sie im Wasser; sie gingen auf den Grund, augenscheinlich in der Überzeugung, ihre Angreifer überlistet zu haben.

»Willst du dir nicht eine davon für dein Aquarium aussuchen, Gladys? Es ist so amüsant, ihnen Namen zu geben.«

Der Gast zögerte einen Augenblick. »Dann suche ich mir das Baby aus,« sagte sie. »Du weißt doch, ich bin bange vor den großen.«

Ernst dachte, sie machte Spaß. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß jemand, der Fides Freude über das Auffinden des Prinzen miterlebt hatte, im Ernst daran denken könnte, ihn ihr fortzunehmen.

»Ja,« lachte er, »ich glaube, auf den haben weder du noch ich irgendwelche Aussicht, Gladys.«

Fides' Gesichtsausdruck wurde ernst und ihr Blick nachdenklich.

»Schnell, schnell, Mädels,« rief Ernst, »macht zu, wir haben nicht viel Zeit mehr.«

So blieben die Schildkröten, der Prinz und alle andern ihrem Vergnügen in dem Kübel überlassen, und das Trio ging an den Teich, wo Ernst das Boot losmachte. Fides sprang hinein, aber Gladys setzte die kleinen Füße zaghaft auf den schwankenden Bootsteg, und die Kinder mußten ihr ins Boot helfen, wie sie ihr über die Mauer geholfen hatten.

»Ich wollte, ich hätte Vera mitgebracht,« sagte sie, als sie sich gesetzt hatte, und Ernst das Boot abstieß.

»Nächstes Mal,« sagte Fides.

»Ich meine, Ernst könnte sie wohl eben holen,« seufzte Gladys. »Ich bin nicht gewöhnt, so viel umherzulaufen, und bin zu müde, sie selbst zu holen.«

»Was, ich soll den Hügel hinauflaufen einer Puppe wegen!« fragte der Knabe lachend. Es schien ihm, als fände seine hübsche Cousine Vergnügen daran, Scherz zu treiben. »Ihr könnte leicht etwas zustoßen, ehe du sie wiedersiehst,« fügte er schalkhaft hinzu.

Der von Bäumen umsäumte Teich bot im Sommer einen reizenden Wasserspiegel, im Winter diente er als Sportplatz. Fides und Ernst schwatzten ihrer Cousine von den Schlittenfahrten und dem Schlittschuhlaufen vor, aber ihre leuchtenden Gesichter und fröhlichen Erzählungen vertieften nur das unbehagliche Gefühl, dem Gladys im Herzen Einlaß gewährt hatte.

Ihre Verwandten hatten mehr Vergnügungen als sie. Das war nicht recht. Sie hatte kein Auge für die hübsche Landschaft um sie her, durch die Ernsts starker Arm das Boot lenkte. Fides bemerkte ihren veränderten Ausdruck und fragte sich zum erstenmal verwundert, wie es ihnen wohl behagen würde, Gladys für – sie wußten nicht wie lange – als lästige Gefährtin zu haben; aber sie versuchte nur noch eifriger, den heiteren Ausdruck auf ihres Gastes Gesicht zurückzubringen.

Bald darauf begann Gladys, das Boot zu schaukeln.

»Laß das, bitte,« sagte Ernst.

Es lag etwas wie ein Befehl in seinem Ton, und das verzogene Kind schaukelte noch stärker.

»Hör' auf, sag' ich dir, Gladys,« rief er scharf.

»Bitte, laß es,« fügte Fides freundlich hinzu.

Aber Gladys lachte spöttisch und schaukelte schadenfroh wie nie zuvor weiter, infolge des Irrtums, den sie in ihrem Bewußtsein aufgenommen hatte. Sie war herablassend genug gewesen, in dieses Landhaus zu kommen und wollte den Landkindern nun einmal zeigen, daß sie gar kein Recht besäßen, ihr etwas zu befehlen.

Ernst sagte nichts weiter, aber er drehte das Boot sofort um und ruderte auf das Ufer zu.

»Was hast du vor?« fragte Gladys.

»An Land zu gehen.«

»Das will ich aber nicht,« rief sie mit hochroten Backen. »Ich will da hinauf,« ihre Hand deutete in die Ferne. »Ich will um die Ecke fahren und sehen, wie es da aussieht.«

»Heute nicht,« sagte Ernst und ruderte emsig weiter.

Wir wollen lieber keinen Blick in Gladys Herz tun und sehen, was da vorging; – es war etwas sehr Unerfreuliches!

»Sieh', Gladys, wir sind die Mannschaft,« sagte Fides, etwas beängstigt durch die blitzenden Augen und die erhitzten Wangen ihrer Cousine. »Wir müssen tun, was Ernst sagt. Er versteht sehr viel vom Bootfahren, Gladys, und es ist gefährlich zu schaukeln. Wirklich, der Teich ist tief.«

»Dann werde ich allein mit dem Boote hinausfahren,« erklärte Gladys.

»Das wirst du nicht tun,« bemerkte Ernst lächelnd. »Leute, die schaukeln, müssen unter Aufsicht gestellt werden.«

Fides blickte ihn flehentlich an. »Ich will dich morgen hinausfahren, wenn du versprichst stillzusitzen,« fuhr er fort; »denn, wenn mit dem Boot etwas passiert, könnte ich euch nicht beide retten, siehst du, und wahrscheinlich würde ich zunächst versuchen, Fides zu retten; du tust wirklich besser, jetzt an Land zu gehen und darüber nachzudenken.«

Gladys starrte ihn an, aufs höchste erstaunt darüber, daß jemand so zu ihr sprechen könne. Weshalb war sie eigentlich hierher gekommen?

Äußerlich zeigte sie nur Gleichgültigkeit und sagte: »Wie albern, so bange zu sein.«

Darauf wurde sie ganz still, denn ihr lag jetzt nur daran, zu Ellen zu kommen und ihr ihren Kummer anzuvertrauen. Als sie ans Land sprang, hielt sie aber doch Fides Hand krampfhaft fest, weil das Boot schaukelte.

Die warmherzige Fides bedauerte ihre Cousine, deshalb begann sie, von Vera zu reden, als sie den Hügel hinaufstiegen und sagte, sie möchte die Puppe so gern wieder einmal sprechen hören.

Gladys Lippen blieben fest geschlossen. Der Irrtum, der von ihr Besitz ergriffen hatte, war noch nicht gewichen, und so dachte sie: »Das sollst du ganz gewiß nicht!«

Inzwischen waren sie vor dem Hause angelangt, und Gladys war froh, Ellen auf der Terrasse erscheinen zu sehen. Ellen trug etwas Glänzendes in den Händen und lächelte.

»Nun, Gladys,« sagte sie, »der Koffer ist da, und dies hier hat deine Mutter zwischen die Kleider gepackt. Was sagst du dazu? Ich glaube, deine Mutter hat gedacht, du würdest die Schale gern hier haben.«

Gladys erkannte mit Genugtuung die silberne Schale. Sie war froh, daß Ernst und Fides nun sehen konnten, an welch' herrliche Sachen sie gewöhnt war.

»Ach, das sieht aus wie eine Wunschbowle,« rief Fides bewundernd.

»Das ist eine echt silberne Bowle, die meine Großmutter mir zum Geburtstag geschickt hat,« bemerkte Gladys kühl und nahm sie Ellen aus der Hand.

»Laß mich sehen, was darauf steht,« sagte Fides und las die Inschrift laut vor. »Sie sieht wirklich gerade so aus wie die Wunschbowle in unserer Geschichte.«

»Was war damit?« fragte Gladys.

»Ja, es war eine glänzende, schöne, silberne Bowle mit einem Deckel, und wer sie besaß, brauchte, wenn er sich etwas wünschte, nur zu sagen:

Schönes Silberschüsselein,
Lege, was ich wünsch', hinein!

und wenn man dann den Deckel abhob, war das, was man sich gewünscht hatte, in der Bowle.«

Gladys zuckte die Achseln. Sie faßte Ellen bei der Hand, zog sie ins Haus und ließ die Tür hinter sich zufallen.

Fides und Ernst machten keinen Versuch, ihr zu folgen. Sie setzten sich auf die Stufen und sahen sich an.

»Sie mault, was?« fragte Ernst leise.

»Meine Güte,« erwiderte Fides niedergeschlagen, »an allem ist nur der Babyprinz schuld.«

»Was willst du damit sagen?«

»Sie will ihn doch haben – für ihr Aquarium!«

Ernst dachte einen Augenblick über die Worte und die Handlungsweise seiner Cousine nach. Dann rief er entrüstet aus: »Aber sie soll ihn nicht haben.«

»Ich habe so lange nach einem gesucht!« klagte Fides, »und sein Schild ist so hübsch rot; aber Ernst, hast du nicht bemerkt, was auf der Bowle stand?«

»Jawohl; aber Gladys ist ein großes Baby, und sie wird nicht alles bekommen. Sag' ihr doch, du wolltest den Prinzen gegen ihre blökende Puppe austauschen, wenn du sie gern hast. Ich will dir 'was sagen, Fides, ich habe Gladys nach dieser Bootgeschichte beinahe schon satt. Wenn sie noch länger hier bleibt, werde ich lieber mit meinen Kameraden spielen.«

Inzwischen hatte Gladys die schöne Vera mit hinaufgenommen und Ellen in ihr Zimmer gezogen. Die Bonne wurde betrübt, als sie Gladys erregtes Gesicht sah, denn es war wohl leicht, das Kind zu erzürnen, aber sehr schwer, es zu besänftigen.

»Hier bleibe ich nicht länger,« kündigte das kleine Mädchen mit fliegendem Atem an, sobald die Tür geschlossen war. »Fides und Ernst sind die selbstsüchtigsten, unhöflichsten Kinder, die ich je gesehen habe.«

Ellen seufzte und zog das Kind auf den Schoß.

»Wir gingen Schildkröten jagen,« fuhr Gladys erregt fort, »und fanden eine Menge krabbelnder Tiere, die ich nicht leiden kann, doch Ernst und Fides lieben sie. Als wir nun ein hübsches junges Tier gefunden hatten, vor dem ich mich gar nicht fürchtete, behielt Fides es für sich. Denk' nur mal! trotzdem sie alle die anderen haben, und ich noch dazu hier zum Besuch bin. Ich will es doch so gern in mein Aquarium setzen. Die jungen Tiere sind so schwer zu finden, und wir werden sicher niemals ein zweites fangen. Müßte sie sich nicht schämen? Später, als wir ruderten, und ich mich ein bißchen bewegte, um das Boot zum Schaukeln zu bringen, setzte Ernst uns gleich ans Land, trotzdem ich es gar nicht wollte. Ich sagte ihm sogar, daß ich es nicht wollte, weil ich noch gern die andere hübsche Seite des Teiches sehen möchte, aber er tat es doch. Ist dir jemals solche Unhöflichkeit vorgekommen?«

Ellen kannte die Kleine zu genau, um nicht zu wissen, daß diese berichteten Ereignisse noch eine andere Seite hatten; aber sie zog Gladys näher an sich, legte den kleinen Lockenkopf an ihre Schulter, und als sie ein paar heiße Tränen aus den braunen Augen rinnen sah, wiegte sie das Kind sanft hin und her. Diese Zärtlichkeiten der treuen Bonne waren Balsam für Gladys Wunden.

»Ich bin doch froh, daß Ernst dich ans Land gesetzt hat,« sagte Ellen, als sie schweigend das Kind ein paar Minuten in ihren Armen gewiegt hatte. »Wenn dir etwas passiert wäre, dann würde es auch um die arme Ellen geschehen sein, weißt du. Ich hätte mich nicht wieder in die Stadt gewagt.«

Gladys schluchzte.

»Diese Kinder haben im Vergleich zu dir sehr wenig,« fuhr Ellen ruhig fort. »Vielleicht freute sich Fides mehr über die kleine Schildkröte als du dich über die sprechende Puppe. Sie hat keine reiche Mutter, die ihr solche Geschenke macht.«

»Sie haben so vieles. Sie haben viel mehr Vergnügen im Winter als ich,« antwortete Gladys heftig.

Ellen streichelte sie. »Du hast zu viel, Gladys,« entgegnete sie gütig. »Als ich heute morgen sagte, du seiest unglücklich, konntest du es nicht begreifen; aber vielleicht wirst du nach diesem Besuche hier etwas anders denken. Man kann zuviel haben, mein Liebling, und der Spruch auf deiner Silberschale ist so wahr, wie er nur sein kann. – Hörst du, es läutet zum Abendessen. – Komm', laß mich rasch dein Gesicht waschen.«

Gladys war noch tief beleidigt, aber nebenher hatte sie auch Hunger, und sie dachte, ob es wohl wieder Apfelschmalz und weichen Käse gäbe!

Es gab beides, und die Kleine aß mit gutem Appetit auch noch eine reichliche Portion von Tante Marthas gutem Brot und der schönen Butter; aber nach der Mahlzeit schlug sie es ab, mit den beiden Kindern des Hauses auf dem Rasen zu spielen.

»Gladys ist nicht daran gewöhnt, so viel umherzulaufen,« sagte Ellen freundlich. »Sie ist gewiß recht müde und wird gern früh zu Bett gehen wollen.«

Als Ellen Tante Martha geholfen hatte, das Geschirr zu waschen, ging sie mit Gladys hinauf, um sie auszuziehen. Sie war halb damit fertig, als leise geklopft wurde und Fides ins Zimmer trat. Die silberne Schüssel stand auf einem Tische, dicht neben der Tür; das kleine Mädchen stand bewundernd davor still und besah die Rosenranke, die den Rand zierte.

»So eine schöne Schüssel habe ich noch nie gesehen,« bemerkte sie und kam näher. »Ich dachte, ich könnte vielleicht zusehen, wie du Vera ausziehst.«

»Sie ist schon ausgezogen,« antwortete Gladys kurz.

»O ja!« Fides trat an das Bett, auf dem die Puppe im Nachthemd lag. »Darf ich sie noch einmal sprechen hören?«

»Nein, du könntest ihr weh tun.« – Ellen sah Gladys vorwurfsvoll an; aber diese beachtete es nicht! Wie konnte Fides nur so selbstsüchtig sein und dann noch erwarten, daß man ihr alles zu Gefallen tun sollte.

Fides trat vom Bette zurück. »Ich möchte, du sprächest noch einmal einen Wunsch aus an deine Bowle, ehe ich fortgehe.«

»Wie albern,« antwortete Gladys. »Meinst du, ich glaubte an so etwas? Du kannst dir selbst etwas wünschen, wenn du willst.«

»Nein, das würde nichts nützen,« entgegnete Fides eifrig; »denn sie erfüllt nur die Wünsche desjenigen, dem sie gehört.«

»Vielleicht würde es dir gar nicht passen, wenn du mich etwas wünschen ließest, und ich es wirklich bekäme,« sagte Gladys und dachte dabei an das reizende, rosig glänzende Schild und den entzückenden kleinen Schwanz des Babyprinzen.

»O doch, ich würde mich freuen, sehr freuen, Gladys, tu's nur und laß uns sehen, was geschieht.«

Gladys verzog die Lippen spöttisch, aber nur von dem einen Wunsche beseelt, nahm sie mit einer nachlässigen Bewegung den silbernen Deckel ab.

Sie öffnete den Mund weit vor Erstaunen und machte große Augen; sie hatte sich den Prinzen gewünscht, – und da in der Schale kroch er umher und hob den kleinen Kopf in Verwunderung über seine Umgebung.

»Aber Fides!« war alles, was sie sagen konnte. »Wo kommt er her?«

»Aus dem Bache natürlich,« entgegnete Fides und schlug die Hände zusammen vor Vergnügen über das Erstaunen der kleinen Cousine. »Nimm ihn heraus und laß uns sehen, ob sein Bauchschild rot oder elfenbeinfarbig ist.«

»Wird er auch strampeln?« fragte Gladys besorgt.

»Nei–ein,« lachte Fides.

Da nahm das kleine Stadtkind die Schildkröte auf und richtig, sie war ebenso schön rot wie das Tierchen, das sie am Nachmittag gefunden hatten.

»Ist sie nicht goldig!« rief sie mit etwas scheuem Blick auf Fides. »Wo soll ich sie für die Nacht aufbewahren?«

»Wir wollen etwas Wasser in dein Waschbecken gießen, aber nicht zu viel, denn sie sind so geschickt im Hinausklettern.«

Ellen betrachtete gleichfalls den königlichen Prinzen. »Ein niedliches kleines Tier,« sagte sie, »aber, Fides, bring' es um Himmelswillen so sicher unter, daß es mir nicht über die nackten Füße laufen kann.«

Später, als sie allein waren und Ellen Gladys den Gutenachtkuß gab, sah sie ihr ernst in die Augen und fragte: »Nun bist du wohl glücklicher?«

»Natürlich. Wird er nicht drollig aussehen in meinem Aquarium?« fragte Gladys triumphierend.

»Ja.« Vera lag auf dem Bett und Ellen küßte ihr gleichfalls die Stirn, Gladys zu Gefallen. »Lieber Gott, sei gnädig dem armen Kinde, das alles bekommt, was es sich wünscht,« sagte sie sanft.

Ein paar Minuten, nachdem das Licht ausgelöscht und Ellen fortgegangen war, zog Gladys Vera näher zu sich heran.

»War das nicht albern, was Ellen da eben sagte?« fragte sie.

»Das finde ich nicht,« erwiderte Vera.

Gladys schrak zurück. »Hast du mir geantwortet?« fragte sie.

»Ja, gewiß.«

»Dann kannst du wirklich sprechen!« rief Gladys erfreut.

»Während der Nacht, ja,« sagte Vera.

»Ach, wie freue ich mich, wie freue ich mich!« Gladys umarmte sie stürmisch.

»Ich glaube kaum, daß du dich freuen wirst,« sagte Vera kühl.

»Weshalb nicht?«

»Weil ich die Wahrheit reden muß. Du weißt, mein Name ist Vera.«

»Nun, das will ich hoffen. Glaubtest du, ich möchte, du sprächest nicht die Wahrheit?« Gladys lachte.

»Ja. Du hörst sie nicht allzuoft und vielleicht nicht gern.«

»Wieso, wie kommst du darauf, so etwas zu sagen?«

»Ellen versucht es oft genug, aber du hörst nicht auf sie.«

Gladys lag still und ihre Spielgefährtin sprach weiter: »Sie kennt alle Spielsachen, Bücher, Kleider und Schätze, die du zu Hause hast und sieht, wie du sie alle vergißt über das Einzige, das Fides besitzt, und das dir deshalb gut genug zu sein scheint, es dir zu wünschen.«

Gladys hatte ihre Sprache wiedergefunden. »Du bist aber so unhöflich, wie man nur sein kann, Vera!« rief sie.

»Natürlich. Du hältst alle Leute für unhöflich, die dir die Wahrheit sagen; aber ich habe dir ja erklärt, daß ich nicht anders kann. Wer war denn unhöflich, als du das Boot ins Schaukeln brachtest, obgleich Ernst dich bat, es nicht zu tun?«

»Ach, es war albern von ihm, von Gefahr zu sprechen. Meinst du, ich verstände nichts davon? Ich hätte sicherlich nicht zu stark geschaukelt. Und dann bedenke doch, wie unartig es von ihm war, gerade heraus zu sagen, daß er Fides retten würde und nicht mich, wenn wir beide ins Wasser gefallen wären. Ich kann dir sagen, mein Vater würde ihn ins Gefängnis stecken lassen, wenn er mich nicht gerettet hätte.«

»Oho, aber anderen Leuten bist du nicht ein solches Kleinod,« rief Vera. »Weshalb sollten sie jemand gern um sich haben, der nur immer an sich denkt und an das, was er haben möchte. Ich bin überzeugt, Fides und Ernst werden aufatmen, wenn du auf den Wagen steigst, um abzufahren.«

»Ach, das glaube ich gar nicht,« antwortete Gladys, dem Weinen nahe.

»Was hast du denn getan, daß sie sich auf dein Kommen freuen konnten? Du hast ihnen nichts mitgebracht, obgleich du wußtest, daß sie nicht viel Spielsachen haben, aber du warst so selbstsüchtig mit deiner Puppe beschäftigt und wolltest mit ihr Fides gegenüber nur prahlen, und in dem Augenblick, in dem Fides das fand, was sie sich schon so lange gewünscht hatte –«

»Sag' das nicht noch einmal,« unterbrach sie Gladys. »Du hast es mir bereits gesagt.«

»Du hast dich so schlecht betragen, daß sie es dir geben mußte

»Du hast kein Recht, das zu behaupten. Der Prinz kam aus dem Bache; Fides hat es gesagt.«

»Sie scherzte nur und wußte, daß du es richtig verstehen würdest. Es ist gar nicht angenehm, dir so etwas sagen zu müssen, Gladys, aber ich bin Vera, und ich muß es tun –; mir scheint, du mußt dich schämen, Fides und Ernst morgen früh ins Gesicht zu sehen. Was soll Ernst von dir denken!«

Gladys Backen glühten. »Hast du nicht gesehen, wie froh Fides war, als sie mir – ich meine, als ich den Prinzen in der Bowle fand? Mir scheint, du hast nicht gelesen, was auf dem silbernen Deckel steht, sonst würdest du nicht so sprechen.«

»O ja, das habe ich doch. Das ist auch Wahrheit, aber du hast sie noch nicht erkannt.«

»Ich möchte wohl, ich hätte ihnen Geschenke mitgebracht,« sagte Gladys nach einer Weile. »Aber« – plötzlich fiel ihr etwas ein –, »da ist ja die Wunschschüssel. Ich will mir gleich ein Geschenk für sie wünschen!«

Sie sprang aus dem Bette, suchte nach einem Streichholz und zündete die Kerze an. Vera folgte ihr, und als Gladys sich an die eine Seite des kleinen Tisches setzte, auf dem die silberne Schale stand, kletterte Vera auf einen Stuhl an der andern Seite. Gladys sah sie nachdenklich an und überlegte. Sie wollte Fides etwas viel Schöneres als den Babyprinzen schenken, damit jeder sie wegen ihrer Freigebigkeit loben und nicht mehr daran denken sollte, daß sie je selbstsüchtig gewesen war. Ach, sie wußte schon, was sie erbitten wollte.

»Zuerst für Fides,« sagte sie zu Vera, dann blickte sie auf die leuchtende Schale und dachte an das Gewünschte; darauf nahm sie geschwind den Deckel ab.

Ach! Ach! Ach! was sah sie da! Ein süßer, kleiner Vogel, dessen rotes Gefieder beim Kerzenlicht ins goldig Schillernde hinüberspielte, stand auf einem zierlichen, goldenen Ständer auf dem Grunde der Schale.

Gladys hob ihn heraus, und als er in ihrer Hand stand, fing er an, wundervoll zu zwitschern, dabei drehte er das Köpfchen von der einen Seite zur andern, gerade wie der Vogel, den sie in der Schweiz gesehen, als sie mit ihrer Mutter dort war.

»O, Vera, ist er nicht süß?« rief sie entzückt.

»Wunderhübsch!« sagte Vera lächelnd und klatschte in die Händchen.

Als der Gesang aufhörte, sah Gladys sinnend vor sich hin.

»Eigentlich ist das gar kein passendes Geschenk für Fides,« sagte sie, »und ich habe mir schon immer einen solchen Vogel gewünscht, aber wir konnten in den Läden keinen finden.«

Vera sah sie durchdringend an.

»Laß das Anstarren, Vera. Mir gehört er doch, und es ist mein Recht, ihn zu behalten, wenn ich mir etwas Besseres ausdenken kann, was Fides lieber leiden möchte. Laß mich sehen, – doch erst muß ich ein Geschenk für Ernst wünschen. Ich will ihm etwas so Wunderhübsches geben, daß er sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als im Boote so unhöflich zu mir zu sprechen.«

Gladys setzte den Singvogel in ihren Schoß, richtete den Blick fest auf die Bowle und entschied sich für einen zweiten Wunsch.

Als sie den Deckel abhob, lag eine goldene Uhr in der Schale. »Das ist es, das ist es, was ich mir gewünscht habe!« rief sie fröhlich und nahm die kleine Uhr heraus, die ein wahres Wunderwerk war. Auf der Rückseite waren Figuren eingraviert – Knaben und Mädchen, die auf einem Teiche Schlittschuh liefen. Gladys bemerkte eine kleine Feder; als sie diese berührte, gab ein zarttönendes Glöckchen die Stunde an, darauf die Viertelstunden und Minuten.

»Eine Repetieruhr, wie Onkel Frank sie hat!« rief sie entzückt, »und so klein dabei! Mutter sagte, ich dürfte erst eine bekommen, wenn ich erwachsen wäre. Wie sie überrascht sein wird. Ich will sie lange raten lassen, woher ich diese Uhr habe!«

»Ich dachte, sie wäre für Ernst!« bemerkte Vera ruhig.

»Aber, Vera,« antwortete die Kleine ernsthaft, »ich sollte meinen, das könntest du doch einsehen, daß dies keine Uhr für einen Jungen ist. Wenn sie anders wäre, dann würde ich sie ihm natürlich geben.«

»O ja, wenn sie nicht hübsch wäre und nichts an sich hätte, was dir gefiele, dann würdest du sie ihm geben, das glaube ich wohl; und wenn der Vogel nicht singen könnte und dunkle, zerzauste Federn hätte, so daß niemand ihn leiden möchte, dann würdest du ihn Fides schenken, gewiß!«

Gladys Backen glühten. Sie wußte, das war die Wahrheit, aber ach, der entzückende Vogel, wie könnte sie es ertragen, daß er einer Andern gehörte? Wie könnte sie es wohl mit ansehen, daß Ernst die Uhr aus seiner Westentasche nehmen und ihre wunderbaren Eigenschaften zeigen würde!

»Selbstsucht ist grausam,« sagte Vera. »Sie läßt die Leute in dem Glauben, sie könnten sich als Sklaven der Selbstsucht des Lebens freuen, aber dann finden sie plötzlich, daß sie Fesseln tragen, unzerreißbare Fesseln. Du denkst auch, du könntest das alte Gesetz der Selbstsucht nicht brechen, und empfindest es als ein Mißgeschick, wenn ein anderes Kind etwas besitzt, was du nicht hast. Arme, unglückselige Gladys!«

»Aber dieser Vogel, Vera!« – Gladys sah auf den kleinen Singvogel nieder, aber was erblickte sie? Ein zusammengeschrumpftes, trostloses, braunes Geschöpf mit geknickten Federn. Ängstlich hob sie es hoch. Kein Gesang ertönte. Die armen, kleinen Perlaugen waren leblos.

Sie ließ ihn entrüstet fallen und nahm die Uhr auf. Was war mit der geschehen? Der Deckel war von Messing, die Zeichnung war fort. Kein Druck auf die Feder wirkte.

»Ach, jetzt können Fides und Ernst sie haben!« rief Gladys.

Plötzlich, wie durch einen Zauberschlag, hatten Vogel und Uhr ihre frühere Schönheit zurückgewonnen und zwitscherten und tickten vor des erstaunten Kindes Augen und Ohren, daß sie die beiden Wundergaben vor Entzücken am liebsten an sich gedrückt hätte. Doch Tränen rollten ihr aus den Augen, denn ihr kam ein neuer Gedanke.

»Was soll dies alles bedeuten, Vera? Werden sie nur für Fides und Ernst schön sein?«

»Du hast dir für sie etwas gewünscht, um den Segen des Gebens zu genießen, weißt du, nicht um sie für dich zu behalten. Dadurch, daß sie unschön und wertlos wurden, zeigten sie dir eine große Wahrheit.«

»Wieso?« fragte Gladys schluchzend.

»So würden sie für dich sein, nachdem du in ein paar Monaten ihrer überdrüssig geworden wärest; denn das ist die Strafe, die ein selbstsüchtiges, verwöhntes Kind trifft, daß ihm seine Sachen nach einer Weile mißfallen. Es gibt nur eins, was lebendig und leuchtend bleibt und uns Segen bringt, – das ist fürsorgende Liebe, die wir für andere hegen. Anderes gibt es nicht, Gladys, nichts anderes auf der Welt. Ich bin Vera.«

»Und die habe ich nicht, gar nicht!« rief das unglückliche Kind, sprang auf und warf sich laut schluchzend auf das Bett. Ellen hörte es und kam aus dem anstoßenden Zimmer herein.

»Was hast du denn, Liebling, was ist dir?« fragte sie und trat besorgt näher.

»Ach, Ellen, das kann ich dir nicht sagen. Niemals werde ich es dir sagen,« stöhnte das Kind.

»Leg' dich auf die andere Seite, Liebling. Ich will Vera etwas fortrücken, dann haben wir alle drei Platz. So, Kleinchen, komm' in Ellens Arme und vergiß, was dich drückt.«

Gladys schmiegte sich dicht an Ellen, und nach ein paar langen Seufzern schlief sie fest ein.

Als sie erwachte, schien die Sonne hell in das einfache Zimmer und vergoldete alles, gerade wie am Tage vorher in ihrem rosa und weißen Nestchen zu Hause. Ellen war schon völlig angekleidet und hantierte im Zimmer umher. Gladys drehte sich um und sah Vera an, die unschuldig und niedlich mit geschlossenen Augen und leicht geöffneten Lippen dalag. Die Kleine rückte ganz dicht an die Puppe heran. Der wunderbare Traum kehrte lebhaft in ihr Gedächtnis zurück. »Dein Name ist Vera. Du konntest nicht anders,« flüsterte sie und schloß die Augen.

»Wie geht es dem Babyprinzen?« fragte sie bald darauf und sprang aus dem Bett.

»Er ist ganz munter, aber wahrscheinlich ebenso hungrig wie du. Was soll er haben?«

»Fleisch,« meinte Gladys mit einem bewundernden Blick auf das hübsche kleine Tier.

»Ich hab' dir mein Waschbecken mit hereingebracht; denn Prinzen darf man wohl nicht stören, was meinst du?« sagte Ellen.

Während sie Gladys ankleidete, sah die Kleine auf die silberne Schale und dann auf die beiden Stühle, auf denen Vera und sie in ihrem Traum gesessen hatten. Sie suchte verstohlen nach Uhr und Vogel, fand aber keine Spur von ihnen. Geschäftig arbeiteten ihre Gedanken!

Die verständige Ellen erwähnte nichts von schlechten Träumen.

Als Gladys hinunterging, zeigte ihre Miene Interesse und Zufriedenheit. Es gab doch immer noch einen gütigen Gott, der helfen konnte, und sie hatte vor dem Aufstehen, das Näschen in Veras Locken vergraben, sehr innig gebetet.

Sie trug den Babyprinzen mit dem atlasglatten Schild in der Hand. Er hatte sich zurückgezogen, denn er war sehr im Ungewissen über das Nächstkommende. Gladys dagegen wußte es wohl.

Sie sagte ihren Verwandten so freundlich Guten Morgen, daß Fides sich freute; aber so hübsch Gladys auch aussah mit dem Lächeln auf den Lippen, sah Ernst doch nur den Prinzen in ihrer Hand und war ärgerlicher über sie als zuvor.

»Ich möchte dir danken, Fides,« sagte sie, »daß du das Baby die Nacht über bei mir im Zimmer gelassen hast. Es hat mir so viel Spaß gemacht, ihm zuzusehen, während ich angezogen wurde.« Damit legte sie die kleine Schildkröte in die Hand ihrer Cousine.

»Aber ich habe ihn dir doch geschenkt,« entgegnete Fides ernst.

»Wie könnte ich nur so habgierig sein, ihn dir wegzunehmen, nachdem du zwei ganze Sommer nach ihm gesucht hast! Ich freue mich sehr, Fides, daß endlich dein Wunsch erfüllt worden ist.«

Das war ein sehr schöner Augenblick für Gladys, denn sie hatte das Gefühl, daß sie glücklich war. »Wir wollen ihm ein bißchen Fleisch geben.«

»Sie ist doch ganz manierlich,« dachte Ernst, in plötzlichem Umschwung seiner Meinung, und wurde ebenso verlegen wie überrascht, als die kleine Cousine sich dann zu ihm wandte:

»Wenn du mich wieder mit ins Boot nimmst, will ich auch nicht schaukeln. Es tut mir leid, daß ich es gestern getan habe.«

»Es ist ein dummer Spaß,« platzte Ernst heraus, »aber laß nur gut sein, ich will dich rudern, wohin du willst.«

Ellen hatte die Unterhaltung gehört. Als sie dann am Vormittage einen Augenblick mit Gladys allein war, sagte letztere:

»Meinst du nicht auch, daß es nett wäre, Ellen, wenn wir später eine Kiste voll hübscher Spielsachen an Fides und Ernst schickten?«

»Gewiß finde ich das nett,« antwortete Ellen erstaunt.

»Ich will Mama bitten, daß ich ihnen meine Spieldose schicken darf, – sie haben kein Klavier.«

»Aber du kannst keine gleiche wiederbekommen, Gladys.«

»Das ist mir einerlei,« sagte die Kleine entschlossen. »Für lange Abende und Regentage würde es ihnen Freude machen.« Sie seufzte, denn sie war ihrer Spieldose noch nicht überdrüssig geworden.

Ellen legte die Hand auf Stirn und Wange der Kleinen und erinnerte sich des Schluchzens in der Nacht. »Ist dir ganz wohl, Gladys?« fragte sie besorgt. Diese ungewöhnliche Art zu reden beunruhigte sie.

»Ich habe mich nie wohler gefühlt!« sagte die Kleine.

»Sag' den Kindern lieber noch nichts von der Spieldose, mein Kleinchen.«

Gladys lächelte. »Ich weiß wohl, du meinst, es wird mir leid tun, wenn ich sie weggegeben habe. Aber dann werde ich mit Vera sprechen.«

Ellen lachte. »Glaubst du, es wird dir immer genügen, sie ›Ma–ma, Pa–pa‹ sagen zu hören?«

Gladys nickte und sah ihre gute Freundin zärtlich an, aber ihre Lippen blieben fest geschlossen. Ellen wußte auch alles, was Vera wußte, und trotzdem liebte sie Gladys.

Das Kind mußte noch manchen schweren Kampf mit der harten Herrin Selbstsucht bestehen, deren Fesseln sie durch ihr bisheriges Leben getragen hatte; doch die Wahrheit hatte gesprochen und Gladys der Stimme Gehör geschenkt. Mit Hilfe der göttlichen Liebe gelang es ihr schließlich, ihre häßlichen Eigenschaften abzulegen.


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